Der Anden-Metal der bolivianischen Band Nación

Ambivalenz als Leitmotiv

Bands aus Bolivien sind in Deutschland kaum bekannt. Eine der erfolgreichsten Gruppen der dortigen Metalszene sind Nación, die nun das Konzeptalbum »Tío« veröffentlichen.

Eigentlich wäre eine Mine der angemessene Ort für ein Interview mit der bolivianischen Band Nación gewesen. Denn inspiriert ist der Albumtitel für das Werk, an dem sie immerhin zwei Jahre gearbeitet haben, von der mystischen Figur Tío, dem Schutzpatron der Mineros, der Minenarbeiter in dem Land, das zu den ärmsten Südame­rikas zählt. In der vergangenen Woche kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und Minenarbeitern, die von Präsident Evo Morales eine Stärkung ihrer Arbeitnehmerrechte fordern.
Doch der logistische Aufwand, die Band tatsächlich sozusagen im Feld zu sprechen, wäre zu groß gewesen. Deshalb muss der Proberaum der bolivianischen Band ausreichen: Ein kleines Wohnzimmer, in dem die Rauchschwaden der Zigaretten über den Köpfen der Musiker hängen. Hier, in diesem winzigen Raum im Süden der Hauptstadt La Paz, entstand das neue Werk der Band, ein Konzeptalbum, originell wie einzig­artig. Mit ihrem Genre »Andean Metal« sind sie zudem äußerst erfolgreich.
Auf dem Tisch steht die Trophäe des Eduardo-Abaroa-Kunst- und Musikwettbewerbs, der vom bolivianischen Kultusministerium finanziert wird. Die Single »Tío« aus dem gleichnamigen Album gewann Anfang diesen Jahres den Preis für den besten Beitrag aus dem Bereich »Rock-Metal«. Ein Zeichen, das die Band nun mittlerweile auch von offizieller Seite angenommen, ja, wenn man so will, fast im Mainstream ihres Heimatlandes angekommen ist. Eigentlich werden mit dem Preis Kunstrichtungen prämiert, die sich mit Folklore und Historie der Anden ­befassen. Wie passt das zusammen mit einer Metalband, die sich auf Vorbilder wie Mastodon und Megadeath beruft?
In Bolivien gibt es keine wirklich Musikindustrie. Die Metalszene hat sich deshalb vor allem im Untegrund entwickelt, es gibt viele Amateurmusiker und nur wenig professionelle Bands in diesem Genre. Für Metal gibt es keine speziellen Musiksender, erläutert Gitarrist Ivan, weswegen man Nación nur gelegentlich im Radio hört. Die Metal-Fans in Bolivien hören deshalb vor allem Musik aus den USA und Europa. In Bolivien dominieren Musikstile wie Kumbia, Folk und Native Musik. Von ihrem letzten Album hat die Band rund 8 000 CDs verkauft.
Nación ist es gelungen, Folklore und Geschichte ihres Landes zu einem Konzeptalbum zu verarbeiten. »Tío« ist eine Hommage an den gleichnamigen Schutzheiligen der Mine, eine mystische Figur, die seit Jahrhunderten verehrt wird. Die ­Arbeiter beten ihn vor ihrem Arbeitsantritt an, bitten um Schutz und opfern ihm Kokablätter, Zigaretten oder Alkohol. »Du kannst ihn dir wie einen Gott der Unterwelt vorstellen«, erklärt Gitarrist Ivan. Javier Claure, ein Schriftsteller, der aus der Minenstadt Oruro stammt, schrieb einmal, dass »Tío« quasi ein weiteres Mitglied der Minenfamilie darstelle. »Diejenigen, die ihn umgeben, bringen ihm Essen und Trinken, sie singen für und mit ihm, sie sprechen mit ihm über ihren Frust und ihre Freude und teilen mit ihm die Geschichten ihres alltäglichen Lebens. Außerdem wünschen sie von ihm ein besseres Leben«, so Claure. Diese Verbindung zwischen Unterwelt, Schutz, Glauben und einem besserem Leben scheint perfekt zu sein, um eine musikalische Geschichte zu erzählen: über die Mine und über die Anden, findet der Ivan.
