Ein Gespräch mit dem Historiker Dan Diner über die Rolle Deutschlands in Europa

»Die Europäer haben das politische Denken verlernt«

Im vergangenen September hatte der Rote Salon im Leipziger Conne Island den Historiker Dan Diner eingeladen, unter dem Titel »­Vergangenheit als Zukunft?« über Europas Krise und die Linke zu diskutieren. Ausgangspunkt der Veranstaltung war die Frage, ob sich die deutsche Linke angesichts der seit geraumer Zeit zu beobachtenden Renationalisierungstendenzen nicht positiver auf die europäische Idee beziehen müsste. Dan Diner lehrt moderne Geschichte an der Hebräischen Universität in Jerusalem und war bis 2014 Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Wir dokumentieren im Folgenden eine gekürzte Fassung des Gesprächs.

Herr Diner, die linke Kritik an der Europäischen Union und der europäischen Integration lässt für gewöhnlich kein gutes Haar schon am Beginn des europäischen Einigungsprozesses in den fünfziger Jahren. Bei dem Versuch, nationalstaatliche Gegensätze in Europa zu überwinden, habe es sich keineswegs um die Etablierung einer Friedensordnung gehandelt, vielmehr um ein Projekt des Antikommunismus. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (Montanunion) im Jahr 1951 etwa habe nicht der Überwindung nationaler Interessen gedient, sondern deren bestmögliche Durchsetzung befördert. Es sei niemals um so etwas wie eine Wertegemeinschaft gegangen, sondern schlicht um Handels- und Inter­essenpolitik. Wie beurteilen Sie diese Art linker Kritik an der historischen Genese der europäischen Einigung?
Lassen Sie mich die historische Bil­derwelt, die Sie mit der Erwähnung der Montanunion angeboten haben, etwas vertiefen. Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl hatte zum Ziel, diese beiden grundlegenden Ressourcen nicht nur der Ökonomie, sondern auch einer möglichen Wiederaufrüstung europäisch zu neutralisieren. Das Wort Neutralisierung ist immens wichtig zum Verständnis des europäischen Projekts. Denn die europäische Einigung ist keineswegs eine Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg gewesen – das ist ein häufig anzutreffender Irrtum. Diejenigen, die damit betraut waren, die europäische Verständigung Ende der vierziger Jahre anzuschieben, und die als einen der ersten Schritte die Montanunion angestoßen haben, waren Personen, deren politische Erfahrung in der Zwischenkriegszeit und davor lag. Das europäische Projekt ist also eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg gewesen. Was den Zweiten Weltkrieg anging, wussten alle, dass er auf Nazi-Deutschland zurückging. Der Erste Weltkrieg jedoch war aus der erbitterten Konkurrenz der Nationalstaaten erwachsen. In den war man, so sagen die ­einen, »hineingeschlittert«; andere vertreten die These, dass die Euro­päer eben als »Schlafwandler« in ihn eingetreten waren.
Schauen wir uns drei Persönlichkeiten genauer an, die für Europa stehen oder für Europa standen. Zunächst Konrad Adenauer, aus der preußisch-rheinischen, katholischen Peripherie des Kaiserreichs stammend, der 1919 noch beschuldigt wurde, als profranzösischer Separatist deutsche Interessen und die Einheit des Reichs zu hintertreiben. Als zweiten Robert Schuman, der, in Luxemburg geboren, im deutschen Elsass aufgewachsen, im kaiserlichen Heer deutscher Offizier war und später als französischer Außenminister reüssierte. Und schließlich Alcide De Gasperi, von 1947 an italienischer Ministerpräsident, der noch bis 1918 als Abgeordneter im altösterreichischen Reichsrat zu Wien saß. Alle drei haben Gemeinsamkeiten. Einmal ihr Alter: Sie sind im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts geboren. Zudem waren sie alle katholisch und haben in den Gesprächen zur Gründung der Montanunion untereinander auf Deutsch verhandelt. Schließlich stammten alle drei aus der Peripherie ihrer jeweiligen Nationalstaaten und ihre Politik war auf die Aufhebung des Nationalstaats in Europa gerichtet.

»Das europäische Projekt ist eine Reaktion auf den Ersten Weltkrieg gewesen. Was den Zweiten Weltkrieg anging, wussten alle, dass er auf Nazi-Deutschland zurückging. Der Erste Weltkrieg jedoch war aus der erbitterten Konkurrenz der Nationalstaaten erwachsen.«

Hier interessieren vor allem jene Erfahrungen, die diese Personen in der Zwischenkriegszeit gemacht haben und die uns vielleicht helfen, die Gegenwart besser zu verstehen, was die Frage von links und rechts angeht und was die Kritik an Europa betrifft. Als Zeitgenossen waren sie beispielsweise Zeugen des Ruhrkampfs im Jahr 1923 geworden: Französische und belgische Truppen marschierten in das Ruhrgebiet ein und versuchten dort, sozusagen mit den Bajonetten die Kohle zu befördern, um die Erfüllung deutscher Reparationsverpflichtungen zu erzwingen. Hiergegen wandte sich ein »Volkswiderstand«, der interessanterweise die Völkischen und die Kommunisten vereinte. Der Ruhrkampf steht also emblematisch für den deutsch-französischen Gegensatz. Die Gründung der Montanunion, die Kohle und Stahl neutralisieren und damit auch die Möglichkeiten der Kriegsführung in Europa einhegen sollte, ist auch eine Reaktion auf ­diese Ereignisse. Das ist ein politisches Projekt. Aber es hat noch eine andere Seite, insofern Kohle und Stahl natürlich auch eine ökonomische Bedeutung haben. Dennoch stand am Anfang des europäischen Einigungsprozesses der Friedensgedanke – die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich oder genauer: die Neutralisierung Deutschlands. Ein Mann wie Adenauer, der von vielen als »Volksverräter« angesehen wurde, hat das sehr wohl verstanden. Er prägte um diese Zeit folgendes Bild: Ein deutscher Kanzler habe sich vor der Bundesflagge einmal, vor der französischen Trikolore hingegen dreimal zu verbeugen.

