Harel Chorev Halewa über die Nutzung sozialer Medien in der palästinensischen Gesellschaft, antiisraelische Propaganda und Gewalt

»Die Situation ist komplexer als während der zweiten Intifada«

Dr. Harel Chorev Halewa ist Historiker und Vorsitzender des »Middle Eastern Network Analysis Desk« des »Moshe Dayan Center for Middle Eastern Studies« an der Universität Tel Aviv. Er erforscht den Einfluss informeller Netzwerke in der palästinensischen Gesellschaft. Sein erstes Buch »Networks of Power in Palestine: Family, Society and Politics since the Nineteenth Century« wird in diesem Jahr erscheinen.
Interview Von

Im Februar 2014, angesichts der zunehmenden Attacken auf Israelis, haben Sie die Frage, ob eine dritte Intifada aufkomme, verneint. Wie beantworten Sie diese Frage jetzt, knapp drei Jahre später, nach einem weiteren Gaza-Krieg und vielen Messer- und Fahrzeugattacken, wie etwa dem Anschlag in Jerusalem Anfang Januar?

Allgemein spricht alles gegen eine dritte, populäre Intifada, auch wenn die Situation sich immer ändern kann. Fälschlicherweise, und ich verstehe warum, benutzen vor allem Journalisten diesen Begriff für die Phase der Gewalt, die wir zwischen Oktober 2015 und September 2016 erleben mussten. Meiner Meinung nach war es nie eine Intifada, da die grundlegenden historischen Gegebenheiten hier nicht zutreffen: Statt eines gesellschaftlichen Aufstands waren es vor allem lone wolf attacks. In der palästinensischen Gesellschaft ist die Abwehr gegen diese Attacken groß, weil sie vor allem als Suizid und nicht als gewinnbringende Strategie gesehen werden. Hinzu kommt der diplomatische Krieg gegen Israel, den Mahmoud Abbas im UN-Sicherheitsrat und sicher bald auch bei der Pariser Tagung forciert.

Damals beschrieben Sie die Entwicklung mit dem Begriff einer »ichbezogenen Generation«, der die »hedonistische« palästinensische Jugend und deren Desinteresse am nationalen Kampf beschreibt. Diese könne lediglich durch tiefgreifende Ereignisse mobilisiert werden. War der Krieg 2014 ein solcher Katalysator?

Der Krieg von 2014 ist lange vergessen und kann kein Katalysator mehr sein. Falls es einen solchen gibt, dann wären es sozioökonomische Faktoren, die heute das wichtigste Problem der Palästinenser sind, in Gaza noch mehr als in der Westbank. Und das ist ein weltweites Phänomen, auch wenn die Palästinenser mit der Besatzung, dem Druck und der Frustration mit den palästinensischen Bewegungen ihre Besonderheiten haben. Im Hinblick auf ökonomische Hoffnungslosigkeit und das fehlende Vertrauen in die Politik gibt es Ähnlichkeiten zur US-amerikanischen oder europäischen Jugend. Hinzu kommt der Effekt von Social-Media-Netzwerken. Diese geben Menschen weltweit die Möglichkeit, alternative Sphären, »Alter-Ego-Zonen«, aufzubauen. Für die Palästinenser ist es sehr wichtig, sich online Communities aufzubauen, die sie in der realen Welt nicht finden. Dabei sind sie individualistisch und kollektiv zugleich: Sie sind unzufrieden mit den politischen Bewegungen und den Familien, die eine große Rolle im Nahen Osten und in der palästinensischen Gesellschaft spielen. Junge Menschen durchbrechen diese sozialen, geschlechtlichen oder regionalen Grenzen online. Eine neue Welle der Gewalt kann trotzdem immer wieder aufkommen, vor allem durch Messerattacken, weniger durch breite Proteste. Eines der Probleme für die Palästinenser ist, dass die Jugend, die eine dritte Intifada tragen müsste, zu individualistisch und nicht gewillt ist, eine solche Aufgabe für die Gemeinschaft zu übernehmen. Die lone wolf attacks spiegeln diesen Prozess wider, denn sie werden lediglich vom Angreifer selbst geplant und sind die individuellste Form eines Anschlags. Trotzdem dienen sie dem Kollektiv. Das beschreibt die Komplexität dieser Generation sehr stark.

Wie werden soziale Medien in der palästinensischen Gesellschaft genutzt und wo liegt der Unterschied zum Nutzungsverhalten in Israel?

