Neurechte Ideologien und der Kult um das ungeborene Leben

Der heilige Embryo

Die Ablehnung emanzipatorischer Errungenschaften, insbesondere solcher des Feminismus, verbindet religiösen Fundamentalismus, Nationalkonservatismus und völkischen Populismus. Die Gebärmutter und der Kult um das »ungeborene Leben« bleiben Rückzugsorte alter und neuer Antifeministen.

Mindestens bis in die fünfziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts ist es Konservativen noch leichtgefallen, an die natürliche Ordnung der Geschlechter zu glauben. Aus dieser Perspektive mussten die gesellschaftlichen Veränderungen um 1968 als kultureller Verfall interpretiert werden. Der medizinische Fortschritt ermöglichte mit der Verhütungspille die Entkoppelung der Sexualität von der Fortpflanzung. Das Abtreibungsrecht wurde in vielen Ländern liberalisiert. Abtreibung wurde öffentlich thematisiert. Die Lockerung der Sexualmoral widersprach insgesamt der Vorstellung vom einfachen Leben. In dem Maße, wie Sexualität öffentlich verhandelt, das Geschlechterverhältnis zumindest in Frage gestellt und Fortpflanzung zusehends technologisch vermittelt wurde, traten diese Gebiete aus dem Bereich des Lebens, des Ewigen und Sittlichen göttlicher Schöpfung heraus, als dessen Hüter sich Konservative seit jeher aufspielten.
Da die Unmittelbarkeit des Lebens mittlerweile kaum mehr zu greifen ist, benötigten die Konservativen ein Objekt, auf das sie sich zumindest gut projizieren lässt. Sie fanden es im »ungeborenen Leben«: dem Embryo als ultimativem und hilflosem Opfer menschlicher Hybris. Entgegen der Erzählung der selbsternannten »Lebensschützer« handelt es sich beim Embryo aber nicht um die von ihnen heiliggesprochene Unmittelbarkeit des Lebens, sondern um eine wissenschaftlich-medizinische Konstruktion jüngeren Datums. Der Kult um das »ungeborene Leben«, des zum »Kind« oder gar zur Rechtsperson stilisierten Zellklumpens, setzt moderne Methoden der Reproduktionsmedizin ebenso voraus wie die Embryonenforschung. Dadurch, dass die Medizinuntersuchung den Embryo durch den Ultraschall sichtbar gemacht hat und der Prozess der Schwangerschaft fotografiert und gefilmt worden ist, kann der Embryo den »Lebensschützern« überhaupt erst erscheinen. Auch die »Lebensschützer« arbeiten mit – zu Propagandazwecken allerdings oftmals fehldatierten – Ultraschallbildern. Sie scheuen sich nicht, Fotos toter Embryos zu verbreiten. Das mahnende Herumfuchteln mit Plastikembryos gehört zu ihren religiösen Praktiken.
Die Nachbildung des Ungeborenen aus Kunststoff drückt unbeabsichtigt und ironisch aus, wie weit es mit der Heiligkeit und Unmittelbarkeit des Embryos im 21. Jahrhundert her ist. Durch technologische und gesundheitsmedizinische Interventionen wird er eigens adressiert, was gleichzeitig Normierung möglich macht. Die Zeit, die er außerhalb des Mutterleibes überleben kann, wird dank medizinisch-technischer Hilfsmittel immer länger. Über In-vitro-Fertilisation ist Schwangerschaft technisch induzierbar geworden, wodurch selbst »natürliche« Unfruchtbarkeit korrigiert werden kann. Durch die Forschung mit Embryonen und Stammzellen wird der Embryo zusehends der Kommerzialisierung unterworfen.
Für die Ethnologin Michi Knecht ist der Embryo deshalb bereits ein kleiner Cyborg – ein Mischwesen aus Mensch und Maschine und ein Sinnbild dafür, wie weit der Mensch seine eigene Natur im Spätkapitalismus erschafft. Ein Glaubenssystem, das um den Embryo als Sinnbild der Unschuld, des Guten und Reinen kreist, ist also wesentlich neuer, als es die Rede von der Errettung des christlichen Abendlandes vermuten ließe.
Die Verehrung des Embryos setzt aber nicht nur seine biomedizinische Konstruktion voraus, sondern artikuliert sich auch im Jargon moderner Rechtsstaatlichkeit und universeller Menschenrechte. Der »Lebensschutz« tritt dabei als Gegendiskurs zum weiblichen Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung auf. Auf der Weltbevölkerungskonferenz der Vereinten Nationen in Bukarest 1974 wurde dieses Recht erstmals explizit formuliert. 20 Jahre später, auf der Weltbevölkerungskonferenz in Kairo, wurde es konkretisiert als »das Recht, alle Entscheidungen bezüglich der Reproduktion ohne Diskriminierung, Zwang und Gewalt zu treffen«. Gegen den Widerstand des Vatikans sowie einiger katholisch und muslimisch geprägter Länder konnte eine Formulierung durchgesetzt werden, die sich nicht mehr in erster Linie an den Vorgaben der Staaten, sondern der Entscheidung der Frau orientierte. Um diese Entscheidung zu treffen, sind nicht nur sexuelle und gesundheitliche Aufklärung nötig, sondern auch Verhütung und notfalls Schwangerschaftsabbruch. Freilich ist Selbstbestimmung unter heteronomen Bedingungen unmöglich. Auch die Selbstbestimmung, wie sie von den Weltbevölkerungskonferenzen gefordert wurde, diente dem Zweck nachhaltiger Entwicklung und der Armutsbekämpfung. Immerhin markierte die Konferenz von 1994 aber eine Abkehr von der autoritären Bevölkerungspolitik einzelner Staaten.
Die »Lebensschützer« bleiben in ihrer Lebensrechtsvorstellung begrifflich auf dem Terrain des Rechts, insofern sie ihre Misogynie nicht primär damit legitimieren, dass die wider Willen Schwangere vom Teufel besessen sei, sondern darauf pochen, dass der – aller medizinisch-technischen Fortschritte zum Trotz – an sich lebensunfähige Fötus seinerseits ein Recht auf Leben besäße. Die Erhebung des Fötus zum Rechtssubjekt ist allerdings nicht weniger patriarchal als die abendländisch-christliche Tradition. Denn vor dem vermeintlichen Gericht des Lebens sind »Lebensschützer« zugleich Ankläger und Richter und sie entscheiden stets zugunsten eines Meeres stimmloser Ungeborener. Das diesen vermeintlich angetane Unrecht veranlasst deutsche »Lebensschützer« zu einem irrwitzigen body count, dessen Ergebnis die deutsche Judenvernichtung als Kleinigkeit erscheinen lassen muss.
Im Kampfbegriff des »Babycaust« zeigt sich aber nicht nur ein Anknüpfungspunkt für Geschichtsrevisionismus und völkische Bewegungen, sondern auch die Verortung des absolut Bösen in der weiblichen Selbstbestimmung. Die abtreibende Frau verurteilt der »Lebensschützer« als Mörderin, den Feminismus bezichtigt er des Genozids. Um Ungläubige aufzurütteln, stellen die vorgeblichen Schützer des Lebens Fotos toter und zerfledderter Embryonen in einer Weise zur Schau, die bei jedem anständigen Christenmenschen zum Abfall vom Glauben führen muss.