Dies alles ereignete sich im Rahmen des anhebenden Kalten Kriegs, der als Gehäuse der europäischen Integration fungierte. Angesichts der Erschütterungen, die mit dem Ende des Kalten Kriegs in Verbindung stehen, ist es kein Zufall, dass gegenwärtig das europäische Projekt vor der Möglichkeit seines Zerfalls steht. Bis 1989 musste man sich nicht um Fragen des Militärs oder der Sicherheit kümmern, denn diese Themen waren bereits im Jahr 1954 gescheitert, als die Etablierung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), inklusive einer Wiederbewaffnung Deutschlands, fehlschlug. Stattdessen erfolgte die militärische Einbindung der Bundesrepublik in die Nato, wohin künftig sicherheitspolitische Fragen delegiert wurden. Damit endete zunächst freilich auch das politische Projekt Europa. Übrig blieb allein die Ökonomie: die Römischen Verträge von 1957, die sogenannte Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), wenngleich als bloßer Ersatz für das Politische. So wurde in Europa im Rahmen des Kalten Kriegs – um den es sich nicht zu kümmern brauchte, weil andere dies taten – die ökonomische und soziale Sprache dominant. Das zog sich durch die siebziger und die achtziger Jahre und änderte sich erst in den neunziger Jahren mit dem Ende der Blockkonfrontation. Heute erleben wir eine Konstellation, in der der Eindruck entsteht, dass das Gerüst, das Europa zusammengehalten hat, aus verschiedensten Gründen ab­geräumt ist.

Sie sprachen davon, Europa sei eine Antwort auf den Ersten Weltkrieg gewesen, nicht auf den Zweiten. Uns stehen indes noch zwei andere Bilder vor Augen: 1950 rissen deutsche und französische Jugendliche – unter ihnen der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl – gemeinsam Schlagbäume am Grenzübergang Wissembourg/Weißenburg nieder; im selben Jahr fand am Europarat in Straßburg eine proeuropäische Demonstration statt, zu der deutsche Jugendliche mit Transparenten anreisten, auf denen »Stürmt die Bastille Nationalstaat!« zu lesen stand. Offensichtlich war also nach 1945 zumindest eine neue Europabegeisterung spürbar, was die These zu ­bestätigen scheint, dieser Pro­europäismus sei tatsächlich von den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs ausgegangen.
Das gilt für Deutschland, für die Bundesrepublik, die ja nicht mehr Deutschland war, das muss man noch hinzufügen. Die Bundesrepublik (und auch die DDR) war ja reine Gesellschaft gewesen, sie war kein ­Nationalstaat. Alle Diskurse, die damals hegemonial waren, drehten sich um das Soziale – sozial im Sinne einer Welterklärung, nicht im so­zialpolitischen Sinne. Die Soziologie war die führende Humanwissenschaft. Geschichte war eher sekundär. All das verweist auf die besondere Lage nach dem Krieg. Die Bundesdeutschen waren begeisterte Europäer, weil sie guten Grund hatten, keine Deutschen mehr sein zu wollen. Im Vereinigten Königreich hingegen werden Sie das nicht entdecken. Als Winston Churchill 1946 in seiner berühmten Züricher Rede von den »Vereinigten Staaten von Europa« sprach, sollte Großbritannien diesen selbstverständlich nicht angehören. Frankreich wiederum war am Zweiten Weltkrieg überhaupt nicht beteiligt. Es ist 1940 aus einem europäischen Krieg ausgeschieden, der dann 1941 (mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten) zu einem Weltkrieg wurde. Es trat 1944 wieder in den Krieg ein, der nun die Gestalt eines Kolonialkriegs annahm und erst mit der Unabhängigkeit Algeriens 1962 beendet wurde. Das sind völlig andere Koordinaten. In der Bundesrepublik war man begeisterter Europäer, weil man kein Deutscher mehr sein wollte, und wahrscheinlich zu Recht kein Deutscher mehr sein konnte, nach allem, was geschehen war.

»Globalisierung, Europäisierung, Freizügigkeit und Migration lassen sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten Protestbewegungen entstehen, die alle um den Verlust der sozialen Anwartschaft fürchten, die sich im Rahmen des Sozialstaats entwickelt hat.«

Auch verschiedene Linke vertraten während des Zweiten Weltkriegs proeuropäische Positionen. So forderten italienische Sozialisten 1941 im »Manifest von Ventotene« ein freies und einiges Europa. Dieser proeuropäische Antifaschismus wurde spätestens durch die Neue Linke Ende der sechziger Jahre von einer sehr viel kritischeren Sicht abgelöst. Entweder sah man Europa auf dem Weg zu einem eigenständigen Imperialismus oder erklärte es zum Helfershelfer des amerikanischen. Da Sie zu dieser Zeit selbst in die Debatten der Neuen Linken involviert waren: Inwiefern galt Europa in Teilen der Linken als Fortschritt und wurde die europäische Integration auch als Projekt einer Li­beralisierung Deutschlands wahrgenommen? Oder war eine solche Sicht unter den Bedingungen des Kalten Kriegs gänzlich verstellt?
Da würde ich im Nachhinein auch mir selbst eine gewisse politische Blindheit vorwerfen. Und zwar insofern, als die Linke damals, ohne dass sie es spürte, viel zu stark entweder im rein nationalstaatlichen Rahmen argumentierte oder im internationalistischen. Man war Internationalist und hat sich zugleich, wenn es um die soziale Frage ging, im Nationalstaat bewegt. Das ist übrigens ein ganz wichtiges Problem, das auch die Gegenwart berührt und vieles zu erklären vermag: Dass man nämlich in weiten Teilen der Linken heute sowohl antieuropäisch und antiglobalistisch ist, als auch der Migration mit großer Reserviertheit gegenübersteht.
Der Grund dafür ist das Zusammengehen zweier Prinzipien im 19. Jahrhundert – vor allem in der deutschen Entwicklung, aber auch in der europäischen. Die Einigung des Deutschen Reichs unter Bismarck 1871 ging bekanntermaßen einher mit der Etablierung dessen, was wir heute als Sozial- oder Wohlfahrtsstaat bezeichnen. Nationalstaat und Wohlfahrtsstaat bilden zwei Seiten einer Medaille insofern, als der Genuss sozialer Sicherungssysteme, die wir seit dieser Zeit kennen, an die Staatsbürgerschaft geknüpft ist. Das ist natürlich ein Problem und erklärt auch, weshalb bestimmte Strömungen oder Parteien – ohne erst einmal analytisch zwischen links und rechts zu unterscheiden – solche der sogenannten sozialen Anwartschaft sind. Menschen haben Anwartschaften. Sie kumulieren Rechte, Renten und Eigentum – auch in der Generationenfolge. Sie sind Teil einer Tradition, die über ihre konkrete Generation hinausgeht. Dieses Konzept wird schnell zerrüttet. Das führt zu xenophoben, also fremdenfeind­lichen Reaktionen, was indes mit Rassismus verwechselt wird, ein Wort, das inzwischen völlig inflationär gebraucht wird. Die Feindlichkeit in England etwa richtet sich in erster Linie gegen polnische Arbeitsmigranten und ist nicht primär Ausdruck von Rassismus – oder alle Diskriminierung ist Rassismus, auch die von »Weißen« anderen »Weißen« gegenüber. Und wie die Iren im 19. Jahrhundert London erbaut haben, sind es heute die polnischen Arbeiter und Handwerker, die es instand halten. Sie sind sozusagen die Gegner – erlauben Sie mir den polemischen Schwenk – der englischen Arbeiterklasse. Globalisierung, Europäisierung, Freizügigkeit und Migration lassen sowohl auf der Linken als auch auf der Rechten Protestbewegungen entstehen, die alle um den Verlust der sozialen Anwartschaft fürchten, die sich im Rahmen des Sozialstaats entwickelt hat.

