Die nächste tote NSU-Zeugin – alles Verschwörung oder was?

Der NSU zu Gast bei Spätzles

Kürzlich starb eine weitere Zeugin im NSU-Komplex – höchstwahrscheinlich eines natürlichen Todes. Doch solange die Behörden die Umstände des Rechtsterrorismus in Baden-Württemberg nicht aufklären, nähren sie weiterhin Spekulationen und Verschwörungstheorien.

Am Ende klingelte wohl im Krematorium das Telefon. Mit allen Mitteln versuchte das Sekretariat des zweiten baden-württembergischen NSU-Untersuchungsausschusses am 8. Februar, die Einäscherung des Leichnams von Corinna B. zu verhindern. Doch alle Bemühungen kamen zu spät. Der Körper der 46jährigen, die in diesen Tagen vor dem Landtagsgremium als Zeugin über ihre Kontakte zu den Rechtster­roristen Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe aussagen sollte, war bereits verbrannt.
Im Zuge einer regulären Anfrage beim Einwohnermeldeamt hatten die Parlamentarier erfahren, dass B. kurz zuvor verstorben war. »Jetzt sind die Behörden vor Ort und die zuständigen Ministerien in der Verantwortung«, schrieb der Ausschussvorsitzende Wolfgang Drexler (SPD) in einer Pressemitteilung. Er habe ein »großes Interesse« daran, aufzuklären, ob »Fremdein­wirkung oder Fremdverschulden« als Grund für den Tod der Frau ausgeschlossen werden könne. Die Antwort des Justizministeriums auf diese Frage wurde am Rande der Sitzung des Untersuchungsausschusses am Freitag vergangener Woche bekanntgegeben: Die Staatsanwaltschaft werde in dem Fall nicht ermitteln, so das Ministerium. Offensichtlich lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die vom Ausschuss Ende Januar als Zeugin benannte, aber noch nicht geladene Frau eines unnatürlichen Todes gestorben sei. Ein stichhaltiges Indiz für diese Annahme ist, dass Corinna B. wegen einer langwierigen und schweren Erkrankung zuletzt in einem Pflegeheim versorgt wurde. Auf einem Mitte der nuller Jahre entstandenen Foto ist sie bereits deutlich von der Krankheit gezeichnet und kann sich nur mit Hilfe eines Gehwagens fortbewegen. 
Trotzdem ist der Todesfall heikel für den baden-württembergischen NSU-Ausschuss. In der vergangenen Legislaturperiode musste sich das Vorgängergremium bereits mit drei Verstorbenen beschäftigen. Am 16. September 2013 war der 21jährige Florian Heilig in seinem Auto in Stuttgart verbrannt. Der Aussteiger aus der rechtsextremen Szene hatte schon vor dem Bekanntwerden des NSU im November 2011 behauptet, die Mörder der Polizistin Michèle Kiesewetter zu kennen. Später hatte er dem Landeskriminalamt von einer mit dem NSU in Verbindung stehenden militanten Kameradschaft namens »Neoschutzstaffel« (NSS) berichtet, an deren Existenz es allerdings Zweifel gibt. Heiligs Verbindungen in die Naziszene und die ersten Ermittlungen zu seinem Tod werfen viele Fragen auf. Trotzdem gehen die Behörden nach der Anhörung etlicher Zeugen und Sachverständiger durch den ersten Untersuchungsausschuss und nach einer Wiederaufnahme des Todesermittlungsverfahrens durch die Stuttgarter Staatsanwaltschaft weiterhin von einem ­Suizid aus (Jungle World 12/2016). 
Auch im Fall des 31jährigen Sascha W., der im Februar 2016 erhängt aufgefunden wurde, spricht den Ermittlungsakten zufolge alles für eine Selbsttötung. Der Mann gilt manchen Journalisten als NSU-Zeuge, weil er seine Verlobte Melisa M., die ehemalige Freundin von Florian Heilig, bei deren nichtöffentlicher Aussage vor dem Ausschuss begleitete und dort selbst eine Anmerkung machte. Die 20jährige Melisa M. wiederum war bereits wenige Wochen nach ihrer Aussage im März 2015 an einem »Blutgerinnsel im Bereich der Lungenschlagadern« gestorben. So steht es zumindest im Obduktionsbericht der Heidelberger Rechtsmediziner, die eine »direkte Manipulation von außen« ausschlossen. Als Ursache für das Blutgerinnsel wird ein Motorradunfall vermutet, bei dem sich M. am Knie verletzte. 