Die Zahlen hierzu sind sehr interessant. Der überwiegende Teil, etwa 96 Prozent aller Palästinenser, nutzt Social Media als Nachrichtenquelle, rund 94 Prozent für Freundschaften. In Israel nutzen sie hingegen nur 15 Prozent für Nachrichten, die meisten beziehen diese aus dem Fernsehen, Zeitungen oder Online-Medien. Dies ist ein Ausdruck der antiinstitutionellen Einstellung der palästinensischen Jugend, die ihre Informationen lieber aus informellen Quellen bezieht und nicht vom »Establishment« – ob das nun politische Bewegungen oder Institutionen sind. Hinter solchen vermeintlich informellen Seiten stehen häufig Interessengruppen wie die Hamas. Diese machen ihre Verbindungen jedoch nicht transparent. Das ist eine sehr clevere Strategie, um die Jugend zu manipulieren. Die Hamas ist führend in dieser Szene. Sie nutzt diese Plattformen als Brücke für die operative Kluft, beispielsweise in der Westbank. Dort kann sie nicht frei agieren, da sie von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und Israel verfolgt würde. Also braucht sie andere Plattformen, um Einfluss auf die Gesellschaft und den Alltag zu nehmen, und hier kommen soziale Medien ins Spiel.

Vor kurzem hat die Hamas ein zynisches Video veröffentlicht, das die Geburtstagsfeier des israelischen Soldaten Oron Shaul vorspielt. Die Hamas hält dessen Leichnam seit 2014 in Gaza. Wenige Tage später veröffentlichte eine Zeitung der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) einen Cartoon, in dem ein israelischer Soldat den Weihnachtsmann erschießt. Welche Strategien sehen Sie hinter diesen Veröffentlichungen?

Das zweite ist eines der vielen Beispiele, wie Israel durch die Hamas und die PA auf verschiedenste Weise dämonisiert wird. Die Strategie ist nicht neu. Es ist ein offensichtliches Beispiel für die psychologische Kriegsführung gegen Israel. Das erste zielt darauf ab, die Familie von Oron Shaul zu verletzen, ihre Trauer zu verstärken. Zudem soll sie dazu gebracht werden, Druck auf die israelische Regierung auszuüben, seinen Leichnam zurück nach Israel zu bringen. Die Hamas arbeitet auch anderweitig daran. So gibt es viele verschiedene sogenannte »News« von Hamas-Medien, die behaupten, dass Verhandlungen über einen Gefangenenaustausch mit Israel in einem fortgeschrittenen Stadium seien. Diese Taktik kennen wir seit langer Zeit und auch in diesem Fall hat sich herausgestellt, dass die Behauptung falsch war.

Welches Bild soll dadurch der palästinensischen Gesellschaft vermittelt werden? »Hamas kümmert sich um euch«?

Ja, außerdem soll gezeigt werden: »Hamas führt Jihad« und arbeitet daran, Gefangene und die Leichen von Hamas-Kämpfern und Terroristen zurückzubringen. Auch wenn der »Islamische Staat« (IS) seine Snuff-Filme veröffentlicht, sollen sie nicht nur schockieren, sondern den Anhängern zeigen, dass der Jihad am Laufen gehalten wird. Die Hamas macht nichts anderes. Zudem ist der Gaza-Streifen in einem schrecklichen Zustand, sozial und ökonomisch, was die Hamas zu verschleiern versucht. In Aktionen wie #shukran_hamas (Danke, Hamas) wird Gaza so dargestellt, dass man denken könnte, es handele sich um Luxemburg. Für diese Lüge wurden sie von Fatah-Anhängern angegriffen. Die höchste Priorität der Hamas ist, Zement und andere Baumaterialien beispielsweise für den Bau von Tunneln zu verwenden. Auch zwei Jahre nach dem letzten Krieg, trotz aller Versprechungen der Hamas, sieht man viele Menschen in Zelten neben den Ruinen ihrer Häuser schlafen. Auch das ist Teil dieser neuen Art der Kriegsführung, die von Palästinensern nicht nur gegen Israel, sondern ebenso gegen ihre eigene Bevölkerung angewendet wird.

Wie rekrutieren militante palästinensische Gruppen über soziale Medien Menschen für Ausschreitungen in der Westbank oder die lone wolf attacks gegen Israelis?

