Der Zerfall der EU ist kaum aufzuhalten

Sieg der Regression

Europa befindet sich in einem unaufhaltsamen Zerfallsprozess, der lange vor dem britischen Referendum begonnen hat. Nach der britischen Entscheidung, aus der Europäischen Union auszutreten, ist dieser Zerfall für alle greifbar geworden. Die sogenannte Flüchtlingskrise hat den Rest dazu getan.

Der clash of civilisations ist in Europa zu besichtigen, das zerrissen wird zwischen der Zivilisation humanistischer, kosmopolitischer Prägung und derjenigen nationalkonservativer und faschistischer Prägung; zwischen der kapitalistischen Moderne und der Regression des Bewusstseins zu nationalen und völkischen Bindungen und Wahnvorstellungen. Zerrissen ist Europa auch durch die im Kapitalismus sich naturwüchsig bildenden Disparitäten, weil Kapital nun mal in profitable Zonen strömt und andere entleert und somit die Welt in Sieger und Verlierer, Gläubiger und Schuldner, Zentrum und Peripherie einteilt. Das macht nicht Angela Merkel, sondern der Kapitalismus von sich aus. Das macht auch nicht der Euro. Als die Lira, die Drachme und der Peso dreimal im Jahr abgewertet wurden, hatten die Länder des Südens ebenfalls keine Chance gegen die hohe Produktivität und die niedrigen Lohnstückkosten in Westdeutschland, die auf den deutschen Attributen Fleiß, Disziplin und Gehorsam aus Feigheit vor dem Herrn beruhen.
Europas Abstieg fällt nicht zufällig in die Epoche, in der die 500jährige Weltherrschaft des Westens zu Ende geht und neue Ordnungsmächte wie China, Russland, Iran, Saudi-Arabien und selbstbewusste Tyrannenstaaten (Philippinen, Nordkorea, der »Islamische Staat«) aufkommen. In Krisen wächst die Neigung, in den Heimathafen zurückzukehren, protektionistische Mittel zu ergreifen und völkische Traditionen zu pflegen.
Wie Innenminister Thomas de Maizière (CDU), der im Interview mit dem Stern seine »nationale Identität« sucht: »Wir wissen nicht mehr genau, wer wir sind und wer wir sein wollen. Was uns als Deutsche ausmacht.« Er weiß nicht, wer er ist! Ein beklagenswerter Zustand.
Das Fernsehen berichtete über Porsche. Der Konzern hatte Migranten aus Afghanistan, Syrien, Äthiopien und sonst woher Ausbildungsplätze angeboten. Betriebsrat Uwe Hück, früher Europameister im Thaiboxen, kam zur Begrüßung. Er ging auf einen Jungen zu, zupfte an dem roten Porsche-T-Shirt und sagte: »Das Trikot schwitzt nicht von allein!« Dann ging er. Da wusste die Gruppe, was deutsch ist und wie Integration aussieht.
Der freiwillige Ruin
Der »Brexit« verkörpert den Sieg der Regression über die Vernunft. Die Mehrheit der britischen Wählerinnen und Wähler wollte ihrer Aversion gegen »Zuwanderung, Globalisierung und kosmopolitische Eliten« (Timothy Garton Ash, Historiker) Luft verschaffen und ein paar imaginäre Bedürfnisse befriedigen. Anhänger der »Leave«-Kampagne sagten, sie wollten zurück in jene Epoche, »in der uns die halbe Welt gehörte, heute kommt die halbe Welt zu uns und macht, was sie will«. Sie wollen zurück ins Empire, werden aber den tiefen Fall ihrer Nation erleben. Die harte Trennung zwischen Großbritannien und der EU ist nicht mehr aufzuhalten. Das könne er »Johnson zur Not auch auf Englisch sagen«, wies Wolfgang Schäuble den Wunsch der Briten ab, die Grenzen für Menschen zu schließen, aber Waren und Kapital weiterhin frei im EU-Binnenmarkt bewegen zu dürfen.
