Bewaffnete einsätze der Bundeswehr im Inland sollen auch ohne Änderung des Grundgesetzes möglich werden

Die Hilfspolizei soll kommen

Die Union versucht immer offensiver, den militärischen Bundeswehreinsatz im Inneren auch ohne Änderung des Grundgesetzes zu ermöglichen.

Auf ihrer Sommerreise durch die Bundeswehrstandorte der Republik machte Ursula von der Leyen in der vergangenen Woche Station in der Julius-Leber-Kaserne im Berliner Stadtteil Wedding. Der Besuch beim Kommando Territoriale Aufgaben war schon länger geplant, kam aber für die Verteidigungsministerin wie frisch bestellt. Hier sei man »genau an der richtigen Stelle, wenn es um die Frage ›Bundeswehreinsatz im Inneren‹ geht«, konstatierte von der Leyen. Diese Frage möchte sie so schnell wie möglich in ihrem Sinne beantwortet haben. Nach ihren Vorstellungen soll die Bundeswehr künftig auch im Antiterrorkampf auf deutschem Staatsgebiet eingesetzt werden können – und zwar ohne Grundgesetzänderung.
Da kam die Stippvisite im Wedding gerade gelegen. Denn von der Operationszentrale des 2013 aufgestellten Kommandos Territoriale Aufgaben aus werden bislang jene Einsätze der Bundeswehr in Deutschlands gesteuert, die gemeinhin als politisch unproblematisch gelten, beispielsweise bei Hochwasser. Auch die Flüchtlingshilfe, um die zivile Behörden die Bundeswehr gebeten haben, wird hier koordiniert. Im Höchstfall waren bis zu 9 000 Soldaten bundesweit dafür im Einsatz. Derzeit sind noch rund 250 Soldaten und zivile Mitarbeiter abgestellt, um in Erstaufnahmeeinrichtungen auszuhelfen oder das Bundesamt für Migra­tion und Flüchtlinge beim Bearbeiten von Asylanträgen zu unterstützen.
Die verfassungsrechtliche Grundlage für solche Einsätze liefert der Paragraph 35 des Grundgesetzes. Darin heißt es, dass sich alle Behörden des Bundes und der Länder gegenseitig Rechts- und Amtshilfe leisten. Dass »bei einer Naturkatastrophe oder bei einem besonders schweren Unglücksfall« ein Land auch die Bundeswehr anfordern kann, ist ebenfalls an dieser Stelle festgeschrieben. Schließlich ist hier zu lesen, dass die Bundesregierung Einheiten der Streitkräfte zur Unterstützung der Polizei einsetzen kann, falls eine Naturkatastrophe oder ein Unglücksfall das Gebiet mehr als eines Landes gefährdet. Lange Zeit galt es als unstrittig, dass der Paragraph 35 keinen militärischen Einsatz der Bundeswehr im Inneren zulässt. So urteilte der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts noch im Jahr 2006, dass »auch im Fall des überregionalen Katastrophennotstands ein Einsatz der Streitkräfte mit typisch militärischen Waffen von Verfassung wegen nicht erlaubt ist«.
Gleichwohl schließt das Grundgesetz den militärischen Einsatz der Bundeswehr innerhalb der Landesgrenzen seit 1968 nicht mehr prinzipiell aus. Damals verabschiedete die Große Koalition unter CDU-Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger trotz heftiger gesellschaftlicher Proteste die sogenannten Notstandsgesetze. Dazu zählt Paragraph 87a Absatz 4 des Grundgesetzes, wonach die Bundesregierung »(z)ur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokratische Grundordnung des Bundes oder eines Landes« die Bundeswehr einsetzen kann, und zwar »zur Unterstützung der Polizei und des Bundesgrenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer«.
Es gibt in der Union schon lange Bestrebungen, den militärischen Einsatz der Bundeswehr im Inneren auch unterhalb der Schwelle des Staatsnotstands zu ermöglichen. So verfolgt der heutige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble mit Inbrunst dieses Ziel schon seit seinen Zeiten als Bundesinnenminister. Im Oktober 2008 gelang es ihm, dass die SPD-Vertreter im Koalitionsausschuss einer entsprechenden Grundgesetzänderung zustimmten. Danach sollte der Paragraph 35 ergänzt werden: »Reichen zur Abwehr eines besonders schweren Unglücksfalles polizeiliche Mittel nicht aus, so kann die Bundesregierung den Einsatz der Streitkräfte mit militärischen Mitteln anordnen.« Aber die Bundestagsfraktion der SPD und die FDP stellten sich quer. Damit schien das Thema vom Tisch.