Wenn wir über die lone wolf attacks sprechen, handelt es sich weniger um Rekrutierung. Im Internet existiert eine Subkultur, die »einsame Wölfe« unterstützt und nicht unbedingt mit den beiden großen politischen Gruppen verknüpft ist. Hier wird auf grundlegende Prinzipien gesetzt, wie den palästinensischen Nationalismus und eine Opposition zur israelischen Besatzung. Darüber hinaus findet sich keine komplexe politische Ideologie, wie es bei der Hamas üblich ist und früher bei den marxistisch-leninistischen Gruppen üblich war. Die Jugend lehnt das heute ab und kann sich vor allem mit den Grundlagen identifizieren. Diese Online-Subkulturen bilden diese sehr flachen Konzepte des Kampfes sehr gut ab, während diese Kultur zunehmend auch in der Offline-Öffentlichkeit sichtbar wird. So gibt es beispielsweise einen populären Song namens »The Lovers of Stabbing«.

Die beiden großen Bewegungen, Hamas und Fatah, spielen also keine tragende Rolle bei den Anschlägen der »einsamen Wölfe«?

Die rennen dem Phänomen hinterher, die Hamas vor allem. Zwar möchte ich die Fatah sicherlich nicht rehabilitieren, jedoch hat sie ein starkes Interesse, gegen die Gewalt vorzugehen, die vor allem der Hamas nützt. Die Fatah weiß, dass eine Destabilisierung der Westbank nicht nur Israel, sondern vor allem der PA schadet. Trotzdem kann sie sich nicht gegen die Anschläge stellen, da ihr aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit Israel der Vorwurf der Kollaboration gemacht wird. Die Hamas hingegen versucht, die Anschläge zu unterstützen, sie für sich zu beanspruchen und zu zeigen, dass sie fester Teil dieses »Widerstands« ist. Wir wissen aus Statistiken jedoch, dass das nicht stimmt: 60 Prozent aller Attentäter zwischen Oktober 2015 und Dezember 2016 waren keine Parteimitglieder, lediglich 23 Prozent hatten Parteiverbindungen. Zu den restlichen gab es keine genauen Angaben. Die Situation heute ist deutlich komplexer als noch während der zweiten Intifada. Damals waren die politischen Bewegungen bestimmend.

Wie sieht es konkret aus, wenn die Hamas versucht, über soziale Medien zu Aufständen zu mobilisieren?

Die Hamas hat Dutzende von Plattformen in den sozialen Netzwerken. Eine davon ist beispielsweise eine Applikation namens Quds TV, die Informationen pusht, wie viele Nachrichten-Apps das heutzutage machen. Doch dabei handelt es sich nicht nur um Nachrichten, die Hamas verbreitet darüber auch organisatorische Informationen. Wenn beispielsweise gesagt wird, dass an einem bestimmten Ort eine Demonstration stattfindet, bei der Molotow-Cocktails auf die israelische Armee geworfen werden, dann ist die Mitteilung dahinter deutlich: Falls du dich dieser Demonstration anschließt, dann vergiss die Molotow-Cocktails nicht. Und die Beispiele sind vielseitig: Es gibt etwa eine Falschmeldung, die exakt identisch immer wieder verwendet wird. Darin wird behauptet, dass Siedler die al-Aqsa-Moschee angreifen. Ich war einmal selbst direkt an der al-Aqsa-Moschee mit einem palästinensischen Kollegen, als diese Mitteilung kam, doch dort war alles vollkommen ruhig. Die Hamas nutzt solche Apps also wie jemand, der vor einem Fass steht, das mit Benzin gefüllt ist, und dieses mit brennenden Streichhölzern bewirft. Die meisten werden das Feuer nicht entfachen, aber eines davon schon und der gewünschte Effekt ist da. Diese Entwicklungen sind ein gutes Beispiel für den derzeit viel verwendeten Begriff post-truth: Niemand interessiert sich dafür, ob eine Nachricht wahr ist, wenn sie das gewünschte Ziel erreicht.

Gibt es eine Aussicht auf eine Graswurzelbewegung, die mit Hilfe sozialer Medien palästinensische Führungsgruppen wie Hamas und Fatah wirklich angreifen könnte?

Während die palästinensische Jugend heute vor allem gegen Institutionen eingestellt ist, ist die Macht zweifelsohne klar in der Hand von Hamas und Fatah. Hier ist vor allem die militärische Macht zentral. Ich sehe also keinerlei echte Chance, dass es eine Art Revolution oder ähnliches gibt.

Sind die vielen informellen Netzwerke – familiäre, politische und ökonomische –, die vor allem in der Hamas zusammenlaufen, ein Grund dafür?