Die Geschichte von Nación besteht ebenfalls aus Höhen und Tiefen, was vor allem mit der wechselnden Besetzung zu tun hat. Vorläufer war die Band Death Remains, in der Ivan und sein jüngerer Brüder Omar Gitarre spielten. Ivan hatte vor 2003 noch in anderen Bands gespielt. Danach führten lose Jam-Sessions mit einigen Musikern schließlich zur Band Nación. Die beiden Brüder und ein befreundeter Schlagzeuger namens Grover überzeugten Ivan Omar Fernandéz, den Sänger von Ivans Ex-Band Modedor, in der neuen Band zu ­singen.
Die erste EP »No más Milicia« veröffentlichten sie bereits 2004 unter dem heutigen Namen Nación. Nation, dieser Begriff ist gewissermaßen als Zeichen der Homogenität der Mitglieder zu verstehen. In dieser Frühphase der Bandgeschichte verwandelte sich ihr Proberaum wirklich in eine Art Bergwerk, in dem sie bis zu acht Stunden täglich probten – und das ohne Tageslicht, schummrig beleuchtet nur von einer 70-Watt-Glühbirne, begleitet vom surrenden Sound ihrer Ampeg- und Marshall-Verstärker. Sänger Fernandéz besaß bereits ein professionelles Studioequipment, was für die damalige Zeit in Bolivien fast schon einzigartig war.
Die Berühmtheit in Bolivien stieg nach dem Release dieser ersten EP. Freitagnachts spielte die Gruppe in kleinen Bars in La Paz. Gleichzeitig war es die Phase, in der einige Musiker die Band verließen. Die Folge: Die Aufnahmen zum nächsten Album »Nación sin Voz« (Nation ohne Stimme)  – gerieten ins Stocken. Auch das bislang so homogene Bandgefüge wurde gehörig durcheinandergewirbelt. »Wir hatten damals nicht das Gleichgewicht von heute«, erinnert sich Gitarrist Omar.
Zuerst verließ der Sänger die Band. Ivan Omar, ein Jugendfreund von Gitarrist Ivan, ersetzte ihn. Dann folgte der Abgang des Bassisten. Er wurde von Omar, der im Konservatorium elektrische Gitarre gelernt hatte, ersetzt.
Die Veröffentlichung von »Nación sin Voz« im Jahre 2008 brachte schließlich den nationalen Durchbruch. Es folgten Videoproduktionen und eine ausgedehnte Tournee, ­womit Nación ein größeres Publikum erreichten.
Bereits im Jahre 2012 kam dann die Idee zum Konzeptalbum »Tío«. Da Schlagzeuger Grover nebenbei andere Projekte hatte und oft nicht verfügbar war, beauftragte Gitarrist Ivan im Jahre 2014 einen Drummer aus Buenos Aires mit den Aufnahmen des Schlagzeugs. Im Jahr 2015 starteten die Aufnahmen der restlichen Bandmitglieder. Nun sind die Mischung und das Mastering fertig, das Album steht kurz vor der Veröffent­lichung. Im September ist ein großes Nación-Fest in Tarija im Süden Boliviens mit befreundeten Bands geplant.
Mit dem Album »Tío« hat die Band endgültig ihren Musikstil gefunden. »Wir machen eine Mischung aus Kosmologie und Folklore der Anden und verwenden dafür traditionelle Instrumente wie Quena, Panflöte und Charango. Deshalb haben wir unseren Stil einfach Andean-Metal genannt«, erklärt Ivan. Passend dazu drehen sie ihre Videoaufnahmen an archäologisch bedeutsamen Orten wie Tiwanaku, wie die Aymara die Ruinenstätte Tiahuanaco bezeichnen. Somit widmen sich Nación der Re­vitalisierung andiner Kultur, was ihnen letztendlich den Eduardo-Abaroa-Kulturpreis des Kulturministerium bescherte.
»Das ist genau der spezielle Charakter und die Essenz, die andere Bands innerhalb Boliviens oder auch internationale Bands nicht besitzen«, erläutert Omar den individuellen Stil seiner Gruppe. Die Band widmete sich dabei auch anthro­pologischen Studien. Das Album schließt viele Geschichten der an­dinen Mythologie ein, als wäre es ein Soundtrack für einen Film, der eine Geschichte über und aus den Anden erzählt.
Momentan denken Nación bereits an eine mögliche Filmproduktion, mit der sie in Nachbarländer in Südamerika reisen, weitere Konzerte geben und die Metal-Doku über die andine Mythologie vorantreiben wollen. Der größte Traum der Band: Irgendwann möchten sie einmal in Deutschland spielen, und zwar auf dem größten Heavy-Metal-Festival der Welt, dem Wacken Open Air in Schleswig-Holstein.