Erinnerungen an Klaus Behnken

Schule ohne ­Unterricht

Der große Zeitungsmacher Klaus Behnken dachte Form und Inhalt radikal zu Ende – kompromisslos in der Sache, unnachgiebig gegen sich und andere.

»Canossa« stand in dicken Buchstaben auf dem Blatt Papier, das über der Tür zum Produktionsraum in der Lausitzer Straße 10 hing. Aufgehängt hatte es einer von uns Endzwanzigern, die sich damals in den beiden anderen Zimmern der kleinen Redaktion der Jungle World tummelten. Fünf Schreibtische auf 25 Quadratmetern, mindestens ebenso viele Aschenbecher – und nur ein Rechner mit Internetanschluss. Kreuzberg ’99 halt. Rüber nach »Canossa« mussten wir immer dann, wenn Klaus wieder einmal mit einer rot angestrichenen Zeitungsfahne in der Hand wedelte, nicht zu übersehen durch die Glastür. In der anderen Hand die Roth-Händle, der Kupferaschenbecher neben seiner Tastatur randvoll gefüllt mit Kippen.
Klaus wusste, was er wollte – und wie es auszusehen hatte. Kompromisslos im guten wie im schlechten Sinne führte er die junge Jungle World, unnachgiebig in der Textkritik und emphatisch bis in die letzte Kommakorrektur, auch wenn man selbst eigentlich nur zurück an den Schreibtisch wollte – oder endlich nach Hause. Doch ohne Auseinandersetzung ging der Gang nach »Canossa« nie ab. Eine radikale Schule, von der ich erst jetzt, wo Klaus tot ist, wirklich merke, dass es eine war. Ästhetisch, politisch, publizistisch. Eine Schule ohne Unterricht, in einer an­tiautoritären Zeitung zum Austoben. Solange nur die Form stimmte.
Gepasst hat uns Jungredakteuren – die meisten ehemalige Praktikanten der Jungen Welt – das oft nicht, aber mit Spontisprüchen wie »Behnken in die Produktion!« war ihm nicht beizukommen, so viel wie er arbeitete. Und die besseren Argumente hatte er am Ende eben meistens auch auf seiner Seite – gewachsen aus schier unendlichen Seiten Lektüre und einem politischen Erfahrungsschatz, der seinen Erzählungen nach in der »Ohne mich«-Friedensbewegung der jungen Bundesrepublik begann. Weit, weit weg für mich, der ich an der Journalistenschule in München zu Beginn der neunziger Jahre das kleine Einmaleins aus Nachricht, Kommentar und Reportage gelernt hatte, nicht aber, wie man eine Zeitung macht. Und anders als für Klaus war halt irgendwann für mich Schicht im Schacht: Ausgebrannt von Sechstagewochen und Feierabenden nach Mitternacht war mir mein Leben neben der Jungle, wie wir sie damals nannten, wichtiger als noch ein weiteres aufreibendes Nebengefecht am Konferenztisch.
»Was heißt hier eigentlich Chef? Und was Dienst?« lautete der Titel eines der frühen Positionspapiere, die die Selbstausbeutung in der Jungle World in etwas geregeltere Bahnen lenken sollten. Daran, dass Klaus der unbestrittene, wenn auch mit vielen zerstrittene Chef war, änderte sich dadurch nichts – selbst wenn er im Impressum nicht als Chefredakteur, sondern als Chef vom Dienst (CvD) firmierte, eine Funktionsbezeichnung, keine hierarchische. Ein Selbstfindungsorgan für die diversen linken Biotope sollte schon die Junge Welt unter ihm nicht sein, umso weniger die Jungle World nach der Trennung von der DKP- und PDS-orientierten Restredaktion in Treptow. »Propaganda durch Fakten« lautete sein Leitspruch, mit dem er eine ganze Generation Jungredakteure in der Jungle World geprägt hat, die später dort landeten, wo er nie hinwollte: bei Spiegel, Taz, Welt und FAZ.
Die Zeiten dafür waren gut. Nachdem SPD und Grüne 1998 an die Macht gekommen waren, tat sich in der linksliberalen Publizistik ein Vakuum auf: Frankfurter Rundschau und Taz avancierten zu Regierungsblättern, was übrig blieb, war die ein Jahr zuvor zunächst als Streikzeitung entstandene, dann als Wochenblatt erscheinende Jungle World. »Schily con Kanther« über den Rechtsruck in der inneren Sicherheit, »Jürgen macht das Licht aus!« zu Trittins Atom­ausstieg und »Grüne Westerwellen« über die neoliberale Wirtschaftspolitik der Ökopaxe lauteten nur drei der Schlagzeilen, die die Frühphase von Rot-Grün begleiteten. Als wir im Mai 1999 mit der druckfrischen Nummer »Mehr Grün ins Kosovo!« auf dem Kriegsparteitag in Bielefeld auftauchten, riss uns der Innenpolitikchef der Süddeutschen Zeitung als erster die Ausgabe aus der Hand. Monate später dann stand in der SZ zu lesen, was im Inland der Jungle World längst Common Sense war: Die Grünen sind die neuen Liberalen. Avantgarde, wenn auch mit Augenzwinkern, darunter machte Klaus es nicht.