»Annäherungen geistiger Art sind zwischen Deutschland und Russland plötzlich wiederzuentdecken: Natürlichkeit gegen die angebliche Kälte des Westens. Sie werden sehen, die Abkehr vom Westen und das Gefühl, man sei eigentlich von jenem besetzt worden, von der amerikanischen Umerziehung und allem, was damit einhergeht und was angeblich nicht der mitteleuropäischen kontinentalen Kultur entspricht, werden wachsen, auch in Deutschland.«

In den sechziger und siebziger Jahren war etwas anderes relevant: Man scherte sich eigentlich nicht um Europa. Es gab zwar Europadiskurse, die aber weitestgehend abgehoben, abstrakt kapitalismuskritisch waren. Ich erinnere mich an das Buch von Ernest Mandel über das »Europa der Konzerne« und ähnliches. Das war eine ganz fremde Welt, man wusste nicht genau, um was es geht. In den politischen Auseinandersetzungen, die dann etwas später einsetzten, ging es um »Milchseen« und »Butterberge«. Stattdessen gab es den Internationalismus: Die Identifikation mit nationalen Befreiungsbewegungen – in Vietnam oder Lateinamerika.
Ab den achtziger Jahren stand Europa dann, wenn man so will, zwischen dem früheren Internationalismus und einem nationalstaatlichen Denken, das man ablehnte. Es bildete das Gegengift gegen einen möglichen Nationalismus und gegen das, was man unter Fremdenfeindlichkeit und Rassismus verstand. Man musste europäisch sein, um der Drohung eines sich ethnisch verstehenden, der Migration feindlich gegenüberstehenden Nationalstaats zu widerstehen. So beschrieben etwa Anfang der neunziger Jahre Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid in ihrem Buch »Heimat Babylon« eine neue Gesellschaft, die von Migranten und anderen im europäischen Kontext realisiert werden sollte. Das war der Übergang, als radikale Linke begannen, sich für Europa zu interessieren. Ich hatte immer das Gefühl, dass dies auch eine Kompensation für den Verlust dessen war, ­woran man früher geglaubt hatte – an die Revolution und an den Internationalismus. Beides war verlorengegangen.
Europa stellte also eine Art Kompromiss dar zwischen dem Internationalismus und dem, was sich zunehmend als Menschenrechtsdiskurs einstellte. Und was hinzukam und in seiner gewaltigen Auswirkung nicht übersehen werden darf: Der Verfall des Kommunismus, die Auflösung der Sowjetunion und damit das Ende des Kalten Kriegs. Wir leben immer noch im Zeichen dieser Ereignisse, auch wenn sie vielen schon lange her erscheinen mögen.

In verschiedenen Beiträgen haben Sie die derzeitige Krise der Euro­päischen Union mit dem Erstarken Russlands auf der politischen Weltbühne verknüpft und Parallelen zu einschlägigen geopolitischen Konstellationen des 19. Jahrhunderts gezogen. Als Ursache für die heutige Situation nennen Sie etwa das Ende des Kalten Kriegs, die deutsche Hegemonie innerhalb der EU und letztendlich auch die Ankunft Hunderttausender Flüchtlinge in Europa sowie die Bereitschaft der deutschen Bundesregierung, die Grenzen zu öffnen. Könnten Sie Ihre These von der Rückkehr des 19. Jahrhunderts dahingehend noch einmal ausführen?
Das ist natürlich nur eine Metapher – es geht nicht um eine buchstäbliche Rückkehr in das 19. Jahrhundert. Aber unsere politische Erkenntnis und die damit zusammenhängenden Begriffe stehen noch sehr stark im Schatten des Kalten Kriegs, weshalb wir Schwierigkeiten haben, Tendenzen wahrzunehmen, die uns mit einer weiter zurückliegenden Zeit konfrontieren. Jemandem wie Marx wäre das im Übrigen überhaupt nicht fremd gewesen, wie man seinen Schriften über Russland entnehmen kann. Lesen Sie wieder Marx! Er könnte heute unter anderem Namen publizieren und keiner würde merken, dass es sich um eine Person aus dem 19. Jahrhundert handelt. Aber Spaß beiseite.
Beginnen wir bei den Staaten des vormals sowjetischen Machtbereichs: Polen, Ungarn, Tschechien, der Slowakei. Sie sind heute nationalistisch, ethnozentrisch und geben der Bezeichnung, unter der sie nach 1947/1948 benannt worden sind, in einer anderen Weise völlig Recht – Volksrepubliken. Ein Land wie Polen wurde nach 1945 zum ersten Mal zu einem homogenen polnischen Gemeinwesen. Die Juden waren ermordet, die Deutschen waren vertrieben, die Ukrainer jenseits der Grenze – endlich verfügten die Polen über einen Nationalstaat. 70 Jahre später kommen die Europäer und ­erzählen den Polen – und hier überzeichne ich –, wie sie sich verwestlichen sollen: Individualität anstelle von Kollektivität, Pluralismus anstelle von Homogenität, Schwulenrechte etc. Und die Polen denken: »Nanu, jetzt haben wir uns vom Sowjetjoch befreit, wir haben endlich unseren Nationalstaat, und plötzlich erzählen uns diese Europäer in Brüssel, wie wir zu leben haben? Das wollen wir nicht! Und das machen wir jetzt an der Flüchtlingsfrage fest. Wir sagen: Nein, wir nehmen keine Flüchtlinge auf!« In Polen gab es nach 1945 einen Marschall, Konstantin Rokossowskij, der als ethnischer Pole und Sowjetgeneral polnischer Ver­teidigungsminister war. Heute begreifen die Polen den ehemaligen polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk, der mittlerweile in Brüssel dem Europäischen Rat als Präsident vorsteht, als eine Art Wiedergänger Rokossowskijs, der jetzt den Polen erzählt, wie sie zu leben haben, eben nur vom Westen her. Ich habe für die gegenwärtige polnische Regierung kein Verständnis, aber es gilt zu begreifen, was in diesen ehemaligen kommunistischen »Volksrepubliken« vor sich geht. Was also gegenwärtig passiert, ist aus der Inkubationszeit des Kalten Kriegs erwachsen. Das gilt auch für andere osteuropäische Staaten. Plötzlich haben wir es mit ethnisch homogenen, nationalistischen Gemeinwesen zu tun, die sich einer weiteren Verwestlichung, die sie mit der EU in Verbindung bringen, erwehren. Das müssen wir nicht befürworten, aber wir sollten uns nicht darüber wundern, vor allem, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie etwa der Prä­sident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, die Polen abkanzelte. In einem Artikel in der FAZ schrieb er oder sagte in einem Interview, angesichts der Ungleichverteilung von Lasten in der EU und der polnischen Weigerung, Flüchtlinge aufzunehmen, könne auch der »Spieß umgedreht« werden. Den Polen nach dem 1. September 1939 in deutscher Sprache Mores lehren zu wollen, klingt merkwürdig, in polnischen Ohren nachgerade dramatisch, auch wenn die Kritik in der Sache berechtigt ist. Aber Schulz bemerkt den Ton nicht und dieser Ton ist jener der Hegemonie.
Was Russland betrifft, so war der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht nur der eines politischen Systems. Er betraf recht eigentlich die Struktur des alten russischen Imperiums, es war faktisch ein Prozess der Dekolonisierung. Auf dem vormaligen Gebiet der Sowjetunion sind Staaten entstanden, die einst im Prozess der kontinentalen Expansion Teil des Russischen Reichs geworden waren. Da die neunziger Jahre in Russland, was Modernisierung angeht, verloren gegangen sind, greift Putin zu Mitteln der Großmachtpolitik, die als Kompensation herhalten soll. Diese Politik funktioniert darüber, dass Russlands Umgebung, vor ­allem im Westen – also Polen, die baltischen Staaten, bis hinunter zur Türkei –, in Unruhe versetzt wird durch Ungewissheiten, durch poröse, aufgeraute Grenzen. Auch Europa und das europäische Projekt werden von dieser Strategie berührt, wie wir an der Frage der Ukraine beobachten konnten.

