Das Programm des Festivals »Club Transmediale« 2017

Kritische Klänge

Berlins Festival-Saison kennt keine Winterpause: Ende Januar läuft wieder das Festival Club Transmediale (CTM), das sich in diesem Jahr mit Emotionen und Elektrotrends aus Mexiko, der Türkei und dem Iran beschäftigt.

Was bewegt Menschen im Jahr 2017? Es sind Emotionen wie Angst, Wut oder Liebe. Gefühle, die kulturübergreifend anzutreffen sind. Vielleicht könnte man sie auch als egozentrisch bezeichnen, weil es um persönliche Belange geht. »Ich habe Angst, ich bin wütend oder verliebt.« Doch sind sie rationaler, nachvollziehbarer, als wir denken? Der Blick auf die Facebook-Timeline oder den Twitter-Feed sagt eindeutig: Nein, die Welt ist nicht klüger geworden.
Auch die Kuratoren des Club Transmediale hat der Unmut gepackt. Zur Volljährigkeit des Festivals für experimentelle und elektronische Musik wird es ernst. Wegsehen bringt nichts, mit ihrem diesjährigen Leitthema »Fear, Anger, Love« setzen sie auf Konfrontation. »Radikaler« darf es sein, mit Stimmen, die Musik politisch artikulieren, sagt Kurator Jan Rohlf im Gespräch. Vom 27. Januar bis 5. Februar gibt es in Berlin zehn Tage Programm, über 200 internationale Künstler, Ausstellungen, Gesprächsrunden – inklusive Clubnächten im Berghain, Yaam, Prince Charles und Schwuz.
Im ACUD-Kunsthaus in Berlin-Mitte angesiedelt, leiten seit ein paar Jahren Rohlf, Remco Schuurbiers und Oliver Baurhenn die jährliche ästhetisch-musikalische Auseinander­setzung mit Popkultur über ihre Agentur Disk. CTM spiegelt damit, was in Berlin passiert: Eine gut vernetzte Musikszene, die immer vielschichtiger wird, die Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund in der Clubkultur zeigt. Dynamische Sets im Schwebezustand zwischen bass­getränktem Pop und Trap von Künstlerlinnen wie Mobilegirl, Linnéa oder Alis liefern Eindrücke aus dem Berliner Underground, die sich bei der Bassgang-Crew mit intensiveren Einflüssen von HipHop mischen. Neu in diesem Jahr ist, dass mit dem Spielort Schwuz und der Tanzgruppe Berlin Voguing Out CTM näher an das queere Berlin heranwächst.
Im vergangenen Jahr lockte das Festival mit seinem Programm inklusive der »Deep Web«-Installation im Kraftwerk 35 000 Besucher an, die Hälfte kam aus dem Ausland. In diesem Jahr stammt die Installation von dem österreichischen Künstler Kurt Hentschläger, der sich dem Gefühl von Ort- und Zeitlosigkeit annimmt. Wie beim Vorgänger 2016, der den Titel »New Geographies« trug, steht 2017 experimentelle Musik im Fokus: »Unsere Grundausrichtung ist es, die Dominanz westeuropäischer elektronischer Musik zurückzudrängen und, wo wir es können, Musikerinnen und Perspektiven aus anderen Teilen der Welt ins Festival zu holen.« Sie kommen in diesem Jahr unter anderem aus Mexiko, dem Iran und der Türkei.
Die Geschichte mexikanischer Avantgardemusik wird in der Ausstellung »Critical Constellations of the Audio-Machine in Mexico« im Künstlerhaus Bethanien vermittelt. Wie trägt Musik zu Identität bei – und wie hat sich diese verändert? Mit Künstlerinnen wie Angelica ­Castelló, dem Ensemble Liminar oder den Noise-Videokünstlern »(SIC)« sind Richtungen experimenteller Musik aus Mexiko vertreten. Mit »Border Cantos« stellt Guillermo Galindo Überbleibsel von der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko vor, die ihm als Musikinstrumente dienen. Kuratiert wurde das Programm anlässlich des Dualen Jahres, das sich noch bis Ende April der Zusammenarbeit Mexikos und Deutschlands widmet, von Carlos Prieto Acevedo.

Die Geschichte mexikanischer Avantgardemusik wird in der Ausstellung »Critical Constellations of the Audio-Machine in Mexico« im Künstlerhaus Bethanien vermittelt. Wie trägt Musik zu Identität bei – und wie hat sich diese verändert? 

