Mithu Melanie Sanyal im Gespräch über den gesellschaftlichen Umgang mit Vergewaltigung und Opferrollen:

»Die Ehre der Frau wurde in ihrem Körper verortet«

Mithu Melanie Sanyal ist Kulturwissenschaftlerin, Autorin und Journalistin. In ihrem im August bei Edition Nautilus erschienenen neusten Buch »Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens« analysiert sie den gesellschaftlichen Umgang mit Vergewaltigung, dessen historischen Hintergrund und die Geschlechterverhältnisse.

Warum werden männliche Opfer von Vergewaltigung oft nicht ernst genommen? Warum werden sie ausgelacht?
In Deutschland wird das etwas weniger scherzhaft verhandelt als in Großbritannien oder den USA – Sprüche wie »Don’t pick up the soap!« gibt es hier nicht. Weil wir immer Angst haben, über die falschen Sachen zu lachen. Was sich allerdings gleicht, ist, dass viele sich das nicht vorstellen können. Als die Gesetzgebung in Deutschland geändert wurde, hat Elisabeth Winkelmeier-Becker von der CDU gesagt: Das ist ein großer Schritt für die Rechte der Frauen. Aber das war es gar nicht, sondern ein großer Schritt für die sexuelle Selbstbestimmung aller Menschen in Deutschland. Dass Männer stets als Täter und Frauen als Opfer gesehen werden, hat mit unserer Geschichte zu tun. In Deutschland brauchte man bis 1997 einen Penis, um eine Frau, mit der man nicht verheiratet war, zu vergewaltigen. Sonst galt die Tat vor Gericht nicht als Vergewaltigung. In Großbritannien wurde das erst 2003 geändert. Diese Geschichte hat uns natürlich geprägt. Generell ist es schwierig für uns, das Konzept, was eine Vergewaltigung ist, mit unserem Konstrukt von Männlichkeit zusammenzubringen. Aber wir haben viele Fortschritte gemacht. Die ersten Sexualstrafrechtsgesetze waren dafür da, die Familie und die Ehe zu schützen. Vergewaltigung war verboten, aber auch männliche Homosexualität. Dass wir jetzt von sexueller Selbstbestimmung sprechen können, ist ein Schritt nach vorne. Es gab ein Umdenken. Aber was Geschlechterbilder angeht, geht dieser Fortschritt leider sehr langsam vonstatten.
Weibliche Opfer werden oft herabwürdigend behandelt. Zum Beispiel Samantha Geimer, die mit 13 Jahren von Roman Polanski vergewaltigt wurde. Sie wird als verkommen angesehen, weil sie erst 13 war und ihre Mutter nicht wusste, wo sie rumhing. Also, Männer werden oft als lächerlich, Frauen als unanständig betrachtet, wenn sie sagen, dass sie vergewaltigt wurden.
Ich habe das historisch betrachtet und analysiert. Wir haben eine bestimmte Vorstellung davon, wie Opfer sich als richtige Opfer verhalten. Das war einer der Gründe für die Wut auf Samantha Geimer: Dass sie sich nicht wie ein »echtes« Opfer verhalten habe und sich dafür eingesetzt hat, dass das Verfahren gegen Polanski eingestellt wird. Oder im Fall von Gina-Lisa Lohfink: Es kam am Anfang viel Häme auf sie zu, weil sie sich nicht richtig wie ein Opfer verhalten hat. Sie kam ziemlich tough rüber im Gericht, hat gesagt: »Nö, ich zahle nicht, lieber gehe ich in den Knast!« Und dann ging es natürlich immer um ihre sexuelle Vergangenheit.
Was ich versucht habe, ist, diese Häme historisch zu verstehen. Das Wort rape kommt von Raub, also dass etwas gestohlen wurde; der deutsche Begriff war bis 1974 »Notzucht«. Und was wurde gestohlen? Die Ehre. Die Ehre konnte nur den Frauen gestohlen werden, weil nur die Ehre der Frau in ihrem Körper verortet wurde.
Wie ist das gemeint?
Die Ehre einer Frau wurde in ihrem Jungfernhäutchen vermutet. Die Ehre des Mannes wurde im öffentlichen Raum verhandelt, er musste kämpfen und gewinnen. Aber die Ehre der Frau saß in ihrem Körper. Und wenn einer Frau die Ehre gestohlen wurde, dann hatte diese Frau ihre Position in der Gesellschaft verloren. Dann musste sie sich in letzter Konsequenz umbringen. Die Idee dahinter war, dass sie ihre Ehre wieder erlangen kann, indem sie sich umbringt. Deshalb gibt es Sprüche wie »ein Verbrechen schlimmer als der Tod« und so weiter.
Ja. In Großbritannien sagen das Frauen der Generation meiner Mutter immer: »Ich würde lieber sterben!«