»Jetzt bestehen noch politisch akzeptable Mehrheiten. Aber die stammen aus einer Vergangenheit, die mit der alten Bundesrepublik und der stabilen Zeit des Kalten Krieges in Verbindung stand. Diese Vergangenheit wird oft abgetan, vor allem was die Drohung mit dem Atomkrieg angeht. Aber rückblickend war das eigentlich ein Goldenes Zeitalter, im damaligen Westen wohlgemerkt.«

Das Problem besteht freilich darin, dass die Europäer das politische Denken verlernt haben. Seit den Pariser Verträgen von 1954, die die Bundesrepublik in die Souveränität entließen und gleichzeitig in das europäische Projekt einbanden, hatte es den Anschein, als wäre Europa zu einem Projekt der Modernisierung und der Demokratisierung geworden. In den siebziger Jahren wurde Spanien aufgenommen, ebenso Portugal und Griechenland. Als Europa Anfang der achtziger Jahre in eine Krise geriet, die mit dem Begriff der Eurosklerose beschrieben wurde, als man das Gefühl hatte, es herrsche Stillstand, brach plötzlich der Kommunismus zusammen, wodurch sich ein freies Feld der Modernisierung und der Demokratisierung der vormaligen Volksrepubliken eröffnete. Man stellte der Ukraine Beitrittsverhandlungen in Aussicht und war plötzlich – man hatte ja keinen Blick für die Geschichte – im Vorhof Russlands angelangt. Und da sich Russland in einer Definitionskrise befindet, verfolgt es das Ziel, die Europäische Union auseinanderzutreiben, wobei es ein Land besonders im Blick hat – Deutschland. Und das ist der Reflex auf das 19. Jahrhundert.
Russland ist heute wieder, was es im 19. Jahrhundert war, als man es den »Gendarmen von Europa« nannte: sozusagen ein Hort der Reaktion und des Konservativismus. Nehmen Sie die rechten Parteien in Europa, von denen immer gesagt wird, es seien populistische Parteien, dabei sind es eigentlich genuin rechte, nationalistische Parteien: Der Front National wird vom Kreml finanziert, die AfD pflegt beste Beziehungen zu Putin, ebenso die FPÖ, die Sanktionen gegen Russland vehement ablehnt. Und damit rollt Russland Europa und die EU auf, mit Deutschland im Blick.
Sofern diese Prognose – vor dem Hintergrund des 19. Jahrhunderts – stimmt, werden die zukünftigen Jahre sehr unangenehm werden. Wenn hierzulande plötzlich keine Koalitionen mehr möglich sind, weil es eine nicht unbedeutende rechte Partei gibt, von der erst einmal alle sagen: »Mit der werden wir nie koalieren«, dann kann langfristig eine Verfassungskrise drohen. Jetzt bestehen noch politisch akzeptable Mehrheiten. Aber die stammen aus einer Vergangenheit, die mit der alten Bundesrepublik und der stabilen Zeit des Kalten Krieges in Verbindung stand. Diese Vergangenheit wird oft abgetan, vor allem was die Drohung mit dem Atomkrieg angeht. Aber rückblickend war das eigentlich ein Goldenes Zeitalter, im damaligen Westen wohlgemerkt.
Hinzu kommt, dass wir intellektuell gar nicht mehr entsprechend aufgestellt sind, um diese neue Re­alität zu verstehen und angemessen darauf zu reagieren. Ich will nur darauf hinweisen, dass die Sprache, die ich benutze, dem gegenwärtigen linken Diskurs fremd ist, nicht jedoch dem linken Diskurs des 19. Jahrhunderts. Der Primat des Sozialen oder der sozialen Sprache, die wir von den Sechzigern bis vielleicht sogar noch in die neunziger Jahre sprechen konnten, war eine Folge des Kalten Kriegs. Sie wird immer weiter zurücktreten und die Kämpfe, die gegenwärtig stattfinden, ob es um die Frage der Integration der Flüchtlinge geht, die EU oder die Globalisierung, werden jetzt Kämpfe um Deutungshoheit: Welche Sprache gilt, welche Begriffe gelten? Wir befinden uns in einer Phase des Übergangs und das sollten wir ernst nehmen.

