Die Doppelstrategie des IS in Deutschland

Das duale System des Jihadismus

Der »Islamische Staat« bedient sich zur Verbreitung von Angst und Schrecken in Europa einer Doppelstrategie: Zum einen schickt er ausgebildete Terroristen über die Fluchtroute, zum anderen leitet er Angriffswillige, die es unter den Flüchtlingen gibt, über soziale Medien gezielt bei ihren Attentaten an. Dabei geht es der Terrororganisation auch darum, die Geflüchteten zu diskreditieren und Ängste in der Bevölkerung zu schüren.

Folgt man der Darstellung von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU), dann haben die deutschen Sicherheitsbehörden durch ihren Großeinsatz in Schleswig-Holstein Mitte September einen weiteren Terroranschlag verhindert. Denn die drei Männer, die dabei festgenommen wurden, seien dringend verdächtig, im Auftrag des »Islamischen Staats« (IS) unterwegs gewesen zu sein, um einen tödlichen Angriff auszuführen. Es gebe deutliche Hinweise, so de Maizière, dass das Trio einen Bezug zu den Attentätern von Paris im Jahr 2015 hat. So seien beispielsweise die gefälschten Reisedokumente der drei Männer in derselben Werkstatt angefertigt worden wie jene der Terroristen in der französischen Hauptstadt. Auch habe sich das Trio derselben Schlepperorganisation bedient, um nach Europa zu kommen. Die drei Syrer im Alter zwischen 17 und 26 Jahren, die dem Innenminister zufolge im November 2015 als Flüchtlinge nach Deutschland eingereist waren und in einer Erstaufnahmeeinrichtung lebten, standen offenbar schon länger unter Beobachtung. Der Verfassungsschutz teilte schließlich dem Bundeskriminalamt (BKA) und der Bundesanwaltschaft mit, die Männer hätten sich gegenüber einem IS-Funktionär in Rakka verpflichtet, nach Europa zu reisen und dort für Anschläge zur Verfügung zu stehen. Mindestens einer von ihnen sei im Umgang mit Waffen und Sprengstoff ausgebildet worden.
Wenige Tage nach dem Einsatz in Norddeutschland wurde auch in Köln ein Syrer festgenommen, der Verbindungen zu Jihadisten gehabt haben soll. Die Polizei griff ihn in einer Turnhalle auf, die als Notaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge dient. Der 16jährige hatte nach Angaben der Staatsanwaltschaft »Kontakte zu einer im Ausland lebenden Person mit IS-Bezügen, die den jungen Syrer für islamistische Aktivitäten gewinnen wollte«. Das habe jedenfalls die Auswertung seines Mobiltelefons ergeben. Laut BKA-Präsident Holger Münch laufen derzeit etwa 60 Verfahren gegen Flüchtlinge, die unter Terrorverdacht stehen. Man gehe allerdings längst nicht in allen Fällen davon aus, dass es sich tatsächlich um sogenannte Schläfer handelt. Manchen werde nur die Verwendung verbotener Symbole vorgeworfen.
Was die Festgenommenen von Schleswig-Holstein von dem mutmaßlichen IS-Sympathisanten in Köln unterscheidet, aber auch beispielsweise von dem Würzburger Attentäter, der im Juli mehrere Fahrgäste eines Regionalzuges mit einer Axt verletzte und schließlich von der Polizei erschossen wurde, ist vor allem die Rolle, die sie jeweils für den »Islamischen Staat« spielen, und ihr Weg zu der Terrororganisation. Münch hat diesen Unterschied auf den Punkt gebracht, als er im Tagesspiegel von einer »Doppelstrategie« des IS sprach. Dieser setze zum einen auf Personen, die »besonders ausgebildet sind, sich in größeren Netzwerken bewegen und komplexe, geplante Anschläge verüben, wie in Paris und Brüssel«. Zum anderen spreche der IS mit seiner Propaganda jene an, die weder in Ausbildungscamps waren noch zu einem Netzwerk gehören. Deren Radikalisierung verlaufe, so der BKA-Präsident, »über die Propaganda im Verborgenen, und sie folgen dann den Aufrufen zu einfachen, schnell durchzuführenden Anschlägen«. Einige würden von IS-Terroristen dabei offenbar mit Rat und Zuspruch bis zur Tatausführung begleitet, etwa über die sozialen Medien.
