Das Festival »Music Unlimited« in Österreich

Insel der Glückseligen

Das Festival Music Unlimited feiert in diesem Jahr ein Jubiläum: Zum 30. Mal kommen im österreichischen Wels internationale Größen der Improvisationsszene zusammen.

Wels im Herbst: Die Sonne findet ­selten Lücken im nassgrauen, wolkenverhangenen Himmel Oberösterreichs. Die Silhouette der Alpen, die sich im Sommer in der Ferne abzeichnet, bietet dem Blick keinen Fluchtpunkt mehr. Die ehemalige Industriestadt wirkt mit ihren planlos nebeneinandergesetzten Gebäuden aus vergangenen Dekaden in der finsteren Jahreszeit noch trostloser, als sie eh schon ist. Da kann auch die kleine Altstadt nicht mehr viel retten.
Ob deshalb ein Großteil der rund 60 000 Einwohner im vergangenen Herbst einen FPÖ-Mann zum Stadtoberhaupt gekürt hat? Seit einem Jahr regiert der Jurist Andreas Rabl in Wels und sorgt für klare Verhältnisse in dieser vergessenen Arbeiterstadt, der die Transformation zum Hochschulstandort nicht wirklich gelungen ist. Eine seiner Forderungen: Jedes Kindergartenkind müsse je fünf deutschsprachige Gedichte und Lieder vortragen können … Doch wo das blaue Grauen vorherrscht, da wachsen mitunter auch der Widerstand und die Bereitschaft, sich dem Konformismus der Massen entgegen­zustellen. In Wels geschieht dies seit mehr als drei Jahrzehnten. Mitten in der Stadt steht der alte Schlachthof. Das gefühlt größte Jugendzentrum Österreichs befindet sich in Nachbarschaft zu Knast und Wochenmarkt. Auf deutschsprachige Gedichte kann man hier verzichten, zumindest auf ­solche, die Herr Rabl gerne hören möchte.
Das gut 100 Jahre alte Gelände beherbergt die Kulturinitiative Wasch­aecht und das Festival Music Unlimited, das in diesem Jahr zum 30. Mal stattfindet. 450 Gäste pro Tag, die Karten sind längst ausverkauft. Zum ­ersten Mal in der Geschichte bleibt die Abendkasse geschlossen. Selbst als Peter Brötzmann vor sechs Jahren anlässlich seines 70. Geburtstags das Festival kuratierte, gab es vor Ort noch Tickets zu erwerben. Folge eines neuererwachten Widerstandsgeistes oder doch eher des Festivalprogramms, das durchaus als Retrospektive durchgehen könnte?
Eine Mischung aus beidem vermutlich. »Zum einen wollten wir Musikerinnen und Musiker von allen fünf Kontinenten einladen, um die Internationalität, wie sie auch im Festivaltitel steckt, zu betonen«, sagt Florian Walter, der bei Music Unlimited für die Organisation und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. Außerdem war es dem Veranstaltungsteam um Wolfgang Wasserbauer, dem künstlerischen Leiter des Festivals, wichtig, möglichst viele Musiker einzuladen, die Music Unlimited zuvor bereits kuratiert haben.
Kuratoren gibt es seit 1993 – damals machte Schlagzeuger Peter Hollinger den Anfang – in allen ungeraden Jahren. Einen musikalischen Schwerpunkt hatte das Festival allerdings auch schon im Jahr 1991, als Fred Frith zu Gast war. Der englische Multiinstrumentalist wird in diesem Jahr zweimal zu hören sein. Außerdem kommen mit Jon Rose, Zeena Parkins, Yoshihide Otomo, The Ex, Mats Gustafsson, Carla Kihlstedt, Peter Brötzmann, Okkyung Lee und Christof Kurzmann neun ehemalige ­Kuratorinnen und Kuratoren nach Wels. Neben Hollinger fehlen nur Larry Ochs und Ikue Mori.