»Auf alle Fälle ist Frau Merkel eines nicht, was man in der Politik sein sollte: pragmatisch. Pragmatisch bedeutet, 
sich einzugestehen, dass die Wahl vornehmlich die zwischen dem Schlechten und dem noch Schlechteren besteht und nicht zwischen dem Guten und dem Bösen. Die Unterscheidung zwischen gut und böse ist eine theologische. Und Deutschland ist noch immer ein durch und durch theologisches Land.«

Unserer Ansicht nach waren die Diskurse des Kalten Kriegs auch dadurch geprägt, dass es eine klare Vorstellung vom Westen gab, während in der Zeit danach wachsende Differenzen unter den europäischen Partnern beobachtet werden konnten. Nun ist aber der Westen nie eine Lieblingskategorie der Linken gewesen, sondern wurde eher mit Herrschaft, globaler zumal, in Verbindung gebracht, mit Kolonialismus, mit der Unterstützung undemokratischer Regime etc. Ist nach dem Ende des Kalten Kriegs die klare Bestimmung dessen, was der Westen ist, verlorengegangen? Was hätte das politisch zu bedeuten?
Die Vorstellungen vom Westen sind jeweils unterschiedlich. Im Zeichen des Kalten Kriegs war die Unterscheidung zwischen Ost und West eine ideologische. Der Westen stand für politische Freiheit im liberalen Sinne und der Osten für ein wortwörtliches Verständnis sozialer Gleichheit. Kuba liegt im Westen, war aber Teil des Ostens.
Jenseits dessen gibt es natürlich tiefere Dimensionen dessen, was Westen bedeutet. Einmal meint Westen die Gemeinwesen, die im Zeichen der sogenannten atlantischen Revolutionen standen, also der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Diese Länder zeichnen sich durch die Wertschätzung von Freihandel und Individualität aus, der Einzelne ist wichtiger als das Kollektiv. Östliche Gemeinwesen sind eher kollektivistisch geprägt, im Sinne auch des Nationalismus. Denken Sie an die Tradition der schottischen Aufklärung, an Adam Ferguson, David Hume oder Adam Smith, auch an die gesamte Philosophie des Kontraktualismus. All das ist in Russland bis heute unbekannt. Fragen Sie Unternehmer, die nach Russland gehen wollen, um dort Geschäfte zu machen: Während es im Westen nach Römischem Recht heißt »pacta sunt servanda« – Verträge sind einzuhalten –, ist das in Russland nicht üblich. Dort benötigen sie Kontakt zur Herrschaft. Die hingegen kann sich von heute auf morgen ändern.
Es gibt aber noch andere Vorstellungen, die den Westen betreffen, und hier kann man plötzlich feststellen, dass Deutschland vielleicht nicht so selbstverständlich zur westlichen Kultur im Sinne der westlichen politischen Tradition gehört wie angenommen. Denken Sie beispielsweise an den Ersten Weltkrieg, der ja nicht nur ein Krieg unter Machtstaaten war, sondern von deutscher Seite hochgejubelt wurde zum Krieg zwischen Kultur und Zivilisation, zur Abrechnung mit westlichem Empirismus, Rationalismus und Utilitarismus. Derartige Annäherungen geis­tiger Art sind zwischen Deutschland und Russland plötzlich wiederzuentdecken: Natürlichkeit gegen die angebliche Kälte des Westens. Sie werden sehen, die Abkehr vom Westen und das Gefühl, man sei eigentlich von jenem besetzt worden, von der amerikanischen Umerziehung und allem, was damit einhergeht und was angeblich nicht der mitteleuropäischen kontinentalen Kultur entspricht, werden wachsen, auch in Deutschland. Die gegenwärtigen Debatten, die Sprachlosigkeit und die Unfähigkeit, die derzeitige Situation in Worte und Begriffe zu fassen, sind Ausdruck der Defensive, in der sich unsere Gesellschaften befinden.

Die derzeitige Entwicklung Europas wirkt nachgerade absurd: Das Land mit der längsten liberalen Tradition – Großbritannien – tritt aus der EU aus, die beiden stärksten europakritischen Bewegungen existieren in Ländern, die mehrmals Leidtragende deutscher Besatzung waren – Frankreich und Polen – und von denen man annehmen könnte, dass sie die EU für die Einhegung Deutschlands zu schätzen wissen. Deutschland tritt demgegenüber als Muster­europäer auf und profitiert am stärksten von der europäischen Integration. Dabei haben Frankreich, Großbritannien und Polen schon anlässlich der Wiedervereinigung auf die Gefahr einer deutschen Hegemonie hingewiesen. Weshalb ist es trotzdem zu dieser hegemonialen Stellung Deutschlands gekommen, die doch mittels der europäischen Integration verhindert werden sollte?
Eigentlich ist es relativ einfach: Deutschland ist das größte europäische Gemeinwesen, mit der größten Bevölkerungszahl. Zudem greift es auch in jene Bereiche aus, mit denen es kulturell und über die Industria­lisierungsgeschichte in Verbindung steht. Wenn Sie kurz die modernen Bezeichnungen weglegen und von Mitteleuropa als den historischen Regionen Böhmen, Mähren, Posen usw. sprechen, dann werden Sie mit Blick auf die dort gelegenen Stand­orte der deutschen Automobilindustrie, ihrer Fabriken und Zulieferer, feststellen, dass diese auf alte Strukturen zurückgreifen. Das ist in Ostasien nicht anders: Wenn Sie die Region der großen japanischen Inves­titionen in Nordchina betrachten, dann merken Sie, dass sich diese mit Mandschukuo und anderen Gebieten deckt, die die Japaner in den zwanziger und dreißiger Jahren beherrscht haben. Es gibt also Strukturen, eine gewisse Form von Kenntnis und Nähe, kurz: historisch gewachsene Standortvorteile. Deutschland ist nicht nur ökonomisch das Land, das in den Grenzen der neuen Bundesrepublik existiert, es strahlt weit aus. Im gesamten mitteleuropäischen Raum ist es durch seine unglaubliche indus­trielle Kraft präsent und auch durch die kulturelle Nähe von Produktionsformen. Dadurch unterscheidet es sich auch von anderen Volkswirtschaften wie Frankreich oder Italien, die in Europa an zweiter oder dritter Stelle stehen.
Deutschland ist also a priori hegemonial. Ein Mann wie Konrad Adenauer hat das verstanden. Aber wenn Deutschland das nicht mehr weiß und so handelt, wie es handelt, weil es so handeln kann, dann birgt dies Risiken. Schauen Sie, Frau Merkel ist sicher eine passable Kanzlerin, gewiss. Substantiell kann wenig gegen sie vorgebracht werden. Wer mag ­etwas dagegen vorbringen, dass die Atomkraft in Deutschland mit einem Federstrich abgeschafft wurde? Wurden andere, die am deutschen Atomstrom in Europa hängen, darüber befragt? Die Tschechen, die Slowaken, die Slowenen? Die hörten aus der Presse vom Atomausstieg. Als müsste man für eine so gute Tat die anderen in Europa nicht fragen. Man schließt mit Russland einen Vertrag über die Lieferung von Gas über die Ostsee – dass da noch Polen dazwischen liegt, das hat man irgendwie nicht mitgekriegt. Aber den Polen geht – entschuldigen Sie, wenn ich das so sage – der Arsch auf Grundeis. Es gibt diesen Witz, der jetzt in Polen erzählt wird: Lawrow und Steinmeier treffen sich im Hilton-Hotel zu Warschau zum Frühstück, rufen den Kellner zu sich und sagen: »Herr Kellner, bringen Sie mal die Karte!« Und da bringt er ihnen die Karte Polens. (Lachen) Darüber kann man ­lachen, aber plötzlich gibt es Erschütterungen, die mit unserer Gegenwart, mit den letzten 30 bis 40 Jahren gar nichts zu tun haben. Ohne Zweifel hat die Kanzlerin hinsichtlich der Flüchtlinge völlig richtig gehandelt. Aber hat sie die europäischen Partner angerufen, und sei es nur, um mitzuteilen, was sie vorhat? Nein. Sie hat selbst entschieden, und noch dazu für ganz Europa. Das ist Hegemonie.