Wie die Kommunikation zwischen Angriffswilligen und Instrukteuren des IS sowie die Anschlagsplanung konkret verlaufen, zeigen exemplarisch Auszüge aus Chatprotokollen der Attentäter von Würzburg, Ansbach und Hannover, die von der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurden. Demnach wollte der »Islamische Staat« beispielsweise den Attentäter von Würzburg dazu über­reden, seine Attacke mit einem Auto statt einer Axt zu verüben, was der 17jährige jedoch ablehnte, weil er nicht fahren könne und es zu lange dauere, es zu erlernen. Dem Angreifer von Ansbach empfahl sein IS-Kontaktmann, nach dem Ende des Musikfestivals in die Menge einzutauchen und dort seinen mit Sprengstoff beladenen Rucksack zur Explosion zu bringen, auf dass es möglichst viele Opfer gebe. Auch die 16jährige, die im Februar einen Bundespolizisten in Hannover niederstach, hatte von einem IS-Mann zuvor Anweisungen erhalten, wie sie ihre Tat ausführen soll: Geplant war demzufolge, den Beamten in eine Ecke des Bahnhofs zu locken, dann zuzustechen, ihm daraufhin seine Pistole zu stehlen und ihn schließlich zu erschießen.
Diejenigen wiederum, die in Syrien für Terroranschläge ausgebildet und anschließend gezielt über die Flüchtlingsroute nach Europa geschickt werden, sollen dem »Islamischen Staat« nicht nur zu konkreten Attentaten dienen, sondern auch dazu, Menschen auf der Flucht zu diskreditieren und Angst vor ihnen zu schüren. »Das ist ja das Perfide an der Strategie des IS«, sagte Münch dem RBB-Inforadio. »Er will damit eine Verwundbarkeit des Westens zeigen.« Denn Flüchtlinge lösten »Ängste und Befürchtungen« aus, und genau das sei auch der Sinn des Terrors: »dort anzusetzen, wo man die Ängste der Bevölkerung schüren kann«. Doch »nicht der Flüchtlingsstrom selbst« sei das Problem, sondern vielmehr das »Ausnutzen des Flüchtlingsstroms« durch den IS.
Wie wichtig und notwendig diese Differenzierung ist, zeigen die Reaktionen von Scharfmachern, etwa aus den Reihen der CSU. Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann beispielsweise griff nach den Festnahmen in Schleswig-Holstein wieder einmal die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung grundsätzlich an und kritisierte die »Kontrolllücken«, die es vor allem im Herbst des vergangenen Jahres gegeben habe, als besonders viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Der CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer forderte sogar eine »Komplettdurchleuchtung aller in unser Land gekommenen Flüchtlinge«. BKA-Präsident Münch versuchte demgegenüber zu versachlichen: Die Lücken bei der Erfassung der Geflüchteten seien inzwischen weitgehend geschlossen, sagte er im ZDF-Morgenmagazin. Das alleine nütze aber nichts. Denn die drei festgenommenen mutmaßlichen Schläfer des IS in Norddeutschland seien schließlich registriert gewesen.
Prompt forderten Politiker wie der Vorsitzende des Innenausschusses im Bundestag, Ansgar Heveling (CDU), die Überwachung der Telefon- und Internetkommunikation noch einmal deutlich auszuweiten. Der Maßnahmenkatalog von Bundesinnenminister de Maizière zur Terrorabwehr müsse dahingehend unbedingt ergänzt werden. Dieser Katalog sieht bereits maßlose Verschärfungen vor wie etwa ein noch restriktiveres Aufenthaltsrechts, schnellere Abschiebeverfahren, Leistungskürzungen, mehr Polizei und den Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit. Dass auf diese Weise mehr Sicherheit geschaffen wird, darf man getrost bezweifeln; dass die Gesellschaft dadurch eine autoritärere werden wird, kann jedoch als gesichert betrachtet werden.