Der Film »Einfach das Ende der Welt«

Familien sind verkorkst

Mit »Einfach das Ende der Welt« bleibt der frankokanadische Regisseur Xavier Dolan seinem Gefühlsextremismus treu.

»Home Is Where It Hurts«, singt die französische Musikerin Camille zu Beginn von Xavier Dolans jüngstem Film: Zu Hause ist, wo es schmerzt. Tatsächlich ist die Familie, von der der junge frankokanadische Regisseur in »Einfach das Ende der Welt« erzählt, kaum zu ertragen. Doch sie ist nun mal die einzige, die der Protagonist Louis hat.
Dolan hat seine Geschichte eng an die Biographie von Jean-Luc Lagarce angelehnt. Der in Frankreich verehrte Dramatiker, dessen Werke zu den meistgespielten des Landes gehören, starb 1995 im Alter von nur 38 Jahren an Aids. Lagarce musste seiner Familie von der tödlichen Krankheit erzählen – und schrieb ein Stück darüber: »Einfach das Ende der Welt«. Wird Lagarces alter ego Louis Knipper auch in Dolans Film ein intimes Familientreffen zum Stoff eines Stücks machen? Wie weit darf die Inszenierung eines solchen Familiendramas den realen Ereignissen entsprechen?
In Cannes gewann der sechste Film des gerade 27jährigen Regisseurs den Großen Preis der Jury. Als Dolan das Skript fünf Jahre zuvor zum ersten Mal las, konnte er mit dem Stoff wenig anfangen. Lag es an seinem Alter? Wollte er sich zunächst größeres Ansehen erarbeiten, um hochkarätige Schauspieler wie Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard (»Inception«), Léa Seydoux (»Blau ist eine warme Farbe«) und Vincent Cassel (»Mein ein, mein alles«) für die Verfilmung zu gewinnen? Nathalie Baye hingegen spielte bereits in Dolans überwältigendem Liebesfilm »Laurence Anyways« (2012) mit und verkörperte auf großartige Weise die Mutter eines transsexuellen Mannes.
Man ist geneigt, Gemeinsamkeiten zwischen dem schwulen Dramatiker Louis (Gaspard Ulliel) und dem Autorenfilmer und Schauspieler Dolan zu erkennen. Starke, exzentrische Mutterfiguren ziehen sich seit »I Killed My Mother«, Dolans Spielfilmdebüt von 2009, durch das Werk des hyperaktiven Workaholics, der ohne Vater aufwuchs.
»Einfach das Ende der Welt« ist nach »Sag nicht, wer Du bist« (2013) die zweite Adaption eines Theaterstücks. Während sich Louis auf den Weg nach Hause begibt, in die White-Trash-Gegend, in der er geboren wurde, heißt es lakonisch aus dem Off: »Einige ziehen von zu Hause weg, andere bleiben, wo sie geboren wurden.« Doch ganz so einfach sind die Dinge nicht. Der 34jährige Louis hat seine Familie vor zwölf Jahre zuletzt gesehen. Während der erfolgreiche Dramatiker melancholisch die Stationen seiner Reise kommentiert, herrscht im Hause Knipper helle Aufregung. Mutter Martine (Nathalie Baye) föhnt fahrig ihre Fingernägel, der Lack trocknet nicht schnell genug. Sie hat sich grell geschminkt für ihren treulosen Liebling, in der herzigen Annahme, ihrem homosexuellen Sohn so besser zu gefallen. Auch seine kleine dauerbekiffte Schwester Suzanne (Léa Seydoux) hat sich für ihren Bruder hübsch gemacht. Für sie ist Louis geradezu ein Familienmythos, sie kennt ihn nur als Absender von Postkarten und aus Zeitungsausschnitten. Sein Bruder Antoine (Vincent Cassel) dagegen, ein dauerfrustrierter Choleriker vor dem Herrn, sieht der Rückkehr des verlorenen Sohnes äußerst skeptisch entgegen. Seine überaus sanfte Ehefrau Catherine (Marion Cotillard), die Louis ebenfalls noch nicht persönlich kennengelernt hat, da er nicht einmal zu ihrer Hochzeit den Weg nach Hause fand, ist neugierig auf ihren Schwager – nach dem sie und Antoine ihren Sohn benannt haben.