Ohnehin sind die belegbaren Verbindungen der drei jungen Leute zum NSU-Komplex eher vage. Keiner von ihnen zählte zum organisierten Kern des Nazimilieus. Zu dem in einer jahrelangen Puzzlearbeit von Nebenklageanwälten, Untersuchungsausschüssen, Journalisten und zivilgesellschaftlichen Initiativen untersuchten NSU-Umfeld gibt es keine Bezüge. Florian Heilig, Melisa M. und Sascha W. kannten das mutmaßliche NSU-Trio und dessen Kontaktpersonen nach bisherigem Kenntnisstand nicht. 
Bei Corinna B. war das anders. Mitte der neunziger Jahre gehörte sie zu einer Clique von Neonazis aus dem Ludwigsburger und Stuttgarter Raum, die enge Kontakte zu Gleichgesinnten in Thüringen und Sachsen pflegten. Als an Ostern 1996 die Jenaer Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe die Szenekneipe »Oase« in Ludwigsburg besuchten, soll Zeugenaussagen zufolge auch Corinna B. dort gewesen sein. Sicherlich nicht zufällig, denn B. war damals mit Hans-Joachim S. liiert, der über mehrere Jahre hinweg regelmäßig mit den späteren NSU-Terroristen und ihren mitgereisten Freunden feierte. »Unsere Spätzles« nannte Uwe Mundlos damals die Ludwigsburger, die er und Beate Zschäpe immer wieder besuchten. Was während solcher Treffen besprochen wurde, wollten die Landtagsabgeordneten von Corinna B. erfahren. Denn die bisher geladenen Zeugen, darunter Hans-Joachim S. und weitere Mitglieder der Ludwigsburger Clique, konnten oder wollten nicht viel zur Aufhellung der »Ost-West-Achse« beitragen. Der gemeinsame Tenor: Damals sei es nur um Musik gegangen, Politik habe keine Rolle gespielt. »Wir haben viel getrunken und viel Spaß gehabt«, sagte eine Frau, bei der Zschäpe fünfmal übernachtet hatte, den Parlamentariern. Hans-Joachim S. unterhielt den Untersuchungsausschuss mit Anekdoten darüber, wie Mundlos in einer Ludwigsburger Wohnung Pizza in der Mikrowelle aufwärmte: »27 Minuten lang«. »Ich habe damals mit Politik nichts am Hut gehabt«, versicherte in der Sitzung am Freitag auch eine Jenaerin, die das NSU-Trio seit 1991 gekannt hatte und die ebenfalls in Ludwigsburg zu ­Besuch gewesen war. Ihr damaliger Spitzname: »NPD-Elke«. Die Ladung nach Stuttgart sei eine »Verschwendung von Steuergeldern«, beschwerte sich die Frau. 
Dass die Vernehmung weiterer Personen aus der schwäbischen NSU-­Verbindung ergiebiger sein wird, ist schwer vorstellbar. Dem Nazi-Hooligan Steffen J. etwa, der im fraglichen Zeitraum zur Ludwigsburger Clique gehörte, attestieren die Behörden ein »hohes unkontrolliertes Gewaltpotential«. Zugleich besitzt der Mann als Sportschütze mittlerweile sieben Lang- und zwei Kurzwaffen – vollkommen ­legal. Gegen Jug P., der ebenfalls in der Ludwigsburger »Oase« verkehrte, ermittelt das Bundeskriminalamt weiterhin wegen einer möglichen Waffen­beschaffung für den NSU. Auch die verstorbene Zeugin Corinna B. war in späteren Jahren mit einem Nazi liiert, der sehr gute Kontakte ins Chemnitzer Umfeld des NSU unterhielt. 
Dem bisher nur einmal im Monat ­tagenden Untersuchungsausschuss droht deshalb schon in seiner ersten Phase der Stillstand. Gelingt es ihm nicht, zumindest etwas Licht in das Netzwerk der Rechtsterroristen im Südwesten zu bringen, droht der Komplex endgültig zum Objekt wilder Spekulationen und Theorien zu werden. Deren Vertreter laufen sich bereits warm: Im Internet verbreiten sich postfaktische Aufzählungen »toter NSU-Zeugen« viral. Einige Interessierte kommen dabei zu geschmacklosen Schlussfolgerungen: »Fast mehr tote Zeugen als NSU-Opfer«.