Die EU wird auf der Personenfreizügigkeit beharren, weil die Schließung der Grenzen für Europäer nicht einmal von Ungarn und Polen verlangt wird, um zweitens potentielle Nachahmer abzuschrecken, und weil Deutschland, Frankreich, Italien, Irland und andere EU-Staaten bereits verhandeln, wer welche »Filetstücke der britischen Wirtschaft auf den Kontinent« zieht (Die Presse). Ein Teil der britischen Einkommen basiert auf »Leihkapital« aus dem Ausland. Firmen aus aller Welt haben Großbritannien und Irland wegen der niedrigen Löhne, Sozialkosten und Steuern als Brückenkopf für den freien Zugang zum EU-Binnenmarkt genutzt. In Zukunft werden Exporte in die EU durch Zölle, Grenzkontrollen, Normen und allerlei Bürokratie teurer. Japan hat angekündigt, Banken und Autoproduktion von der Insel auf den Kontinent umzusiedeln. Die Schweizer Großbank UBS geht davon aus, dass ein Drittel des Finanzpersonals London verlassen wird, wenn der europäische »Finanzpass« entfällt. Nach einer Umfrage der Beratungsfirma KPMG arbeiten drei Viertel der in Großbritannien ansässigen Konzerne an Umzugsplänen. Die Unsicherheit wächst dadurch, dass Großbritannien alle Handelsverträge, die die EU abgeschlossen hat, neu aushandeln muss. Die Bedingungen werden eher schlecht sein, weil die EU 510 Millionen Konsumenten in die Waagschale zu werfen hat. Als Gegenmaßnahme plant die britische Regierung, die Gewinnsteuer auf 15 Prozent zu senken. Die Unterbesteuerung hat eine Unterversorgung des Staates zur Folge, die zu Lasten der Integrationskraft, der öffentlichen Einrichtungen, des Militärs geht. Die Nation verliert an Bedeutung.
Die Schweiz hat das gleiche Problem zu bewältigen. Auch ihre Bevölkerung sprach sich in einem »Volksentscheid« gegen die EU-Arbeitnehmerfreizügigkeit aus. Die Regierung hat den Volkswillen bis Februar 2017 umzusetzen, will aber nicht, weil durch die Verletzung einer EU-Regel das ganze Ver­tragswerk nichtig wäre. Das wäre eine Katastrophe für die Schweiz, die jeden dritten Franken im Handel mit der EU verdient. Ohne den freien Zugang zum Binnenmarkt würde das Schweizer Nationaleinkommen 20 Jahre lang fünf Prozent im Jahr an Wert verlieren, hat der Think Tank Avenir Suisse berechnet. Nicht zu vergessen ist, dass Ostdeutsche ihren wirtschaftlichen Abschwung – ganz ohne Referendum – durch Brandschatzung und Mordanschläge voranbringen. Der Osten habe für seinen Fremdenhass einen »hohen Preis« zu zahlen, sagt Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung. Die Wirtschaft könne heute nur erfolgreich sein, »wenn sie offen ist – mit offenen Grenzen und offen für ausländische Mitmenschen«.
Neue Machtverhältnisse
Nach dem Ausstieg Großbritanniens kann Deutschland vor Kraft nicht mehr laufen. Seine auf der Wirtschaft beruhende Hegemonie wird sich politisch und militärisch ausdehnen. Wer mit dem »Brexit« dem deutschen Einfluss entkommen wollte, wird erleben, dass Großbritannien in Deutschland um Aufträge, Investitionen und Kredite bettelt. Die britische Wirtschaft macht im Außenhandel jedes Jahr ein Minus von rund 150 Milliarden Euro, die auszugleichen sind. Da aus Deutschland für 85 Milliarden doppelt so viel importiert wie exportiert wird, wächst die Abhängigkeit von Anlagen, Komponenten und Krediten aus Deutschland. Obendrein nimmt Deutschlands politische Macht zu, weil die Briten nicht mehr an den Tischen sitzen, nicht mehr gefragt werden und ihre Bedeutung für die USA einbüßen.
US-Präsident Barack Obama hob die Führungsrolle Deutschlands hervor und brüskierte die Briten mit der Bemerkung, sie hätten sich bei den Neuverhandlungen über die Handelsbeziehungen mit den USA »am Ende der Schlange anzustellen«. Die Abkommen mit Asien seien wichtiger. Die USA werden »mehr in das Verhältnis zu Deutschland investieren«, sagt Nicholas Burns, der frühere US-Botschafter bei der Nato. Deutschland hat in Bratislava eine verstärkte militärische Zusammenarbeit mit Frankreich vereinbart – ohne Großbritannien. Bis Dezember soll ein gemeinsames Hauptquartier für die »EU-Battle-Groups« gefunden werden. Der britische Verteidigungsminister Michael Fallon kündigte an, man werde sich jedem Versuch widersetzen, in Europa »einen Rivalen zur Nato zu schaffen«.