Andreas Fellinger ist der Herausgeber des gerade mit der österreichischen Szene verbundenen Magazins Freistil und Dauergast in Wels. »Die ersten Unlimited-Ausgaben hatten mir als jugendlichem Musiklieb­haber die Ohren geöffnet. Etwa, um bei nur einem Vokal zu bleiben: Brom! God! Otomo! Oder, perfekt zum Spielort passend, Slawterhaus mit Jon Rose, Dietmar Diesner, Peter Hollinger und dem unvergessenen Johannes Bauer.«
Die freie Improvisation ist nach wie vor ein Kernelement des Festivals, daneben ist alles möglich: Von Kammermusik über Punk und Noise bis Techno, alles unter avantgardistischen Gesichtspunkten. »Natürlich ver­suchen wir, aktuelle Strömungen einzufangen, gleichzeitig sind wir aber auch Fans – das ist nicht immer leicht unter einen Hut zu bekommen«, sagt Walter. Mit dem Amsterdam String Trio tritt in diesem Jahr eine weitere Band auf, die bereits bei der ersten Auflage von Music Unlimited im Jahr 1987 auf der Bühne stand. Auch der Namensgeber des Festivals, Gunter Schneider, ist gemeinsam mit Burkhard Stangl, Angelica Castello, Barbara Romen und Kai Fagaschinski zu hören.
An den drei Tagen gibt es 17 Konzerte und in den Nächten betätigen sich die Festivalmusikerinnen und -musiker als DJs – oft bis zum Morgengrauen. Die Veranstalter des Festivals achten zudem darauf, dass möglichst viele Musikerinnen im Programm sind. »Es gibt bei uns eine Sensibilität dafür, dass es im Kulturbetrieb Geschlechterasymmetrien gibt – auch und gerade in der als links oder progressiv wahrgenommenen zeitgenössischen Szene«, sagt Walter.
In diesem Jahr sind es mehr als 20 Musikerinnen, die sich die Bühne mit ihren männlichen Kollegen teilen. Darunter ist auch Zeena Parkins, die als die Pionierin der elektrischen Harfe gilt. Gemeinsam mit Fred Frith und Tom Cora bildete sie die Skeleton Crew und wurde mit ihrer eigenen Band No Safety bekannt. In diesem Jahr tritt Parkins im Trio mit Carla Kihlstedt (Stimme und Violine) und Magda Mayas (Klavier, Clavinet) auf. Für sie sei es immer ein Problem gewesen, sagt sie, vorrangig als weibliche Komponistin wahrgenommen zu werden – was letztlich damit zusammenhing, dass sie gerade in den Achtzigern auf Festivals oft die einzige Frau unter Männern war. Das habe sich auch durch Festivals wie Music Unlimited geändert.
Auch außerhalb des Festivals tritt Waschaecht für Emanzipation ein. Der Titel der Reihe »take over!«, die im vergangenen Herbst stattfand, geht auf den Song »Women of the World (take over)« von Ivor Cutler zurück, der Ende der Neunziger von Jim O’Rourke neu interpretiert wurde. In Konzerten, Filmvorführungen und Diskussionen sowie einem Workshop wurden Geschlechterungleichheiten im Kulturbereich thematisiert. Cordula Bösze (Querflöte) trat dabei ebenso auf wie das Trio Möström mit Susanna Gartmayer (Bass-Klarinette), Elise Mory (Keyboards) und Tamara Wilhelm (Elektronik) – allesamt regelmäßige Gäste in Wels.
Kulturveranstaltungen mit emanzipatorischem Ansatz gibt es in Österreich mehr als in vielen anderen europäischen Ländern. Festivals wie »Konfrontationen« in Nickelsdorf, »Kaleidophon« in Ulrichsberg, »Artacts« in St. Johann oder eben Music Unlimited bieten Freiräume für eine offene, grenzüberschreitende, aber auch vom Zufall abhängige Szene, die eben auch Teil der verwalteten Welt ist. Ein Dilemma, das sich immer deutlicher bemerkbar macht.
»Musizieren ist für mich kein Prozess, der in geschlossenen Zirkeln stattfindet, er hat auch eine gesellschaftliche Relevanz«, sagt Fred Frith, einer der wichtigsten Musiker der Szene. Mit Gruppen wie Art Bears, Henry Cow oder Skeleton Crew prägte er die Szene in den siebziger und achtziger Jahren. Der Film »Step Across the Border«, der sich seinem künstlerischen Schaffen widmet, entstand nicht zufällig zur gleichen Zeit wie die Idee zu Music Unlimited. Und auch als Mitglied der Initiative Rock in Opposition (Rio) hat Frith gemeinsam mit Chris Cutler und anderen in den siebziger Jahren Vorarbeit geleistet für autonome Strukturen ­jenseits des Musikbusiness, für Vertriebe, Plattenlabel und Festivals, die sich nicht nur formal dem Zugriff der Kulturindustrie entziehen, sondern die auch politisch für Emanzipation und Befreiung stehen wollten.