Problematisch wurde es, wenn sie sich nicht umbrachte. Im Christentum gilt Selbstmord als Sünde. Dann musste sie in ihrem weiteren Leben beweisen, dass sie vorher wirklich ehrenhaft war. Sie musste um ihre Ehre trauern, den Rest ihres Lebens lang. Wenn sie das nicht tat, hatte sie wohl keine Ehre, dann war sie in Wirklichkeit eine Schlampe, dann war sie nicht wirklich vergewaltigt worden.
So denken viele immer noch: Schlampe oder Opfer, Ehre oder Lüge.
Wir sind zwar einen Schritt weiter, aber diese Gegenüberstellung hat immer noch große Auswirkungen auf unsere Einstellung. Die andere Sache ist, dass wir manchmal lebenslange Konsequenzen von den Frauen nicht aus negativen Motiven erwarten, sondern weil wir uns so sehr Sorgen machen. Dann erwarten wir, dass das Vergewaltigungstrauma bis ans Ende des Lebens dauert. Wie viele Krimis gibt es, in denen die Mörderin als Kind vergewaltigt worden war? Wir neigen dazu, zu glauben, dass bei einer vergewaltigten Frau etwas unwiederbringlich zerbrochen ist. Und dass alle Probleme im weiteren Leben eines Opfers auf die Vergewaltigung zurückgeführt werden können. In meinem Buch beschreibe ich eine Frau, die mir nach einem Vortrag erzählt hat, dass sie versucht hat, alle ihre Eheprobleme immer mit Blick auf ihre Vergewaltigung als Teenager zu erklären. Ich will nicht sagen, dass das nicht sein kann. Natürlich kann das sein, aber es ist nicht zwangsläufig. Wir erwarten von den Opfern, dass sie kaputtgehen, dass sie zerbrechen am Vergewaltigungstrauma. Das kommt von diesen alten Vorstellungen. Natürlich können Menschen schwere Probleme haben nach einer Vergewaltigung, das will ich nicht bestreiten. Aber ich glaube, dass Heilung erschwert wird, wenn dein komplettes Umfeld sagt: Jetzt bleibst du für immer so.
In dem Buch sprechen Sie auch über Falschbeschuldigungen. Ich kenne niemanden, der wegen einer Lüge ins Gefängnis gekommen ist, aber ich kenne viele Frauen, die vergewaltigt oder missbraucht wurden. Ich glaube den Männern nicht, dass sie tatsächlich Angst vor Falschbeschuldigungen haben. Das ist Wut, nicht Angst.
Natürlich gibt es manchmal Falschbeschuldigungen wegen Vergewaltigung! Die Folgen sind äußerst schwerwiegend, weil Vergewaltiger in unserer Gesellschaft sehr geächtet sind. Es wäre seltsam, wenn es keine Falschbeschuldigungen gäbe, bei allen anderen Verbrechen gibt es das auch. Warum sollte das bei Vergewaltigung anders sein? Aber der Grund, weshalb die Falschbeschuldigungen wegen Vergewaltigung die Menschen so wütend machen, hat mit dieser Ehrvorstellung zu tun. Wie kann man bei Vergewaltigung nicht die Wahrheit sagen? Dann ist man unehrlich, dann hat man keine Ehre.
Also es gibt sie doch? Wie viele sind es denn?
Das ist schwer zu sagen. Aber es wäre ein Wunder, wenn es sie nicht gäbe. Einer der Gründe, weshalb es ein ganz großes Tabu ist, darüber zu reden, dass es Falschbeschuldigungen gibt, ist auch historisch bedingt. Damals in den Siebzigern, als der größte Teil der Anzeigen wegen Vergewaltigung abgewiesen wurde, als man gesagt hat, diese Frauen seien Falschbeschuldigerinnen, sie seien Prostituierte, die ihr Geld nicht bekommen hätten, damals hat man in der Frauenbewegung gesagt, das sei ein Vergewaltigungsmythos, denn Frauen lögen nie bei Vergewaltigungen. Das war politisch nötig, um zu einem Umdenken zu führen. Aber jetzt sind wir an einem anderen Punkt und ich denke, dieses Tabu müsste man jetzt brechen.
Ich habe mich mit einem Mann über den Fall Lohfink gestritten. Er meinte, wenn eine Frau sich vergewaltigt fühlt, muss sie Anzeige erstatten. Aber es wird immer Vergewaltigungen geben. Nicht jede Vergewaltigung kann mit Gefängnis geahndet werden.
Wenn jemand nicht zur Polizei gehen möchte, muss man das respektieren. Ich würde keiner Person vorschreiben, wie sie ihr Leben zu leben hat. Aber Gefängnis ist keine Lösung. Da werden mehr Menschen vergewaltigt als außerhalb des Gefängnisses. Und sie lernen dort, zu vergewaltigen.
Bevor ich Ihr Buch gelesen hatte, dachte ich immer, die Männer regen sich wegen Falschbeschuldigungen auf, weil sie denken, dass sie zum Täter werden könnten. Aber vielleicht kommt diese Wut auch daher, dass sie nicht über ihre eigenen Erfahrungen sprechen dürfen?
Männer dürfen nicht über ihre Gefühle reden, besonders wenn diese Gefühle mit Angst, Schmerzen, Verletzlichkeit zu tun haben. Wie kann man Empathie mit anderen haben, wenn man mit sich selbst keine Empathie haben darf?