Der NSU-Komplex und die neue deutsche Normalität

Normal rechts

Fünf Jahre, nachdem sich die Terrorgruppe »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) selbst enttarnte und kurzzeitig für große mediale Aufregung sorgte, hat sich der Nachrichtenwert rechtsextremer Mordtaten deutlich verringert.

Fünf Jahre ist es her, dass sich mit dem gemeinsamen Tod von Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos sowie dem Versand einer Bekenner-CD durch Beate Zschäpe eine rechtsextreme Terrorzelle der Öffentlichkeit zu erkennen gab, die in den Jahren zuvor mindestens zehn Menschen ermordet hatte. Die deutschen Medien, die angesichts dieser Mord­serie jahrelang mehrheitlich den ins migrantische Milieu weisenden Thesen der Ermittler gefolgt waren und Unworte wie »Döner-Morde« ersonnen hatten, zeigten sich schockiert. Insbesondere als sich bald abzeichnete, dass der NSU im rechtsextremen Milieu wurzelte und dass an nahezu allen wesent­lichen Stellen seines Netzwerks V-Leute des Verfassungsschutzes tätig waren. Eine vollständige Aufarbeitung dieses Komplexes wird es dennoch nie geben, und das liegt nicht nur an geschredderten Akten und dem Tod von Zeugen. Auch die Aussageverweigerung verantwortlicher Verfassungsschützer gegenüber parlamentarischen Untersuchungsausschüssen, deren rechtliche Grundlage bislang nie ernsthaft in Frage gestellt wurde, trägt das ihre dazu bei. Deshalb wird wohl auch nicht zu erfahren sein, wie ausgeprägt die strukturelle Vernetzung des Verfassungsschutzes mit dem Nazimilieu weiterhin ist, ganz gleich wie oft sich die Medien anlässlich neuer Skandale zu der redundanten Frage versteigen, ob denn der Staat »auf dem rechten Auge blind« sei.
Diese Frage, sofern sie nicht rhetorisch gemeint ist, kann nur als Beleg für eine beängstigende Naivität von Journalisten betrachtet werden, die offensichtlich noch immer nicht bereit sind, sich mit dem auseinanderzusetzen, was seit der sogenannten Wiedervereinigung in diesem Land geschehen ist und weiter geschieht. Spätestens mit den ersten »Wir sind ein Volk!«-Rufen der Leipziger Demonstranten im Herbst 1989 begann sich seinerzeit eine völkische Massenbewegung zu konstituieren, aus der heraus in den Folgejahren Flüchtlingsheime angezündet und rassistisch motivierte Morde begangen wurden, ohne dass dies in den von ­nationaler Glückseligkeit berauschten Medien einen konzertierten Aufschrei ausgelöst hätte. Es brauchte zwei regelrechte Pogrome – Hoyerswerda 1991 und Rostock-Lichtenhagen 1992 –, um diese rechte Massenbewegung überhaupt als solche zu thematisieren. Doch so blind die Medien seinerzeit auch auf dem rechten Auge waren, der Staat war es definitiv nicht.
Auf politischer Ebene war man sich schnell darüber klar, dass diese Situation dem zentralen Projekt der Regierung unter Helmut Kohl – das Asylrecht zu stutzen und eine »deutsche Leitkultur« zu installieren – in die Hände spielte, und tat daher bewusst nichts, um der Entwicklung entgegenzuwirken. Im Gegenteil: Die damalige Jugendministerin Angela Merkel finanzierte unter dem Signet »akzeptierende Sozialarbeit« voraussetzungslos Jugendclubs für Nazis, und auch Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz handelten schon in diesen ersten Jahren nach einer Maxime, die der Autor und Filmemacher Alexander Kluge in einem erzählerischen Kurztext von 1991 einen Kriminalrat so zusammenfassen lässt: »Wir wissen gar nicht (…), was diese ›Bewegung‹ praktisch will. Wir dürfen sie nicht durch Benennung aus ihrem authentischen ›Fluss‹ herauslösen (…). Sie kann Balancen in sich haben, die ein Zusammenleben mit ihr später möglich machen.«
Dieses im rechten Sinne konstruktive Zusammenleben ist heutzutage für weite Teile der Zivilgesellschaft akzeptierte Normalität, wie sich unter anderem zeigte, als der NDR vor einem Jahr von der Berufung Xavier Naidoos für den Eurovision Song Contest Abstand nahm und die versammelte deutsche Funk- und Fernsehprominenz daraufhin per ganzseitiger FAZ-Anzeige ihre Solidarität mit dem nach rechts agbewanderten Kollegen erklärte. Zur neuen Normalität gehört auch, dass sich eine Partei wie die AfD, die gemeinsam mit Pegida sowie einem stetig wachsenden Querfrontnetzwerk dafür sorgt, dass soziale Themen von völkischen Diskursen überdeckt werden, allabendlich per Fernsehtalk so erfolgreich den Wählern empfehlen darf, dass sie bei Landtagswahlen inzwischen um die 20 Prozent einfährt.