»Ohne Zweifel hat die Kanzlerin hinsichtlich der Flüchtlinge völlig richtig gehandelt. Aber hat sie die europäischen Partner angerufen, und sei es nur, um mitzuteilen, was sie vorhat? Nein. Sie hat selbst entschieden, und noch dazu für ganz Europa. Das ist Hegemonie. Was Merkel entgeht, ist, dass Deutschland sich plötzlich immer stärker heraushebt und sich aus der Verankerung Europas zu lösen beginnt.«

Was Merkel entgeht, ist, dass Deutschland sich plötzlich immer stärker heraushebt und sich aus der Verankerung Europas zu lösen beginnt. Das ist der gegenwärtige Prozess – keine Knobelbecher, kein bellender Ton (abgesehen von Herrn Schulz), sondern es hebt sich einfach heraus. Und man hat den Eindruck, dass der einzige, der das versteht, Putin ist. Er sieht genau das, worüber wir hier sprechen. Die Briten driften ab; in Frankreich – ich glaube nicht, dass Marine Le Pen gewählt werden wird – haben sowohl die Republikaner als auch die Sozialisten immer mehr Programmpunkte des Front National übernommen: »Für den französischen Arbeiter, gegen Europa!«, Nationalstaat und ­Sozialstaat als Einheit – das ist heute der französische Nationalismus, auch von links. Wenn das so weitergeht, wird bei Kehl am Rhein die Schranke runtergehen. Und wenn das passiert, dann geht sie nicht so schnell wieder hoch. Ich übertreibe natürlich, aber diese Tendenzen nehme ich wahr.

Angela Merkel hat ihre Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen aus Syrien auch damit ­begründet, Deutschland müsse dies mit Blick auf die eigene Geschichte tun. Bei den europäischen Nachbarn galt dieser Aspekt – Deutschland präsentiert sich als ein Staat, der im besonderen Maße aus der Vergangenheit gelernt habe – als weitere Facette des deutschen Affronts. Vor dem Hintergrund, dass sicherlich zahlreiche Linke die Haltung Merkels – im Gegensatz zu den Ereignissen zu Beginn der neunziger Jahre – zunächst positiv beurteilten und eine fortschrittliche Veränderung der politischen Landschaft konstatierten: Gibt es in Bezug auf die Flüchtlingspolitik oder auf die Fragen, wie den damit einhergehenden Anforderungen in Europa begegnet werden kann, überhaupt so etwas wie einen angemessenen Bezug auf die Vergangenheit?
Die Aufnahme von Flüchtlingen ist eine humanitäre Selbstverständlichkeit. Sie steht jenseits der Politik. Gleichzeitig gibt es die Politik und es ist die Aufgabe der Bundeskanzlerin – sie schwor ja auf die Verfassung –, Schaden vom Land abzuwenden. Schäden sind jedoch in Europa entstanden, was die Frage der Integration und die Einbindung Deutschlands angeht. Meines Erachtens hätte Angela Merkel besser daran getan, die Aufnahme der Flüchtlinge nicht mit dieser Rhetorik zu begleiten. Die Alternative wäre gewesen: humanitär ja, aber auf politischer Ebene und mit Blick auf Europa einen anderen Ton bemühen. Merkels Rhetorik hat die Entwicklung mit einem Maß an Moral aufgeladen, das die Politik so nicht zu tragen vermag. Diese Rhetorik hat Entwicklungen mit angestoßen, die in Deutschland die politische Balance des Gemeinwesens berühren und in Europa die Integrationsfrage der Union stellen. Das ist nicht sorgfältig abgewogen worden.
Das ist die eine Ebene. Die andere – Sie haben tiefer gegriffen mit Ihrer Frage – hat wieder etwas mit Hegemonie zu tun. Es gibt eine politische Moral in Deutschland, stolz darauf zu sein, aus der Vergangenheit gelernt zu haben. »Aus der Vergangenheit lernen … « – Ich weiß nicht, was das bedeuten soll. Meist wird es mit dem Holocaust in Verbindung gebracht und ich frage mich dann, ob man aus dem Holocaust ­irgendetwas lernen kann, was man nicht ohnehin – sagen wir: als anständiger Mensch – hätte wissen können. Beziehungsweise, dass es das nicht braucht, um sich angemessen zu verhalten im Sinne einer univer­salen und ungeteilten Menschlichkeit. Aber es gibt in Deutschland so etwas wie eine kontraphobische Reaktionsbildung auf die nationalsozi­alistische Vergangenheit. Kontraphobisch bedeutet, man sucht so zu handeln, wie man glaubt, dass es das Gegenteil dessen ist, was der Nationalsozialismus war.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Der Autor Peter Richter, der den Wiedervereinigungsprozess erlebt hat, berichtete in einem Interview über seinen Roman »89/90«, sein Protagonist sei links geworden, weil er nicht rechts werden wollte. Heißt das: Ich bin eigentlich rechts, will das aber auf keinen Fall sein? Ist das der tiefe Grund eines linken Bekenntnisses? Das ist, glaube ich, eine sehr problematische Grundlage für ein linkes Selbstverständnis, jene Befürchtung, rechts zu werden oder rechts zu sein und sozusagen als Antidot links zu werden. Das meinte ich mit kontraphobisch.
Auf alle Fälle ist Frau Merkel eines nicht, was man in der Politik sein sollte: pragmatisch. Pragmatisch bedeutet, sich einzugestehen, dass die Wahl vornehmlich zwischen dem Schlechten und dem noch Schlechteren besteht und nicht zwischen dem Guten und dem Bösen. Die Unterscheidung zwischen gut und böse ist eine theologische. Und Deutschland ist noch immer ein durch und durch theologisches Land. Die Kanzlerin hat das zwar nicht gesagt, aber ein Jahr vor dem Luther-Jubiläum klang das so: »Hier stehe ich und kann nicht anders.« Das ist nicht politisch, das ist nicht pragmatisch, das ist theologisch. Ich betreibe keine Kanzlerinnenschelte, sondern betone nur, dass in die Politik plötzlich Dinge eingreifen, die aus Sphären kommen, die uns so im politischen Alltag gar nicht geläufig sind. Und das hat etwas mit politischer Kultur zu tun.