Die Wochen des Kosovo-Kriegs waren die politisch prägendste Phase, die er als CvD verantwortete. Ins Visier von Konkret geriet die Jungle World damals – ein innerlinker Streit, der nicht nur der Auflage guttat. Scharfe Kritik an Joschka Fischers Formel »Nie wieder Auschwitz, nie wieder Krieg« zur Begründung des ersten deutschen Kampfeinsatzes nach 1945 ging bei uns einher mit der Bloßstellung der völkischen Politik von Slobodan Milošević. Klaus deckte diesen Kurs – nicht zuletzt gegen Jürgen Elsässer, der die serbischen Kriegsverbrechen als antideutsche Notwendigkeiten gegen ein »Viertes Reich« feierte. Damit endete auch das taktische Bündnis, das Klaus mit dem »Redakteur für besondere Aufgaben« bei der Jungen Welt immer wieder eingegangen war, um sich gemeinsam gegen den autonomen Flügel im Blatt zu stellen.
Als wir Elsässer aus dem Herausgeberkreis der Jungle World ausschlossen, sah Klaus schon kommen, welchen Weg der Mitgründer eines Tages gehen würde – Jahre bevor dieser als Compact-Chefredakteur und rechtsextremer Aufpeitscher bei Pegida-Aufmärschen manipulativ zusammenbrachte, wogegen die Jungle World vom ersten Tag an anschrieb: Volk und Nation, die ganze rotbraune Soße, von der sich Junge Welt und Teile der Linkspartei bis heute nicht losgesagt haben. In der Ausgabe mit dem Titel »Das Spiel ist aus!« über den Rücktritt Oskar Lafontaines 1999 erschien Elsässers letzter Artikel für diese Zeitung.
Weshalb ich nicht aufhören kann, darüber zu weinen, dass Klaus tot ist, hat mit diesen politischen Kämpfen wenig zu tun. Klaus war der älteste, ich der jüngste Redakteur, als die Jungle World zu Beginn der 2000er ­Jahre im Berliner Bergmannkiez Wurzeln schlug – ein väterlicher Freund und einzigartiger Lehrer, dessen harte Schale immer mehr aufbrach, während sich die Auseinandersetzungen zuspitzten, die letztlich zu seinem unfreiwilligen Abschied aus der Redaktion führten. Auf einer der Partys, die wir in den Redaktionsräumen in der Bergmannstraße feierten, hat er zum ersten Mal in seinem Leben getanzt – er, der seit den frühen Tagen der Apo die Verhältnisse zum Tanzen bringen wollte. Zärtlich war er, zu meinen Kindern und mir, unendlich wissbegierig und geduldig, anders als andere Radikale.
Aber Liebeserklärungen zählten nicht zum Kanon, den er bei der Jungle World lehrte, »lauter Verrisse«, wie Marcel Reich-Ranicki sie schrieb, waren angesagt. »Kritik, Kritik, Kritik« hieß die Leitlinie, wenn wir uns den Grünen oder anderen Übeln der nocht recht frisch in der alten Reichshauptstadt angekommenen Berliner Republik widmeten – selbst wenn es manchmal doch eher Hassliebe gewesen sein mag, die uns in unserer Totalopposition ritt. In meiner zweiten Lehrzeit, als Reporter an den Massengräbern von Srebrenica und Racak auf dem Balkan, lernte ich dann Notizblock und Kugelschreiber kennen als Schutzschild gegen innere Trauer beim Gespräch mit Überlebenden. Analyse statt Emotionalisierung, die gute, alte Behnken-Schule, werde ich nicht los, selbst in diesem Nachruf.
Zu seinem 69. Geburtstag besuchte er uns in Kairo, gemeinsam mit seiner Mitbewohnerin Eva, die ihn nach seiner Krebserkrankung pflegte und betreute. Am Roten Meer lagen wir zusammen am Strand, und er bekam die Gewalt mit, die die Transformationsphase nach der Wahl des Muslimbruders Mohammed Mursi zum Staatsoberhaupt 2012 prägte. Begierig saugte er die Entwicklungen auf, erschöpft vom Smog und den Eindrücken ruhte er nach den Ausflügen zum Tahrirplatz und in die Armenviertel der Stadt auf unserer Dachterrasse und genoss die Sonne. Als ich Mursi für die FAZ interviewte, war es Klaus, der mir am Morgen vor dem Gespräch im Präsidentenpalast die Krawatte band. Form muss sein. Drei Jahre später dann das Wiedersehen im Urban-Krankenhaus. Friedlich schlief er, als ich ihn dort das letzte Mal besuchte. Als er aufwachte, ein Gespräch über die Jungle World – was sonst? Klar werde er bei den Vorbereitungen für die Jubiläumsnummer zum 20. Geburtstag 2017 dabei sein. Noch nicht jetzt im November, aber im Frühjahr. Nicht nur da wirst Du mir schrecklich fehlen, Klaus.