Radikale Kritik im digitalen Kapitalismus

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Bei dieser Kritik sollte es nicht um die Übernahme neoliberaler Techniken gehen, etwa der Erlangung der gesellschaftlichen Hegemonie durch die Schaffung von Think Tanks, wie die Theorie des Akzelarationismus suggeriert. Der Aufbau von linken Think Tanks und einer Allianz der Wissensschaffenden, wie einige Postoperaistinnen fordern, können keine Bewegungen herbeizaubern. Man darf sich nicht von der falschen Dichotomie »gute Technik« vs. »böse Technik« beirren lassen. Ein Zurückfallen in ein vortechnologisches Zeitalter erscheint uns nicht als erstrebenswerte Alternative. Wir sprechen vom digitalen Kapitalismus, weil wir der Auffassung sind, dass die Digitalisierung die grundlegenden Bedingungen der Kapitalakkumulation auf eine neue technologische Basis stellt. Digitalisierung lässt sich nicht bloß als die Diskretisierung von Information mittels mikroelektronischer Technik und deren standardisierter binärer Struktur verstehen, sondern als Aktualisierung einer allgemeinen Logik, die dem Kapitalismus innewohnt. Historisch setzten die Vorbedingungen der Digitalisierung bereits mit der Geburt des Kapitalismus ein, mit der Ausbreitung der Warenform, dem Geld und der mathematisierten Naturwissenschaft. Die Digi­talisierung lässt sich dann als spezifische Nutzbarmachung dieser vorangeschrittenen Quantifizierung der Welt definieren. Technik als gesellschaftliches Verhältnis bestand schon vor der technologischen Ära. Algorithmen, Big Data und bald die künstliche Intelligenz erweitern das konstante Kapital, ihre Funktion erschöpft sich aber nicht darin: Es entsteht ein Überschuss, also eine Wissens­produktion, die die Möglichkeit der Erweiterung der Produktivität des Kapitals darstellt. Es ist also nicht so, dass der Kapitalismus nur parasitär auf den menschlichen Fähigkeiten aufsitzt, sondern dass sich beide wechselseitig hervorbringen – schließlich wäre die Sammlung des Wissens ohne die neuen Technologien gar nicht erfolgt. Die Digitalisierung betrifft fortdauernd jede Sphäre des kapitalistischen Akkumulationsmodells. Es ist ein Effekt der kapitalistischen Vergesellschaftung, dass Gesellschaft und Natur unvereinbar gegenüberstehen.

Einer der großen Mythen, die es anzugreifen gilt, ist, dass die Gestaltung der Zukunft dazu verurteilt ist, in den Labs des Silicon Valley stattzufinden.

Der Kapitalismus bleibt darauf angewiesen, die produktive Trennung von Natur und Gesellschaft immer wieder zu erneuern und neue Aneignungsregime zu etablieren. Im Bereich der Arbeit wird der Prozess der Automatisierung weiter zugespitzt, die Produktion wird umgelagert, die Trennung von Reproduktion und Produktion immer wieder aufs Neue nutzbar gemacht. Die Innovationsoffensive entfesselt die Entwicklung von Produktivkräften und forciert die Deregulierung der Arbeit. Neue Gesellschaftsentwürfe sollen mittels Big Data und Share Economy auf der Basis eines universellen Grundeinkommens Realität werden: Die Zukunft wird gerade dort errichtet, wo man für sein Geld nicht ein Auto bekommt, sondern nur Fahrten bei Uber. Digitalisierung ist dennoch keine Revolution, die neuen Arbeitsverhältnisse sind lediglich eine Rekombination aus Taylorismus, Fordismus und Postfordismus. Die Auswirkungen dieser Transformationen für die reale Arbeitswelt sind gravierend, und Gewerkschaften finde kaum angemessene Antworte auf die vielen Fragen, die diese Veränderungen aufwerfen. Wenn Logistik und Infrastruktur, Extraktion und Reproduktion der Ware Arbeitskraft ins Zentrum der kapitalistischen Produktion rucken, werden sie zu optimalen Angriffszielen, die, wie Basisgewerkschaften immer betonen, sich bereits mit dem Einsatz weniger Mittel effektiv stören lassen. Indem wir die Klassenkomposition des digitalen Kapitalismus untersuchen und darin agieren, lassen sich neue Verbindungen herstellen. Das Verschwinden der fordistisch organisierten Lohnarbeit in ihrer bisherigen Form bringt Verteilungskämpfe mit sich, wie in den vergangenen Jahren etwa die Auseinandersetzungen der Taxifahrerinnen mit Uber zeigten, ebenso wie die Angestellten des Lieferservice Deliveroo, die ihre prekären Arbeitsverhältnisse hinterfragen, und Careworkerinnen, die gegen den Umbau des Gesundheitssystems streiken.

Es gilt außerdem, den Fokus auf den Westen zu hinterfragen – Kämpfe gegen die Ausbeutung von Ressourcen oder inhumane Produktionsbedingungen finden auf dem ganzen Globus bereits seit langem statt. Auch die Kritik der Disziplinierung und Messung des Körpers – Stichwort Selbstoptimierung – sowie neuer Formen von Kontrolle und Spaltung könnten eine größere Rolle einnehmen. Vielleicht ist es an der Zeit, Phantasie einzusetzen. Dass die Katastrophe in Form der Permanenz von Krisen (Maurizio Lazzarato) bereits eingetreten ist, ist, bei aller Notwendigkeit im Hier und Jetzt zu handeln, auch ein Grund, sich ihrer Entscheidungslogik zu entziehen und auf eine andere Zukunft zu setzen. Das Unvorstellbare, die nichtkapitalistische Vergesellschaftung, geht über die Negation der Verhältnisse hinaus und ist damit doch notwendige Ideologiekritik. Diese andere Vergesellschaftung könnte etwa von den Diskussionen über Commons und Selbstorganisierung zehren. Konkret: Wie sähe etwa ein soziales Zentrum auf der Höhe der Zeit aus, abgelöst von den starren Konzepten autonomer Sozialisierung der achtziger Jahre? Wie wäre Selbstorganisierung abseits der Nischenökonomie zu denken? Es geht dabei nicht darum, einen Flachbildschirm beim Vokü-Abend einzuführen, sondern das Potential der Soziabilität des Internet auf die Straße zu holen und die Diskussion über die öffentliche Verwaltung von Ressourcen zu befeuern. Einer der großen Mythen, die es anzugreifen gilt, ist, dass die Gestaltung der Zukunft dazu verurteilt ist, in den Labs des Silicon Valley stattzufinden. Es liegt an uns, ob wir uns lediglich am Feindbild der »bösen« Apple-Google-Facebook-Connection abarbeiten oder den individualisierten Konsum digitaler Waren hin zu einer lebensfreundlichen und kollektiven Techniknutzung verändern wollen.

 

Unter dem Titel »reprodu­ce(future). Digitaler Kapitalismus und kommunistische Wette« lädt das »Ums Ganze!«-Bündnis vom 24. bis zum 26. November nach Hamburg, um über die Bedeutung der Technik im Kapitalismus und ihre Funktion für eine befreite Gesellschaft zu diskutieren. Unter den Referenten sind Geert Lovink, Sandro Mezzadra, Kendra Briken und die türkische Gruppe Capulcu. Informationen und Programm unter: techno.umsganze.org. Die Konferenz findet an der Universität Hamburg statt, die Teilnahme ist kostenlos.