Im Gaza-Streifen auf jeden Fall. In der Westbank sind die Chancen höher, da die Hamas durchweg versucht, zu destabilisieren, und die PA in der südlichen Westbank um Hebron immer mehr an Unterstützung einbüßt. Trotzdem ist die PA derzeit sehr stark, was ihre militärische Kraft und ihren Sicherheitsapparat angeht. Die Demonstrationen, Aufstände und Anschläge haben sie jedoch nicht in der Hand, deshalb haben sie große Angst. All diese Formen des Gewaltausbruchs, die auf Social-Media-Netzwerken basieren, sind führungslos. Sie können also in kurzer Zeit enorm stark werden, flauen jedoch meist schnell ab. Selbst wenn man sich die Entwicklungen der lone wolf attacks ansieht, fällt auf, dass diese im Oktober 2015 ihren Höhepunkt hatten, im November schon stark abnahmen und seitdem immer seltener werden. Wären sie von den Bewegungen organisiert, würden diese versuchen, die Spannung über längere Zeit aufrechtzuerhalten.

Einerseits behauptet das israelische Militär immer wieder, Terroranschläge durch Analysen des palästinensischen Social-Media-Verhaltens verhindert zu haben. Andererseits nimmt die antisemitische Propaganda gegen Israel im Internet weiter zu. Welche Strategien könnte es im Kampf gegen diese Entwicklung geben und wo sind die Grenzen?

Die Social-Media-Arena ist eine komplett neue Sphäre, mit der wir in Israel umgehen müssen. Auch die Europäer müssen sich damit beschäftigen, denn trotz der unterschiedlichen Motive von Palästinensern und IS-Islamisten in Europa ist die Praxis nahezu identisch. Die lone wolf-Strategie, die Möglichkeit, Attentäter aus der Distanz zu indoktrinieren und zu führen, ist neu und wird in beiden Fällen gleich genutzt. Der IS beispielsweise musste in den meisten Fällen niemanden schicken, um einen Anschlag auszuführen, sie setzen vielmehr auf durch ihre Praxis inspirierte Anhänger, auf eine imagined community. Wer lone wolf attack sagt, sagt social media. Es ist eine neue Form der Kriegsführung, mit der wir uns auseinandersetzen sollten. Israelis sind sich dessen sehr bewusst und wissen, dass diese Strategie funktioniert. Den Zahlen der Staatsanwaltschaft und des Ministeriums für Innere Sicherheit zufolge wurden 137 Palästinenser aufgrund ihrer Aktivitäten in sozialen Medien verhaftet, was zu einer Verhinderung von 134 Anschlägen geführt habe, da manche in Gruppen aktiv werden wollten. Hierbei wurden Text-, Icon- und Symbolanalysen genutzt – alle Möglichkeiten, die Subkultur der Anschläge zu analysieren.

Die israelische Regierung plant ein Gesetz, das unter anderem Facebook zur Löschung von sogenannter hate speech zwingen soll, gemeint ist dabei vor allem palästinensische antiisraelische Hetze. Derzeit wird das Gesetzesvorhaben insbesondere als politisches Instrument gegen die Palästinenser kritisiert. Wie stehen Sie dazu?

Ich weiß ganz genau, was der Unterschied zwischen einem legitimen Wunsch der Palästinenser ist, ihre Meinung und ihre Opposition zur israelischen Besatzung zu äußern, und einer illegitimen Aussage – wenn nämlich Poster und Videoclips veröffentlicht werden, in denen zu Messerangriffen aufgerufen wird oder diese gefeiert werden, also der Mord an unschuldigen Menschen propagiert wird. Das ist kein legitimer Weg, die politischen Ansichten auszudrücken, sondern ein Aufruf, Juden zu ermorden. Ein Beispiel: Am Tag nach dem schrecklichen Anschlag in Nizza waren die palästinensischen sozialen Medien voll mit Postern, die dazu aufgerufen haben, Israelis mit LKW und Autos zu überfahren. Das ist nicht legitim. Zudem sind diese Videos häufig voller antisemitischer Klischees von orthodoxen Juden mit großen, hässlichen Nasen. All die hässlichen Bilder der Nazis kommen vor. Kritik an Israel kann sehr hart und trotzdem legitim sein, jedoch muss sie dann ohne antisemitische Bilder und Aufrufe zum Mord auskommen.

