Don’t hate the game, hate the player. Über den Hype um »Pokémon Go«

Ich bin dann mal draußen

Über den Hype um das Augmented-Reality-Spiel »Pokémon Go« wird die Kritik vergessen.

Was ist denn jetzt wieder los? Ist dieses Bedürfnis, ums Kaminfeuer zu sitzen, etwa doch nicht mit »Wetten, dass..?« verschwunden? Und war nicht gerade erst eine gemeinschaftsstiftende, übertrieben langweilige und daher kaum zu ertragende EM? Es reicht doch langsam mal damit, dass die Streams, Timelines und Chroniken täglich mit nur noch einem Thema bespielt werden. Und dann kam »Pokémon Go« – und beherrschte alles. Es ist nicht das Spiel. Es ist der Hype, der alles zu verschlingen droht.
Doch von vorne: Es gibt eine neue App. Frisch, dank »Augmented Reality«. Hübsch und süß, dank bunter Wesen und schlichter Manga-Avatare. Es gibt die Teams »Weisheit«, »Intuition«, »Wagemut«. Genau die richtige Mischung für Journalisten und andere wackere Bürger, die keine Ahnung von Innovation haben. Und das alles zusammen ergibt wiederum die richtige Mischung, um auch wirklich jede Ecke des Internets, von Blogs über Witzseiten bis zu Nachrichtenmedien, zu bespielen. Der Zuständige für den Service-Ratgeber in irgend­einem biederen öffentlich-rechtlichen Landesstudio erklärt halb begeistert, halb verständnislos, was die App eigentlich ist, während er so hilflos auf einem Smartphone rumwischt, dass man denkt, hier tippe einer auf der Schreibmaschine mit einem Finger. Peinlich und putzig zugleich – also genauso wie »Pokémon Go«. Um beim großen Augmented-Reality-Ding mitreden zu können, braucht man nur die App runterzuladen und loszumarschieren. »Pokémon Go« greift auf den GPS-Sensor des Smartphones zu und zeigt auf der Umgebungskarte an, wo sich die ulkigen ­Taschenmonster versteckt haben.
Sofort kommen auch schon die Experten vom Team Datenschutz: ­Dieses Spiel greife auf das gesamte Google-Konto zu, eine neue Datenkrake sei entstanden. Dass das Spiel im App-Store nichts kostet, lassen sie natürlich unerwähnt. Denn sie haben noch nicht begriffen, dass es ein »kostenlos« nicht gibt. Natürlich muss alles bezahlt werden – und sei es mit Daten.
Als Nächstes warnt die Polizei­gewerkschaft, angestachelt von ahnungslosen Reportern, die wohl ­irgendwo im Internet auf eine Polizeimeldung aus den USA gestoßen sind. Gibt ja gerade allen Grund dazu, US-Polizisten einfach mal alles un­geprüft nachzuplappern. Die Nachricht: Verbrecher suchen einen Poké-Stop, legen Köder aus, greifen sich den Gamer, der mit dem Smartphone die Gegend abläuft und nicht nachschaut, was in der Realität vor sich geht. Gleich daneben stehen Verkehrsexperten und mahnen eindringlich, beim Fahren eines Autos ab und zu auch mal aus dem Fenster zu schauen, statt auf den Bildschirm eines in China zusammengelöteten Dings. Super Erkenntnis! Dafür braucht man »Pokémon Go« wirklich dringend. Vor allem wenn man bedenkt, wie es vorher war: genau so und nicht anders als jetzt.
Dann kommen natürlich die Gesellschaftskritiker: Die Menschen würden noch nur auf ihre Smartphones starren, die Realität ausblenden und ohnehin gehe jetzt alles den Bach runter. Als Leser, Zuhörer, Fernsehzuschauer fragt man sich: Arbeiten Journalisten jetzt auch schon wie uninspirierte Lehrer und greifen jedes Mal in ihren Ordner aus dem Jahr 1995? Die Wahrheit ist, dass es einfach kein Langzeitgedächtnis mehr gibt – und so werden stets die gleichen Argumente und Erfahrungen wiederholt, die schon unzählige Male erzählt wurden. Dabei ist das eigentliche Thema ja egal. Ist es denn überhaupt denkbar, dass die Menschen noch länger und öfter auf ihre Smartphones starren? Die App ist doch nicht das Medium. Auch wenn gerade alle so tun, als ob das Medium durch »Pokémon Go« neu erfunden wurde.
Wurde es aber gar nicht: Das Spiel basiert auf der App »Ingress«. Gleicher Entwickler, gleiche Geodaten. Deswegen ist es nicht so, dass man im Holocaust-Museum in Washington plötzlich Pokémon suchen kann, die die Eigenschaft besitzen, giftiges Gas auf den Gegner zu feuern. Sondern dieser Ort war bereits ein »Spielfeld«. Und bei »Ingress« konnte man dort ja auch Waffen sammeln.
Natürlich ist das pietätlos. Als erstes wurde im Holocaust-Mahnmal das Pokémon-Jagen verboten beziehungsweise um Löschung der Geodaten gebeten, damit es in dem Mahnmal nicht zu lustig zugeht. Von den unzähligen lustigen Selfies, den Interviews von Tilo Jung auf den Stelen und dem Rumgehüpfe junger Schulklassen – ja sogar das ganz klassische Fangenspielen soll dort schon gesehen worden sein – hörte man bisher aber nichts. Auch in Auschwitz soll es keine Pokémon geben. Die Selfies auf Twitter und Instragram mit dem Hashtag Yolo bleiben natürlich weiterhin völlig okay. Don’t hate the game, hate the player.
Was bleibt, ist viel zu wenig. Ist der Hype erst einmal vorüber, ist das tumbe Lachen und Rumgewische irgendwelcher Morgenmagazinfernsehjournalisten verschwunden, weil es ja doch noch so was wie richtige Nachrichten gibt, bleibt nur noch ein fader Beigeschmack am Pokémon-Eskapismus – als habe man zu viel Capri-Sonne auf einmal getrunken. Dass »Pokémon Go« nicht nur ein weiterer Schritt in einen digitalisierten Alltag ist, sondern auch den Verlust von Realität bedeutet, wird nicht hinreichend beachtet, weil man sich nur noch auf Reize konzentriert und die große Story völlig außer acht lässt. Statt um Aufklärung wird es in Zukunft mehr um Reizerzeugung gehen. Das klappt in der Politik bereits bestens.