In diesem Jahr spielt Frith im Quartett mit Lotte Anker, Ken Vandermark (beide Saxophon) und Nate Wooley (Trompete) sowie mit dem Multiinstrumentalisten Christof Kurzmann. Dieser hatte das Festival im vergangenen Jahr kuratiert. Das damalige Motto: »Charhizmatic ­Music«. Abgeleitet wurde der Titel vom Begriff Rhizom, wie er von Gilles Deleuze und Félix Guattari verwendet wurde. Statt mit strengen Hierarchien arbeiteten sie mit komplexen Netzstrukturen, deren Knotenpunkte allesamt miteinander in Verbindung stehen. »Charhizmatic« bezog sich nicht nur auf die Musik, sondern auch auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Oberösterreich.
Der Aufstieg der Rechten, der Ruf nach autoritären Lösungen und Abschottung, die Transformation der Demokratie in Richtung Barbarei bedrohen die Existenz der von Frith erwähnten Freiräume. In Wels schlägt sich das auf die Arbeit von Wasch­aecht nieder: Kürzungen im Kultur­etat haben auch das Festival getroffen, zudem wurde die auf dem Schlachthofgelände stehende Jugendherberge, in der auch Festivalgäste für wenig Geld ihre kurzen Nächte verbracht haben, kurzerhand geschlossen. Zu Verhandlungen mit der Kommune gehe man nun nicht mehr mit einem Ansuchen, sondern mit einem Rechtsgutachten, sagt ­Florian Walter. »Der Bürgermeister bezieht sich auf Verträge und sagt: ›Das muss ich euch geben, dazu bin ich verpflichtet, mehr gibt es nicht.‹« Die Äußerungen der regierenden FPÖ in Richtung der freien Szene stimmten bereits vor der Wahl nicht gerade hoffnungsvoll. »Der Wunsch nach ›weniger Minderheitenkultur‹ wurde offen ausgesprochen«, sagt Walter.
Auch im öffentlichen Raum treten die neuen und alten Rechten immer mutiger auf: Der »freiheitliche« Präsidentschaftskandidat Norbert Hofer hat im September seinen Wahlkampf in Wels eingeläutet – unterstützt von einigen Tausend Gefolgsleuten. Ende Oktober fand zudem im benachbarten Linz das Europäische Forum Linz (EFL) statt. Dort gaben sich Vertreter von FPÖ, »Identitären«, rechtsextremen Burschenschaften und NPD die Klinke in die Hand. Zu den Referenten gehörten Manuel Ochsenreiter ­(Monatszeitschrift Zuerst!), Philip Stein (»Ein Prozent«), der General­sekretär der FPÖ, Herbert Kickl, und Jürgen Elsässer.
Jungkonservative, extreme Rechte und militante Neonazis haben Oberösterreich und Linz, die ehemalige »Führerstadt«, als Kampfzone entdeckt. »Was als Farce begann, mündet derzeit in eine ernsthafte Bedrohung. Als die Haider-FPÖ auf Plakaten Stimmung unter anderem gegen ­Elfriede Jelinek und Claus Peymann machte, kühlten deren – politisch damals noch bedeutungslose – Welser Adepten ihr Mütchen in einer Kampagne gegen die ›total beschränkte Musik (sic!) Unlimited‹«, sagt Andreas Fellinger.
Doch kampflos überlassen möchte man den Feinden der künstlerischen wie politischen Freiheit das Feld nicht. Der Kulturverein Waschaecht war in diesem Zusammenhang immer schon ein Stachel im Fleisch der Rechten. Zuletzt war er auch treibende Kraft bei der Vernetzung der freien Kulturszene der Stadt, mit der man auf die Umbildung der Stadtregierung und die damit verbundenen Probleme reagierte. Die nächsten 30 Jahre Music Unlimited werden mit Sicherheit nicht leichter, doch das ist kein Grund zu kapitulieren.
Music Unlimited findet vom 11. bis 13. November in Wels statt. Das Programm ist zu finden unter www.waschaecht.at/music-unlimited/