Passive Anlagestrategien und deren ökonomische Folgen

Passiv ins Chaos ohne Grenzen

Die Politik des billigen Geldes bringt auch immer mehr passive Anlagestrategien hervor. Die Vermögen werden trotzdem größer, zumindest vorerst noch.

Viel drastischer kann man Kritik innerhalb der herrschenden Klasse kaum formulieren: »Der schleichende Weg in die Leibeigenschaft: Warum passives Investieren schlimmer als der Marxismus ist«, lautet der Titel einer Studie, die kürzlich von einer der führenden US-amerikanischen Investmentbanken veröffentlicht wurde. Natürlich spiegelt diese Aussage auch die derzeitige Harmlosigkeit des Marxismus angesichts des Fehlens einer Bewegung hin zu einer Aufhebung der Klassengesellschaft. Die Erregung des Chefanalysten des Geldhauses Bernstein und Verfassers der Studie, Inigo Fraser-Jenkins, über ein bevorstehendes Ende des Kapitalismus, das diesmal nicht von einer Bewegung der Arbeiter, sondern direkt von der Finanzindustrie ausgehe, ist aber dennoch offensichtlich ernstgemeint. »Eine scheinbar kapitalistische Wirtschaft, in der die einzigen Investitionen passiv sind, ist schlimmer als eine Planwirtschaft oder eine Wirtschaft mit einem aktiv geführten Kapitalmarkt«, warnt Fraser-Jenkins vor den zerstörerischen Folgen des Investierens in die sogenannten Exchange Traded Funds, kurz ETF, um die es in der Studie geht. Dabei scheint es sich bei diesen Wertpapieren auf den ersten Blick um die harmloseste aller Finanzinnovationen zu handeln, an denen die Geschichte der vergangenen Dekaden nicht gerade arm ist. Weder handelt es sich um Verbriefungen von Schuldtiteln, noch um Versicherungen oder Termingeschäfte, sondern zunächst einmal um sehr klassische Aktienportfolios. Allerdings werden diese nicht durch Fondsmanager oder Privatpersonen aktiv zusammengestellt, vielmehr fließen in die Pakete der ETF-Investoren die in einem Aktienindex dotierten Wertpapiere im gleichen Verhältnis ein, in dem sie im jeweiligen Index dargestellt sind. Die als Indexfonds bezeichneten Papiere bilden somit lediglich einen beliebigen Aktienindex ab, etwa den Dow Jones oder den Dax. Insofern ist logischerweise auch die Entwicklung des Portfolios ganz genau an die Kursgewinne oder -verluste des jeweiligen Indexes gebunden. Marxistisch ausgedrückt könnte man die ETF als konkrete Realisierung der aufgrund der Konkurrenz der Einzelkapitale abstrakten Kategorie der Durchschnittsprofitrate zumindest einer Nationalökonomie begreifen. Und hier setzt auch die Kritik der Gegner dieser Papiere an. »Eine gegebene Investition in aktive Fonds kann oder kann auch nicht die beste Entscheidung für einen bestimmten individuellen Investor sein, aber für das System gibt es einen Vorteil durch die effiziente Verteilung von Kapital«, schreibt Fraser-Jenkins. Während also aktive Investoren Überlegungen darüber anstellten, welche Firmen mit Kredit ausgestattet werden sollten und welche abgestraft werden müssten, würden nun alle gleichermaßen ständig mit frischem Geld versorgt, was zu einer Lähmung jeglicher Innovationskraft, einer »Diktatur der Indifferenz«, führen könne. Selbst nahezu bankrotte Unternehmen erhielten so ständig neuen Zufluss frischen Kapitals. Und tatsächlich, die Konkurrenz um Investitionen, eines der zentralen Prinzipien kapitalistischen Wirtschaftens, wird durch die Indexfonds ad absurdum geführt. Dementsprechend steht Fraser-Jenkins mit der Kritik an ihnen alles andere als alleine da. Unterstützung erhielt er etwa aus dem Hause des in allen Medien durchgängig mit dem Prädikat »Starinvestor« belegten Warren Buffett. Dessen höchstrangiger Mitarbeiter, Charlie Munger, verwies in einem CNN-Interview zu der Studie darauf, dass nicht lediglich die Investitionen passiv vorgenommen würden, sondern die ETF-Eigentümer in der Regel auch keinerlei Engagement bei der Kontrolle der Unternehmen zeigten. Bereits im April hatte sogar der Erfinder dieser Wertpapiere vor ihnen gewarnt. John C. Bogle, der Gründer der Vanguard Group, die vor 40 Jahren den ersten Indexfonds auflegte, bezeichnete das durch sie hervorgerufene Anlageverhalten bei einer Rede vor hochrangigen Anlageberatern in Washington als einen Weg in ein »Chaos ohne Grenzen«, an dessen Ende es »keinen