Der Vater der Geschwister ist schon lange verstorben. Wäre es nach der pragmatischen Mutter gegangen, hätte Louis seinen Platz in der Familienhierachie eingenommen. Die Rollenverteilung ist bereits klar, bevor Louis den Raum betreten hat. Niemand hier ahnt, weshalb er sich zu diesem Besuch durchgerungen hat: Er will ihnen persönlich mitteilen, dass er bald sterben wird. Kaum hält sein Taxi vor der Tür, beginnt ein klaustrophobisches Kammerspiel, gekonnt gefilmt von André Turpin, mit dem Dolan zum wiederholten Mal zusammengearbeitet hat. Der Kameramann liefert bedrückende Close-ups und sorgt dafür, dass die Distanz zwischen den Figuren, ihre Unfähigkeit, miteinander zu kommunizieren, in Bilder gefasst wird.
Weder haben die Beteiligten gelernt, ihre Gefühle in Worte zu fassen und auszusprechen, noch lassen sie einander ausreden oder akzeptieren sich gegenseitig. Es besteht kein Zweifel, wie schwierig es für den ebenso feinsinnigen wie feigen Louis wird, sich in diesem Hexenkessel unausgesprochener Probleme und Befindlichkeiten mitzuteilen. Wortgefechte folgen, bestimmt von Wut, Angst und Ohnmacht; einzig der zaghaften Schwägerin fällt Louis trauriger Blick auf. Sie wird ihn später, wenn sie allein sind, fragen: »Wie lange noch?« Eine Frage, die Louis kurzzeitig verstört, weil er sie auf die Hiobsbotschaft bezieht, die er überbringen will. »Wie lange noch was?« antwortet er.
Dem Mann, der eigentlich virtuos mit Worten umzugehen weiß, versagt die Sprache angesichts der an ihn herangetragenen Vorwürfe und Sehnsüchte. In der Starre dieser Familie scheint sein frühzeitiger Tod weder denk- noch thematisierbar. Womöglich ahnen seine zeternden Verwandten, dass Louis ihnen etwas Wichtiges sagen will. Und vielleicht wollen sie von der niederschmetternden Wahrheit nichts hören. Stattdessen hält man sich mit Anschuldigungen auf. Seine kleine Schwester wirft Louis indirekt vor, dass er nichts mit seiner Familie zu tun haben wolle. Sein Bruder Antoine wird in seiner rauen Art deutlicher, ihn nervt die verschwurbelte Art seines Bruders – letztlich interessiert der ach so feinsinnige Louis sich nicht einmal dafür, womit Antoine eigentlich sein Geld verdient. Auch die harmoniesüchtige Mutter hat es hinter der Fassade zutiefst verletzt, dass Louis sich derart von der Familie distanziert und nach seinem Umzug nicht einmal seine neue Adresse verraten hat. Die Post der Familie holt er lieber in seiner alten Wohnung ab.
Aller abstoßenden Charakterzüge und Streitereien zum Trotz gelingt es dem Humanisten Dolan erneut, Außenseiterfiguren so zu inszenieren, dass man ein rückhaltloses Verständnis für ihre Verschrobenheiten aufbringt. Nur selten ergeben sich Momente der Zusammengehörigkeit, in denen sich so etwas wie Nähe zwischen den Protagonisten einstellt. So etwa in einer anrührenden Szene in der Küche, dem Herzen jedes Hauses: Zu einem Eurotrash-Song der moldawischen Boygroup O-Zone führen Mutter und Tochter eine Übung aus ihrem gemeinsamen Aerobic-Kurs vor. Es ist wie in Dolans »Mommy« (2014), einem hinreißenden Mutter-Sohn-Drama, in dem plötzlich und ebenfalls in der Küche zu einem Song von Celine Dion getanzt wird.
Solche von Pophits unterlegten Szenen gehören – neben einer gewissen Dialoglastigkeit und der häufigen Verwendung von Großaufnahmen und Zeitlupen – zu Dolans Markenzeichen. Seine Kritiker mögen ihn für die spektakelaffine Schwelgerei hassen, die seine Filme durchzieht. Der gekonnten Inszenierung überbordender Gefühle kann man sich trotzdem schwer entziehen. Und so hält einen dieses bis auf einige Rückblenden geradezu erstickende, auf leuchtend analogem Filmmaterial gedrehte Lehrstück noch im Kinosessel, wenn der Vorhang längst gefallen ist.

»Einfach das Ende der Welt« (CA/F). Regie: Xavier Dolan. Darsteller: Gaspard Ulliel, Marion Cotillard, Léa Seydoux. Filmstart: 29. Dezember