Der Machtzuwachs und das Chaos in der EU führen zu einer nationaleren Ausrichtung der deutschen Politik. Eine ganze Armada von deutschen Politikern und Managern reiste ohne Absprache mit den USA und der EU nach Russland. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) erklärte in Moskau, ihm sei »völlig unklar«, was beide Staaten so auseinandergebracht habe. Außenminister Frank-Walter Steinmeier kündigte in Jekaterinburg an, dass Deutschland und Russland irgendwann Syrien wieder aufbauen würden. Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) warb in Moskau für deutsche Milchprodukte und der bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) fand bei seinem Besuch Putins Bemerkungen zu den Flüchtlingen »sehr nobel«.
In der EU bilden sich neue Bündnisse gegen Deutschland. In Südeuropa tun sich Italien, Spanien, Griechenland, Portugal, Zypern, Malta und zeitweise Frankreich gegen die »Dominanz des Nordens« zusammen. Die Südallianz fordert Geld und Kredit, außerdem soll Deutschland mehr investieren und Einzelteile im Süden einkaufen. Die Visegrád-Staaten Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechien und ihre osteuropäischen Verbündeten haben durchgesetzt, dass sie keine Flüchtlinge »aus anderen Kulturen« aufnehmen. Viktor Orbán, der Anfang Oktober mit seinem Referendum über die EU-Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen allein an der geringen Wahlbeteiligung scheiterte, will »Flüchtlingsschiffe im Mittelmeer versenken« und »gigantische Flüchtlingslager in Libyen« bauen. Angela Merkels Bereitschaft, Europas Außengrenzen durch die Aufrüstung der Frontex-Armee zu sichern, Rückführungsabkommen mit Staaten in Nordafrika und Zentralasien abzuschließen und keine Flüchtlinge mehr in Europa zu verteilen, wird dazu beitragen, verlorenes Vertrauen der Osteuropäer zurückzugewinnen. Als Gegenleistung wollen die Erzchristen darüber nachdenken, ob sie ihre nationalen Grenzsperren entlang der Balkanroute wieder öffnen.
Aus Furcht vor der russischen Wiederkehr war Osteuropa sicherheitspolitisch zunächst an der Seite der USA und Großbritanniens zu finden. Polen hatte sogar angekündigt, sich dem angloamerikanischen Wirtschaftsraum nähern zu wollen. Solche Launen sind vorerst vorbei. Zum einen will kein Land in den britischen Abwärtsstrudel geraten, zum anderen haben britische Faschisten im »Brexit«-Fieber einen polnischen Arbeiter ermordet und zwei weitere krankenhausreif geschlagen. Die Visegrád-Staaten fordern nun, dass osteuropäische Bürger gleiche Rechte bekommen wie Briten. Andernfalls würden sie dafür sorgen, dass Großbritannien komplett aus dem EU-Binnenmarkt fliege.
Querfront und Mythen
Menschen muslimischen Glaubens fliehen in Scharen nach Europa, um dem Tod zu entkommen oder ein besseres Leben zu führen, während Europäer von einem Sittenverfall und einer rätselhaften Mythenbildung heimgesucht werden. Ein illustrer Kreis von rechten und linken Parteien, von Sahra Wagenknecht über Frauke Petry, Marine Le Pen und Viktor Orbán bis zu Monty-Python-Star John Cleese sammelt sich in einer Querfront, die in der EU einen bösen Dämon erkannt haben will, der das Nationale und Völkische, an dem sie hängen, bedroht – unheilvoll wie die Globalisierung, die Migration, Kosmopoliten, die Wall Street und andere »Fremdmächte«.