Markt« mehr gäbe – für die Apologeten des Kapitals ein Horrorszenario. Allerdings, so Bogle weiter, sehe er die Gefahr erst bei einem Marktanteil von 90 Prozent als akut an. Fraser-Jenkins ist pessimistischer. Zwar sei nicht auszumachen, ab welchem passiven Kreditanteil die Investitionskonkurrenz zum Erliegen komme, die Entwicklung jedoch sei bereits beängstigend, heißt es in »Der schleichende Weg in die Leibeigenschaft«. Nicht wegzudiskutieren ist in jedem Falle der Siegeszug der ETF. Waren zur Jahrtausendwende global erst etwa 74 Milliarden US-Dollar in die Indexfonds geflossen, so erlebten die Investitionen vor allem seit dem Kriseneinbruch ein exponentielles Wachstum. Nach den Zahlen der Bank of England waren im Jahr 2010 bereits 1,3 Billionen US-Dollar in ETF angelegt. Zurzeit sollen etwa ein Drittel aller weltweiten Investitionen in den Index­fonds stecken – mit ständig steigender Tendenz. Zwar verfügen fast alle Finanzinstitute über gängige Produkte, kaum ein Markt wird aber so stark von einem Unternehmen dominiert wie der der ETF. Nach verschiedenen Schätzungen könnten die diversen passiven Produkte der mit Abstand größten Investment-Firma der Welt, BlackRock, zwischen einem Drittel und der Hälfte des gesamten Marktes umfassen. So beträgt der Marktanteil des BlackRock-Fonds iShares, der den Dax abbildet, nach den Zahlen der Investmentgesellschaft DWS, die zur Deutsche-Bank-Gruppe gehört, 45,6 Prozent von allen Investitionen in die diversen Indexfonds innerhalb Europas. Auch in den USA ist BlackRock unbestrittener Marktführer. Und politisch könnte der Konzern seine Macht noch weiter ausdehnen: Der BlackRock-Vorsitzende Larry Fink wird als möglicher Finanzminister gehandelt, sollte Hillary Clinton die Präsidentschaftswahl in den USA gewinnen. Sollte er in dieses Amt kommen, könnte er noch aktiver an der Verstetigung der Grundlage des Siegeszugs auch der ETF mitarbeiten: der Weiterführung der expansiven Geldpolitik durch die verschiedenen Notenbanken. Die gigantischen Massen frischen Kapitals, für die kaum noch eine Nachfrage existiert, fließen in die Wetten auf die relativ undifferenzierte Steigerung der Nominalwerte von Aktien, ohne dass man einzelne Unternehmen bewerten müsste. Seit dem Höhepunkt der Finanzkrise im Jahr 2009 hat sich so beispielsweise der Punktestand des Dax verdreifacht. Auch durch Passivität können also Kapitaleigner ihr Vermögen vergrößern – zumindest bis die Beendigung der Politik des billigen Geldes die nächsten Blasen platzen lässt. Dass auch die Vermögens­ungleichheit seit der Finanzkrise signifikant größer geworden sei, hatten die Ökonomen der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) in ihrem Quartalsbericht von März dieses Jahres errechnet. »Ein Hauptgrund sind die steigenden Aktienkurse«, heißt es darin. Und weiter: »Es liegt somit die Vermutung nahe, dass die Geldpolitik zu dieser Ungleichheit beigetragen hat.« Was aber für einzelne Kapitalisten gut ist, kann für das Kapital ausgesprochen schädlich sein. Denn die Ausdehnung der passiven Anlagestrategien mag einfach und relativ gebührenarm sein und zudem unter den gegebenen Voraussetzungen kaum Risiken enthalten. Sie hat allerdings, worauf Fraser-Jenkins verweist, zu steigender Korrelation an den Börsen geführt. Dies bedeutet, dass die konkreten Erfolge oder Misserfolge börsennotierter Unternehmen sich immer weniger in den Aktienkursen spiegeln. Dieses Szenario wurde in den vergangenen Jahren gleich mehrfach untersucht. In der größtangelegten Studie, die Jeffrey Wurgler, Professor der New York University, leitete, wurden Vergleichsuntersuchungen in immerhin 65 Ländern vorgenommen. Der Befund ist ziemlich eindeutig: Steigende Korrelation führt zu weniger Innovationen und verringertem Wirtschaftswachstum. Und auch zur Stabilisierung dürfte sie kaum tauglich sein. Ein »Flash Crash« wie im August 2015 beim S & P 500 – dieser Index enthält die größten 500 Unternehmen in den USA und war damals binnen 15 Minuten um sieben Prozent abgesackt, weil Händler im großen Stil ETF verkauften – gilt mittlerweile als eines der am schwersten zu bearbeitenden Krisenszenarien, weil profitable und nichtprofitable Unternehmen gleichermaßen betroffen wären.