Seit den Diskussionen über den »Brexit« kursieren verschiedene internationale und deutsche Aufrufe für einen linken Austritt aus dem Euro-System. Sie wurden teilweise von namhaften Personen wie Oskar Lafontaine oder dem Mitbegründer von Attac Deutschland, Peter Wahl, unterschrieben. Der Ausstieg aus dem Euro soll die währungspolitische Souveränität von Staaten wie Griechenland oder Spanien wiederherstellen. Gleichzeitig wird die Spar- und Lohnsenkungspolitik kritisiert, die maßgeblich zur deutschen Exportstärke beigetragen hat und eben auch die Krisen­entwicklung in der europäischen Peripherie befeuert. Diese scheinbar linken Forderungen nach ­einer Rückgewinnung nationalstaatlicher Souveränität erinnern sehr stark an rechte Positionen …
Das sind rechte Positionen!

… und wir fragen uns, ob sie gute Antworten auf die Positionen von Pegida, der AfD oder des Front National sind oder ob hier nicht ein gefährlicher Schulterschluss droht?
Lassen Sie mich kurz rekapitulieren: Europa ist als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstanden, wenn auch erst nach dem Zweiten. Es ging darum, im Kontext des anhebenden Kalten Kriegs Deutschland zu integrieren und zu neutralisieren. Insofern ist Europa ein Friedensprojekt, auch wenn ich das Wort nicht mag. Wenn nun allerorts gefordert wird, dieses Integrationsprojekt rückgängig zu machen, halte ich dies für bedenklich. Wir haben jetzt den Euro, es wäre besser gewesen, ihn damals noch nicht einzuführen, aber er war ein Vorhaben, Deutschland einzuhegen. Aber die deutsche Wirtschaftskraft ist dominant in den Euro eingegangen. Die Deutschen empfinden das natürlich nicht so. Für sie ist der Euro eine Art Lira und dies auf Kosten der Deutschen. Aber für alle anderen ist der Euro umgekehrt eine verdeckte D-Mark, mittels derer die deutschen Sekundärtugenden des Wirtschaftens und Haushaltens anderen unerbeten auferlegt werden. Das wird als imperialistisch beziehungsweise als hegemonial empfunden.
Eine Auflösung des Europäischen würde hingegen die Verankerung Deutschlands in Europa zerstören und ganz anderen Tendenzen Auftrieb geben. Die AfD hatte ursprünglich mit Einwanderung oder Flüchtlingsfragen nichts zu tun. Es ging ihr im Kern um den Euro, das war der Mobilisierungseffekt. Und wenn sie die außenpolitische Orientierung der AfD zur Kenntnis nehmen, wird die Nähe zu Russland deutlich, eine Ablehnung Amerikas, Europas, des Euro – also all jene historischen Verankerungen, die für Deutschland nach 1945 als sakrosankt galten.
Was bedeutet das in und für Europa? Wenn die bestehenden Strukturen zerstört werden, droht ein Verfallsprozess. Russland beobachtet diesen Prozess und Amerika zieht sich zurück. Ich will als Historiker nicht gleich das Jahr 1920 evozieren, als der damalige Präsident der Vereinigten Staaten, Woodrow Wilson, erst eine Friedensordnung entwickelt und den Völkerbund etabliert hat, Amerika ihm dann aber nicht beitrat. Die Europäer blieben unter sich und was die Folgen waren, wissen wir.
Die von Ihnen genannten linken Argumente sind nationalistisch. Und alle nationalistischen Argumente, ob sie von links kommen oder von rechts, sind rechte Argumente, völlig egal, ob sie unter einer schwarzen oder einer roten Flagge paradieren. Als ich vor Jahren Oskar Lafontaine hörte, bekam ich große Ohren, als er sich über die »Fremdarbeiter« äußerte. Alles was dann folgte, war irgendwie logisch, bis in die Gegenwart hinein. Was sich für links erklärt, muss noch lange nicht links sein. Was hinter die Aufklärung, hinter den Universalismus bzw. den Internationalismus, wie ihn die Linke verstanden hat, zurückfällt, ist nicht mehr links.
Was die AfD betrifft – ich bin kein Politologe, aber eines ist auffällig: Die AfD kannibalisiert fast alle Parteien. SPD und CDU wiederum sagen: Ja, wir sind keine Volksparteien mehr. Mit 20, höchstens 30 Prozent ist man das in der Tat nicht. Ich will nicht gleich sagen, dass die AfD eine Volkspartei ist, aber vielleicht ist sie eine Volkspartei im Sinne des Volks, wie die AfD es versteht. Sie ist im Übrigen die erste wirklich gesamtdeutsche Partei. Alle anderen sind noch bundesrepublikanische Parteien beziehungsweise in der Folge oder aus der DDR heraus entstanden. Nicht die AfD, sie ist eine völlig neue, eine deutsche Partei. Alle großen Parteien tragen natürlich das »D« im Namen. Aber die SPD hat sich nie wirklich als »deutsch«, sondern als sozialdemokratisch verstanden. Schauen Sie sich die SPD heute an, wie sie schwankt und wankt zwischen links und rechts. Lesen Sie, was Sozialisten wie August Bebel oder Wilhelm Liebknecht über den Freihandel geschrieben haben: Das war das A und O sozialdemokratischer Politik. Derzeit dagegen ist es fast ein Ausweis einer linken Position, gegen den Freihandel zu sein. Insofern kann ich Ihnen leider nicht mit einem anderen Bilde dienen, denn all diese Aspekte gehören eigentlich zum ABC der politischen Aufklärung.