Im Juli 2012 fasste das Plenum des Bundesverfassungsgerichts einen höchst fragwürdigen Beschluss, der den Befürwortern eines Bundeswehreinsatzes im Inneren unerwartet eine neue Chance eröffnet hat. Mit ­einer zweifelhaften Neuinterpretation des Grundgesetzes korrigierten die Richter des Ersten und des Zweiten Senats gemeinsam in einem wichtigen Punkt ihre bisherige Rechtsprechung. Denn sie entschieden, dass unter einem »besonders schweren Unglücksfall«, der den Einsatz der Streitkräfte rechtfertigen kann, eine ungewöhnliche Ausnahmesituation von katastrophischem Ausmaß zu verstehen sei, die auch »absichtlich herbeigeführt« werden könne. Dabei sei die Verwendung spezifisch militärischer Waffen »unter engen Voraussetzungen« und »als ultima ratio zulässig«. Die Beschränkung der Bundeswehr auf polizeirechtlich zulässige Einsatzmittel sei eine »angesichts heutiger Bedrohungslagen nicht mehr zweckgerechte Auslegung«.
In einem Sondervotum kritisierte der Karlsruher Verfassungsrichter Reinhard Gaier den mehrheitlich gefassten Plenumsbeschluss scharf. Im Ergebnis habe er »die Wirkungen einer Verfassungsänderung«. Die Trennung von Militär und Polizei sei eine Konsequenz aus der deutschen Geschichte und gehöre »zum genetischen Code dieses Landes«. Abgesehen von dem extremen Ausnahmefall des Staatsnotstands schließe daher das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Fassung grundsätzlich den Kampfeinsatz der Bundeswehr im Inland aus. Wer daran etwas ändern wolle, müsse die für eine Verfassungsänderung erforderlichen Mehrheiten für sich gewinnen. Es sei weder die Aufgabe, noch stehe es in der Befugnis des Bundesverfassungsgerichts, hier korrigierend einzugreifen. Das Plenum habe trotzdem »zugunsten eines geringen, praktisch kaum realisierbaren Gewinns an Sicherheit die Zulässigkeit des Einsatzes der Streitkräfte im Inneren mit Hilfe derart unbestimmter Rechtsbegriffe erweitert, dass militärische Einsätze zu innenpolitischen Zwecken nicht ausgeschlossen werden können«.
Die Union nutzt immer offensiver den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von vor vier Jahren, um den militärischen Bundeswehreinsatz im Inneren auch ohne Modifizierung des Grundgesetzes zu realisieren. In das Mitte Juli veröffentlichte Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr bugsierte sie – mit Zustimmung der SPD-geführten Ministerien – die Formulierung, das Vorliegen eines besonders schweren Unglücksfalls käme »auch bei terroristischen Großlagen in Betracht«. Durch das Bundesverfassungsgericht sei dabei bestätigt worden, »dass die Streitkräfte zur Unterstützung der Polizeikräfte bei der wirksamen Bekämpfung des Unglücksfalls unter engen Voraussetzungen auch hoheitliche Aufgaben unter Inanspruchnahme von Eingriffs- und Zwangsbefugnissen wahrnehmen können«.
Nur zehn Tage nach der Vorstellung des Weißbuchs ließ Ursula von der Leyen in München die Feldjäger in Bereitschaft versetzen.
Worum es geht, hat ihr Parteifreund Thomas de Maizière recht unverblümt unmittelbar nach den Ereignissen von Würzburg, München und Ansbach formuliert. »Für eine Änderung des Grundgesetzes sehe ich keine parlamentarische Mehrheit«, sagte der Bundesinnenminister, »wir müssen jetzt handeln auf der Basis dessen, was die Rechtslage zulässt.« Das sei, fügte de Maizière mit unüberhörbarer Süffisanz hinzu, »viel – und mehr als manche vielleicht in der Vergangenheit gedacht haben«. Das heißt: Der Interpretationsspielraum, den das Bundesverfassungsgericht eröffnet hat, soll offensiv genutzt werden, um auch ohne Verfassungsänderung den Einsatzmöglich­keiten der Bundeswehr im Inneren zu erweitern. Das nicht abwegige Kalkül ist, dass die Karlsruher Richter der Bundesregierung schon nicht in die Parade fahren werden.
Wenn die Polizei Unterstützung brauche, sagte von der Leyen bei ihrem Kasernenbesuch im Wedding, »dann muss sie wissen, dass sie sich auf die Bundeswehr verlassen kann«. Im Herbst soll es die ersten gemeinsamen Antiterror-Übungen von Bundes­wehr und Polizei geben. Von der Leyen: »Wichtig ist, dass man vorbereitet ist.«