Das Internet spielt eine immer größere Rolle in politischen Debatten und Prozessen. Der Fall Elor Azarias, des israelischen Soldaten, der einen entwaffneten palästinensischen Terroristen nach dessen Anschlag im März 2016 in Hebron erschossen hat und Anfang Januar wegen Totschlags verurteilt wurde, hat die israelische Gesellschaft gespalten. Noch bevor die Israeli Defense Forces (IDF) den Fall untersuchen konnten, veröffentlichte die NGO B’Tselem ein Video des Vorfalls im Internet. Wie verändern soziale Medien die üblichen politischen und militärischen Prozesse in solchen Konflikten?

Zunächst will ich betonen, dass es richtig ist, dass B’Tselem das Video zuerst veröffentlichte. Doch selbst das Militärgericht, das Elor Azaria verurteilt hat, hat klar und deutlich betont, dass die israelischen Kommandanten in Hebron den Vorfall umgehend gemeldet haben. Es wurde also nichts versteckt und ich denke, es ist sehr wichtig und gut für Israel, das israelische Rechtssystem und die israelische Armee, dass sie diesen Fall ernst genommen haben und es zu einem ehrlichen Ende kam, auch wenn dies schmerzhaft für die israelische Gesellschaft ist. Diese hat sich so gespalten, weil wahrscheinlich der Großteil der Israelis Empathie für den Soldaten und dessen Familie hat, obwohl sie dessen Tat ablehnen und die Verurteilung begrüßen. Viele Israelis – ich sage nicht, dass das meine Meinung ist – würden zustimmen, dass ein Attentäter den Anschlag nicht überleben sollte. Das ist vor allem mit der erschütternden Erfahrung zu erklären, dass unzählige Attentäter durch einen Gefangenenaustausch kurze Zeit später wieder auf freien Fuß kamen. In diesem Fall wurde der Attentäter jedoch nicht während des Anschlags erschossen, sondern elf Minuten danach. Dieses Vorgehen verurteilte der Generalstabschef der IDF, Gadi Eizenkot, umgehend und betonte, dass die IDF keine Miliz und die Tat nicht mit den Werten des israelischen Militärs zu vereinbaren sei. Im Internet ist dieser Konflikt zwischen Unterstützern und Gegnern Azarias sehr emotional geführt worden. Das Problem ist, dass die Menschen dort Normen und Höflichkeit fallen lassen und ihre Meinung sehr offen formulieren und so der ganze Rassismus und Antisemitismus sichtbar werden. Diese Entwicklungen sind auch kürzlich im US-Wahlkampf, in der politischen Debatte in Frankreich und bei Pegida in Deutschland deutlich geworden. Was früher vor allem in sozialen Medien zu beobachten war, wird nun auch in der konventionellen Öffentlichkeit sichtbar.

Zeigt sich hier eine neue Form der Öffentlichkeit?

Ja, auf jeden Fall. Er ist ein weiteres Beispiel für das Phänomen des Machtverlustes. Institutionen, Staaten und Regierungen verlieren ihre Macht an die Öffentlichkeit. Die Gesellschaft bekommt wieder mehr Macht, unter anderem durch die Social-Media-Techniken. Was hier rund um den Fall Elor Azaria geschehen ist, zeigt die Stärke der sozialen Medien sehr deutlich: Ein Video des Vorfalls konnte problemlos mit einem Smartphone aufgenommen und umgehend online gestellt werden. Ab dann war das Video öffentlich und der Fall nicht mehr in den Händen traditioneller Institutionen, die den Informationsfluss kontrollieren oder beeinflussen konnten. Ein ähnliches Phänomen sahen wir während des »arabischen Frühlings«.

Können Sie einen Blick in die Zukunft wagen? Wie werden der von Ihnen beschriebene Social-Media-Krieg gegen Israel und die gewalttätige Mobilisierung weitergehen? Was erwartet uns im Jahr 2017 in Israel und Palästina?

Konventionelle Konflikte oder Konfrontationen, wie im Gaza-Krieg 2014, erwarte ich nicht, ganz im Gegenteil. Ich denke, uns erwarten weitere lone wolf attacks. Das wird uns Israelis in Unsicherheit leben lassen, ob die Welle weitergeht oder nicht. Das ist ein Teil unseres Lebens. Trotzdem sind diese Dynamiken nie vorhersehbar. Wenn in naher Zukunft beispielsweise eine der palästinensischen Gruppen Raketen aus Gaza schießt und Israelis verletzt oder tötet, die israelische Armee darauf antwortet und Hamas-Kämpfer erschießt, kann eine solche Dynamik wieder entstehen und die Situation ist eine neue. Doch derzeit spricht vieles dagegen und für weitere lone wolf attacks.