Das Urteil zur Wahlrechtsreform in Italien

Bangen um den Bonus

Die Wahlrechtsreform in Italien ist gescheitert. Bei Neu­wahlen rechnen sich sowohl die regierende Demokratische Partei wie auch die populistische Fünf-Sterne-Bewegung Chancen aus.
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Nachdem das italienische Verfassungsgericht vergangene Woche Teile des umstrittenen Wahlgesetzes »Italicum« für verfassungswidrig, den modifizierten Gesetzestext jedoch für »unmittelbar anwendbar« erklärt hatte, wurden in allen politischen Lagern sofor­tige Neuwahlen gefordert. Doch die Verfassungsrichter haben ein ambivalentes Urteil gefällt: Einerseits wiesen sie die Einführung ­eines zweiten Wahlgangs, in dem zwischen den beiden stärksten Parteien des ersten Durchgangs über die absolute Sitzmehrheit abgestimmt werden sollte, als nicht verfassungskonform zurück. ­Andererseits erklärten sie den Wahlbonus, der einer Partei, die im ersten Durchgang 40 Prozent der Stimmen auf sich vereint, automatisch 54 Prozent der Sitze zuspricht, für verfassungskonform. Über die Motive für diese Entscheidung lässt sich bis zur Urteils­begründung Mitte Februar nur spekulieren. Durch die Streichung der Stichwahl hat das Gericht das geplante Mehrheitswahlrecht in ein Verhältniswahlrecht umgewandelt, gleichzeitig aber durch die Beibehaltung des Wahlbonus die Möglichkeit zum Gewinn einer unproportionalen absoluten Mehrheit offen gelassen.
Auf diese Möglichkeit spekuliert der zurückgetretene Ministerpräsident Matteo Renzi. Seine Reformpolitik war beim Verfassungsreferendum im Dezember zwar abgelehnt worden, hatte aber 40 Prozent Zustimmung erhalten (Jungle World 51/2016). Alle Hoffnungen Renzis hängen an dieser Zahl. In einem fulminanten ­Wahlkampf will er bis zum Frühsommer eine Mehrheit für sich und seinen Partito Democratico (PD) gewinnen. Auch Beppe Grillo, der mit seinem Movimento 5 Stelle (M5S) immer im Wahlkampf­modus ist und seit jeher jede Koalition ablehnt, rechnet sich Chancen aus, die nötigen 40 Prozent der Stimmen zu erreichen. Die Machtphantasien der beiden Politiker werden allerdings von den Prognosen der Meinungsforscher gedämpft. Demnach kommen weder der M5S noch der PD auf die angestrebten 40 Prozent. Auch für eine Wahlliste rechter und rechtsextremer Parteien, von der Matteo Salvini, der Vorsitzende der Lega Nord, träumt, würde es nicht reichen. Eine stabile Regierungsmehrheit gäbe es nach aktuellen Umfragen nur für eine große Koalition aus PD und Forza Italia. Silvio Berlusconi wäre mit seiner zwar geschrumpften, aber immer noch stärksten rechten Partei Forza Italia zurück an der Macht.
So ungewiss der Ausgang, so sicher ist jetzt schon, dass alle Konkurrenten im Falle vorgezogener Neuwahlen mit einem Anti-EU-Wahlkampf auf Stimmenfang gehen werden. Für Grillo und Salvini gehört die Propaganda gegen den Euro und die »EU-Bürokraten« ohnehin zum Programm, doch seit vergangener Woche suchen auch Renzis Demokraten die Konfrontation. Dass die EU-Kommission just in den Tagen des neuerlichen schweren Erdbebens in den Abruzzen auf eine weitere Haushaltskürzung von 3,4 Milliarden Euro pocht und mit Strafmaßnahmen droht, sollte die im Stabilitätspakt festgeschriebene Defizitgrenze nicht eingehalten werden, wurde allgemein als Provokation aufgefasst. Ministerpräsident Paolo Gentiloni sagte, dass die EU sich angesichts des fortgesetzten Ausnahmezustands in Italien nicht »blind und taub« stellen dürfe und endlich eine europäische Wachstums­politik einleiten müsse.