Man könnte für Angela Merkel, die sich als »Wir schaffen das!«-Kanzlerin nun mit den Folgen jener Politik konfrontiert sieht, die sie einst als »Kohls Mädchen« beförderte, das Bild von Goethes Zauberlehrling bemühen. Aber das wäre so falsch wie die Vorstellung, der Staat sei auf dem rechten Auge blind. Merkel war stets eine überzeugte Wirtschaftsliberale und auch ihre Parole »Wir schaffen das!« folgte vorrangig wirtschaftlichen Erwägungen. Brennende Flüchtlingsheime kann sie daher ebenso als Kollateralschaden verschmerzen wie die Pöbeleien beim Dresdner Einheitsgedöns oder Reichsbürger und andere Rechtsex­treme im Polizeiapparat, die letztlich nur der neuen gesellschaftlichen Normalität entsprechen. Solange das identitäre Milieu zuverlässig soziale Ängste in völkischen Wahn transformiert, ist Merkels politisches Kernanliegen nicht gefährdet. Wer diese einfache Tatsache nicht wahrhaben will, der sollte von rechtsseitiger Blindheit lieber schweigen.
Aber genau in der Verweigerung dieser Erkenntnis liegt das Problem: Das neue völkische Wir-Gefühl hat längst alle Ebenen der Gesellschaft erreicht, weshalb auch für Lokalpolitiker und Journalisten nicht sein kann, was nicht sein darf. Kaum eine rechte Demons­tration oder Terrortat, nach der die jeweilige örtliche Zivilgesellschaft nicht eilig um Relativierung bemüht wäre. »Das waren Nazis aus dem Westen, die kamen gar nicht von hier«, behaupten viele in Hoyerswerda mit Blick auf das Pogrom von 1991 noch heutzutage. Gleiches war in Freital, Heidenau und Bautzen zu hören. Gerne werden auch angebliche Provokationen durch Flüchtlinge oder Linke zum Auslöser erklärt, oder es wird beschwichtigend auf das jugendliche Alter der Täter verwiesen, auf Missverständnisse gar. Und »das Volk«, gleich ob als nationales oder regionales Wir, hat immer recht, ist grundsätzlich erst mal gut und will darin von seinen »Volksvertretern« gefälligst bestätigt werden. So kommt es, dass auch ein Politiker wie Bodo Ramelow (»Die Linke«) sich in seiner Eigenschaft als »Landesvater« und damit zeitweiliger Häuptling der thüringischen Subethnie genötigt sieht, in der Diskussion über die möglichen »Spring doch!«-Rufe in Schmölln, wo sich kürzlich ein 17jähriger Flüchtling aus dem fünften Stock seiner Unterkunft stürzte und starb, Partei nicht nur für die Schmöllner zu ergreifen. Er kritisierte eine »reflex­hafte Vorverurteilung Ostdeutschlands« und legte nahe, die Anwohner hätten nicht »Spring doch!« sondern »Sprungtuch« gerufen.
Doch nicht nur im Rückblick erweist sich die Breitbandtoleranz der lokalen Politiker und Medienvertreter gegenüber den »eigenen Leuten« als wenig hilfreich. Ein besonders bizarres Beispiel für fehlende Voraussicht lieferte Ben Schwarz, SPD-Bürgermeister von Georgensgmünd in Bayern, als er anlässlich der in einem Fall tödlichen Schüsse des Reichsbürgers Wolfgang P. zu Protokoll gab: »Wir haben ihn eben für ein bisschen anders gehalten, aber nicht in der Form, dass man reagieren muss.« Eine bemerkenswerte Aussage, bedenkt man, dass P. zuvor seinen Personalausweis abgegeben und seinen Wohnsitz abgemeldet hatte, dass er zudem einen Jagdschein ohne da­zugehörige Pacht und 31 Schusswaffen besaß. »Anlass zur Besorgnis gab es aber nicht«, meint Schwarz, denn: »Er hatte wohl ein normales soziales Umfeld« – beziehungsweise das, was weite Teile der Gesellschaft inzwischen eben als normales Umfeld akzeptiert. Wie anders wäre es zu erklären, dass die Nachricht von um sich schießenden Reichsbürger fünf Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU so rasant vom Halloween-Thema »Horrorclowns« aus den Schlagzeilen verdrängt wurde? Und dass Xavier Naidoo zur gleichen Zeit seine neue Deutschland-Tour beginnen konnte, ohne dass irgendein Journalist auf die Idee gekommen wäre, Tim Bendzko, Jan Delay, Jan Josef Liefers, Anna Loos, Heinz Rudolf Kunze, Atze Schröder oder Til Schweiger zu fragen, ob sie nach den Schüssen von Georgensgmünd immer noch zu ihrer Solidaritätsadresse für ihn stehen.
Die Selbstenttarnung des NSU vor fünf Jahren und der Prozess gegen Beate Zschäpe hätten die Chance bieten können, dem völkischen Rollback seit 1990 Einhalt zu gebieten. Nicht durch die Politiker, die von ihm profitieren, versteht sich, nicht mit Hilfe des in den Komplex verstrickten Verfassungsschutzes oder des von Rechtsextremen durchsetzten Polizeiapparats. Nein, es wäre die Aufgabe von Medien und Zivilgesellschaft gewesen, die Aufarbeitung der NSU-Morde offensiv dazu zu nutzen, dem propagandistischen Siegeszug des identitären Milieus entgegenzuwirken. Das Gegenteil ist eingetreten: Um sich schießende Rechtsextreme sind zurzeit augenscheinlich ein kaum noch skandalisierbarer Teil der neuen deutschen Normalität.