Die EU-Kommission sei »eine Riesenbürokratie, die den Ländern alle möglichen Dinge vorschreibt«, sagt Cleese. Er hat sich für den EU-Austritt engagiert, um seine »Kultur« zu retten. Die AfD spricht von dem »Brüsseler Monster« und der »EU-Sklaverei«. Polen fordert, »dass die EU-Kommission aufhört, Politik zu machen«, Wagenknecht sagt, die EU-Kommission dürfe nicht länger »in die einzelnen Staaten hineinregieren«. Für Orbán ist die Kommission eine »Reichsbürokratie« voller »Nihilisten«, die Muslime ankarre, »um die christliche Kultur zu zerstören«. Halt! Wenn EU-Kommissar Günther Oettinger (CDU), Protestant und Mitglied der schlagenden Landsmannschaft »Ulmia zu Tübingen«, ein von der Nichtigkeit alles Seienden überzeugter Machthaber sein soll, ist Regression in Verblödung umgekippt. Die EU ist nur »so stark, wie es die Mitgliedstaaten zulassen« (Europaparlamentspräsident Martin Schulz).
Linke und Rechte wachsen unter dem Dach einer antieuropäischen Querfront zusammen. Rechte zünden Moscheen und Asylunterkünfte an, die linke Partei Podemos will das »spanische Vaterland« verteidigen und setzte in 50 Kommunen durch, dass israelische Waren aus Kaufhäusern verschwinden. Gerichte haben den Irrsinn untersagt. In Italien fährt der Spitzenkader von Beppe Grillos »5-Sterne-Bewegung«, Alessandro Di Battista, mit dem Motorrad durchs Land und hält auf den Piazze Brandreden gegen Großbanken, Freimaurer, Mossad und KGB. In Deutschland wollen AfD-Politiker auf Flüchtlinge schießen und »die grausamen Bilder aushalten«, statt sich von »Kinderaugen erpressen zu lassen« (Alexander Gauland). Jobbik, Front National, Ukip und andere sind nicht besser. Die Madrider Sektion der kommunistischen Izquierda Unida, die eine gemeinsame Liste mit Podemos bildet, zeigt auf Plakaten Obama (mit dicken Lippen), wie er einen orthodoxen Juden (Locken, Kippa, Davidstern) umarmt und ihm ein Bündel Dollarnoten zusteckt.
Es gehört zum europäischen Trauerspiel, dass Teile der Linken dazu beigetragen haben, die Nation zu einem schützenswerten Gut gegen die Fremdmächte zu erheben. Die Behauptung, mit der Globalisierung sei das Böse auf die Welt gekommen, huldigt dem nationalistisch organisierten Kapitalbetrieb. Die Reduzierung der Kritik am Kapitalismus auf Finanzen und Banken hat das Kapital falsch in den raffenden und schaffenden Sektor getrennt und die Ausbeutung und Entfremdung des Menschen in der Mehrwertproduktion geadelt. Dazu gab es den Kampf gegen den »Shareholder Value« aus »Angloamerika« und gegen die Wall Street und noch viel mehr Blödsinn auf diesem Niveau.
Der Bocksgesang
Der Fremdenhass und alles Völkische sind lebensgefährlich für Flüchtlinge und gleichzeitig im regressiven Sinn antikapitalistisch. Der moderne Kapitalismus kann sich keinen Faschismus leisten. Er benötigt ein supranationales Staatsgebilde, das seine Interessen bündelt und Grenzen offenhält für die Just-in-time-Produktionsketten und Fachkräfte aus aller Welt. Aber europäische Regierungen und Dummbürger kleben an der Kleinstaaterei und blicken auf Flüchtlinge, als stünden schwerbewaffnete Türken vor Wien.
Die größte Bedrohung liegt im Zusammenwachsen des Fremdenhasses mit der wachsenden Bereitschaft, materielle Interessen durch Scheinbedürfnisse zu ersetzen. Neben der Gewaltanwendung ist der Verzicht die wichtigste Voraussetzung für autoritäre und faschistische Regime. Das Luxusleben der Führungen und Vettern, die Militarisierung, die Beamtenheere und Wachdienste senken den Konsum der Massen, die als Ersatz mehr Vaterland und Feinde bekommen: Flüchtlinge, Juden, Muslime, Finanzen, Globalisierung, Kosmopoliten, EU-Kommission. Ein kleiner Hoffnungsschimmer besteht in der Möglichkeit, dass die Verarmung in Großbritannien so kräftig ausfällt, dass die Leute zu Verstand kommen. Vielleicht kreist aber morgen schon der nächste Stamm um den Opferaltar, auf dem der Fremde liegt.