»Putin weiß genau, wie man die Europäer auseinandertreibt. Alles, was Russland tut, ist darauf gerichtet, im eigenen Handeln unkalkulierbar zu sein und darüber Unsicherheit bei allen zu säen. Schauen Sie sich an, wie Putin in Syrien agiert oder wie er die Türkei behandelt … In jeder Hinsicht streut er Unruhe.«

Das Bild, das Sie zeichnen, ist tatsächlich düster: imperiale Mächte, die sich wiederentdecken, nationalstaatliche Rivalitäten in Europa, ein wieder aufsteigender deutscher Hegemon, eine starke Rechte, nationalkonservative Regierungen, die sich gegen Verwestlichung aussprechen, und eine Sozialdemokratie, die orientierungslos zu agieren scheint. Gibt es noch eine politische Kraft, die nicht hinter die Freizügigkeit des Kapitals zurückfällt, die aber gleichzeitig reflektiert, dass die ökonomische Dominanzpolitik zum Auseinanderdriften Europas beiträgt?
Das ist eine hochpolitische Frage, der ich mich nur diagnostisch widmen kann. Das Diagnostische folgt aus der Rückschau – sowohl biographisch als auch, so glaube ich wenigstens, mittels meiner historischen Expertise.
Seit 1945, und das gilt für den Osten wie für den Westen gleichermaßen, leben wir in einer der längsten Friedensepochen, die die europäische Geschichte jemals aufzuweisen hatte. Die ältesten aktiven Politiker sind etwa Mitte der fünfziger Jahre geboren, die jüngsten Parlamenta­rier in den achtziger Jahren. Was sind ihre Existenzerfahrungen? Ein ab­soluter Zustand von Frieden. Die gesamte Politikergeneration hat keine existentiellen Erfahrungen mehr gemacht. Also solche, in denen es – tut mir leid, das so zu sagen – um Leben und Tod geht oder für die gilt: Wenn ich etwas riskiere, dann ist nicht nur meine Wiederwahl, sondern viel mehr gefährdet. Das fehlt, im Gegensatz zu jener alten Generation, von der ich eingangs gesprochen habe: den Adenauers, De Gasperis, Schumans. Deren Erfahrungen bildeten ihr politisches Kapital. Die Frage ist, welches politische Kapital die gegenwärtige und zukünftige Politiker­generation hat, was ihre Referenz ist, wie sie abwägen kann zwischen schlecht und schlechter (und nicht zwischen gut und böse).
Bei diesen Fragen ergreift mich ein mulmiges Gefühl. Ich habe den Eindruck, der politische Raum ist leergefegt. Mag sein, dass das alles nicht stimmt, aber wenn ich mir die Parameter vor dem Hintergrund der Vergangenheit anschaue und sehe, dass zumindest eine Person das auch so sieht, nämlich Wladimir Putin, dann scheint mir die Prognose nicht ganz unzutreffend. Putin weiß genau, wie man die Europäer auseinandertreibt. Alles, was Russland tut, ist darauf gerichtet, im eigenen Handeln unkalkulierbar zu sein und darüber Unsicherheit bei allen zu säen. Schauen Sie sich an, wie Putin in Syrien agiert oder wie er die Türkei behandelt … In jeder Hinsicht streut er Unruhe. Wenn man sieht, in welcher Verfassung Europa ist und dass die alten Haarnadelrisse der europäischen Geschichte sich sozusagen tektonisch immer stärker ausweiten, dann liegt eine solche Einschätzung nicht fern. Jedenfalls sehe ich nicht, dass andere bessere oder abweichende Einblicke in die Gegenwart und die Zukunft anböten.
Bei alldem hoffe ich nur, dass sich das Verhältnis zwischen Deutschland und Frankreich nach der französischen Präsidentschaftswahl nicht wandelt. Denn wenn sich, um im Bild zu bleiben, am Rheingraben das tektonische Auseinandertreten fortsetzt, dann haben wir einen Rubikon überschritten. Ich weiß nicht, ob die Politik so denkt, denn wenn ich die Politiker höre, lese und mitbekomme, wie und was sie denken, dann habe ich den Eindruck, sie wissen gar nicht, auf welchem Parkett sie sich bewegen. Das hat etwas von dem Buch Christopher Clarks: »Die Schlafwandler«. Und das ist beunruhigend.

Damit sind wir fast am Ende. Eine Frage wollen wir Ihnen noch stellen, die womöglich ein wenig fehl am Platz wirkt, weil sie so grundsätzlich ist. Wir hatten Sie eingeladen, uns die historische Dimension Europas näherzubringen. Warum haben Sie sich bereit erklärt, das hier und für uns zu tun? Sie verkehren ja nicht jede Woche in einem Raum wie dem Conne Island, einem soziokulturellen Zentrum mit linkem Anspruch und der ganzen damit einhergehenden Bedeutung im Sinne eines klar politisch konnotierten Ortes. Was ist Ihre Motivation?
Es gibt eine kleine Motivation und es gibt eine große Motivation. Die kleine Motivation – viele Gesichter hier im Raum sind mir bekannt – ist die, dass ein nicht unerheblicher Teil, um nicht zu sagen der größere oder der Großteil der jungen Akademiker, die an das von mir bis vor zwei Jahren geführte Simon-Dubnow-Institut gekommen sind, aus Ihrem Milieu stammen. Und diese Personen hatten, wie alle Studenten, Fragen. Ich habe meine Aufgabe unter anderem darin gesehen, diese Fragen am akademischen Gegenstand be­arbeiten zu lassen. Das ist die kleine Antwort. Die große Antwort ist, dass ich davon ausgegangen bin, dass die sich heute hier versammelnden Personen a priori – was sie auch in der einen oder anderen Frage im Einzelnen politisch denken mögen – davon ausgehen, dass es so etwas gibt wie die ungeteilte Menschlichkeit, von der ich zuvor sprach. Und das ist Grund genug.