Im Kampfbegriff des »Babycaust« zeigt sich nicht nur die Anschlussfähigkeit der »Lebensschützer« für Geschichtsrevisionismus, sondern auch die Verortung des absolut Bösen in der weiblichen Selbstbestimmung.

In der Anschuldigung, verhältnismäßig einfache Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs würden von Frauen wie ein Verhütungsmittel genutzt, drückt sich der Wunsch nach Repression sexuell freizügigen Verhaltens aus. Dass nicht das Erschweren von Abtreibungen deren Zahl mindert, sondern einzig Sexualaufklärung und das Vorhandensein von Verhütungsmitteln, ignorieren »Lebensschützer« beharrlich. Das Leben und die Gesundheit der Frauen, die unter teils gefährlichen Bedingungen illegal abtreiben, interessiert sie genauso wenig wie die Lebensqualität eines wider den Willen der Mutter zur Welt gebrachten Kindes. Der Schwangerschaftsabbruch wird, so formuliert es Knecht, »zu einem Symptom für unverantwortliches, einseitig lustorientiertes Sexualverhalten«, welches im Widerspruch zu Bindung und Verpflichtung, auch zur langfristigen Fürsorge für Kinder, stehe. Abtreibung steht also eher für das männlich konnotierte Prinzip der Autonomie und damit für Abtreibungsgegner im Widerspruch zur weiblichen Geschlechterrolle. Die Selbstverwirklichung der Frau verorten »Lebensschützer« in der Pflege und Aufzucht des Lebens, was so viel heißt wie Opferbereitschaft – Hingabe des eignen Körpers, in dem sich nun mal das heilige Leben fortsetzt – für die Gattung oder das Volk. Insbesondere weibliche Sexualität beschränkt sich in diesem Denken auf Reproduktion, da die beiden Zellen exakt zum Zeitpunkt ihrer Einnistung in der Gebärmutter sakrosankt werden – theologisch gesehen ist auch das nicht einwandfrei. Der Schwangerschaftsabbruch wird so zum Symbol menschlicher Anmaßung gegenüber der göttlichen Schöpfung. Er sei Ausdruck eines gesellschaftlichen Verfalls, in dem Frauen sich wie Männer verhalten: egoistisch, materialistisch, machthungrig.
Die Herren der Schöpfung kommen in der Lebensschutzideologie übrigens erstaunlich schlecht weg. Männer werden nicht als Väter adressiert, sondern tendenziell als Abtreibungsursache und also als Gefahr für das ungeborene Leben betrachtet. Deshalb nehmen Abtreibungsgegner Frauen als potentielle Mütter vor ihren Ehemännern und Partnern in Schutz. In den USA bezeichnen sich Teile der Lebensschutzbewegung gar als pro-life-feminists oder anti-abortion-feminists. Der positive Bezug auf den Feminismus funktioniert allerdings nur, wenn dieser mit Mütterlichkeit identifiziert wird. Im Sinne vermeintlich weiblicher Interessen artikuliert sich der Kult um den Embryo zudem über die Erfindung des sogenannten des Post-Abortion-Syndroms (PAS), das ein emotionales Leiden von Frauen nach der Abtreibung bezeichnen soll. Das ist pseudowissenschaftlich, denn während die psychischen Lasten ungewollter Mutterschaft sowohl für Mütter als auch für deren Kinder hinlänglich bekannt sind, ist die Existenz des PAS wissenschaftlich nicht belegt. Hier zeigt sich aber erneut, wie sich der »Lebensschutz« nicht in klassisch religiöser Bibelauslegung erschöpft, sondern auf wissenschaftliche Begründungsmuster zurückgreift. Der Kult um den Embryo ist ein misogyner Synkretismus. Mit dem Christentum hat er in etwa so viel zu tun wie Donald Trump mit Jesus.