Die Kooperation mit dem Teheraner Festival Set wiederum will am 1. Februar im Hebbel am Ufer (HAU) Hörgewohnheiten verändern. Initiiert wurde sie von dem iranischen Soundkünstler Ata Ebtekar alias Sote. Er bringt in seinem neuen Projekt den audiovisuellen Komponisten Tarik Barri, den Performer Arash Bolouri und den Setar-Spieler Behrouz Pashaei zusammen und vereint traditionelle Akustikinstrumente mit elektronischen Einflüssen, die er als »persische Technoapokalypse« beschreibt. Mit Sami Baha, Bariş K und İpek İpekçioğlu sind zudem Künstler aus der Türkei dabei.
Eine Mischung aus Harsh Noise, Blade Metal und düsterer Filmmusik steuert die norwegische Avantgardemusikerin Jenny Hval. Panafrikanisch wird es mit mitreißend lauten, schnellen und ebenso tanzbaren Tracks von NON Worldwide, einem Label und Kollektiv mit Künstlern aus Afrika und der Diaspora, das vor zwei Jahren von den Produzenten Chino Amobi, Nkisi und Angel-Ho ­gegründet wurde. Sie bespielen das Prince Charles am 28. Januar.
Für das CTM-Special hat sich NON mit der Choreographin Ligia Lewis für die Bühnenshow »The Great Disappointment« im Hebbel am Ufer zusammengeschlossen. »Wir schaffen eine Performance, in der wir Text, Musik und Tanz mit einem apokalyptischen wie auch politischen Unterton verweben und Sound das Rückgrat bildet«, sagt Lewis. The Great Disappointment basiert auf einer pessimistischen Welteinstellung. »In einer Zeit, in der Faschismus weltweit wächst, hat Kunst das Potential, Ansichten zu verändern.« Die Choreographin begreift Kunst dabei als Chance, jedoch nicht als Druckmittel: »Wir haben mit NON kein konkretes Ziel, es ist ein Experiment, von Menschen, die temporär zusammenkommen, um den gewohnten Fluss zu unterbrechen.« Im HAU wird die Performance von 29. bis 31. Januar aufgeführt.
Entstanden als Begleitprogramm der Transmediale 1999, hat sich CTM neben dem Festival »Unsound«-Festival zu einer maßgeblichen Plattform für Avantgarde-Musik in Europa entwickelt. Die Planung des Fes­tivals beruht auf einer ökonomischen Mischkalkulation – zwischen Förderanträgen und Einnahmen. »Jedes Jahr ist die Planung bis zum Schluss ungewiss«, sagt Rohlf. Es scheint ein altbekanntes Berlin-Problem zu sein. Doch das Line-up ist schon fast komplet  – ein paar Überraschungen an experimentell-elektronischen Sounds erwarten uns. An Künstlerinnen wird es mit Rap von Moor Mother, Tommy Genesis oder Klängen der Latinx-Experimentalkünstlerin Elysia Crampton nicht fehlen und auch Noise-Legende Genesis Breyer P-Orridge (siehe Titelbild) lässt sich blicken.
Zwischen Music Hacker Lab, das in Kooperation mit Native Instruments stattfindet, und skandinavischer Disco-Eröffnungsnacht in der Panoramabar wird schnell klar: Das Disk-Team hat sich viel vorgenommen und ein ambitioniertes Programm zusammengestellt. Dennoch lässt es Raum für das Bewusstsein von strukturellen Problemen in der Clubkultur. Diversität ist in Gesprächsrunden mit der Plattform für Frauen aus der Musikindustrie, Salt + Sass, und dem Label Mint Berlin ein Thema. Ob es auch diesmal gelingt, Orte männlicher Dominanz so sehr umzugestalten, wie es mit der Berghain-Nacht »Zones III« im vorigen Jahr gelungen ist, in der weibliche Acts den Ton angaben und die Tanzflächen anders bespielt wurde, muss sich zeigen. Gerade die Beiträge aus Mexiko und Iran aber zeigen, dass es für Frauen auch in der Musik weiterhin sichtbare und unsichtbare Barrieren gibt. 
Emotionalität durch Musik zu vermitteln, ist für Jan Rohlf die eine Sache. Der emanzipatorische Umgang mit Gefühlen die andere. Aber adventurous sollte man drauf schon sein, wie sich das Festival selbst nennt, um die Beziehungen zwischen Körper, Affekt und Politik zu verändern.

Das CTM-Festival findet vom 27. Januar bis 5. Februar an verschiedenen Veranstaltungsorten in Berlin statt.