Die Moses-Statue von Herzogenrath hat eine kuriose Geschichte

Wie Moses die gute Laune verging

Kein Herzogenrath ohne Moses – eine nordrhein-westfälische Stadt pflegt ein besonderes Verhältnis zu einer Statue.

Begonnen hatte alles in den Nivelsteiner Sandwerken, die einige Kilometer außerhalb der Stadt liegen und in Jahr 1104 als Burgsiedlung zum ersten Mal urkundlich erwähnt wurden. Das ursprünglich zu Limburg gehörende Stadtgebiet wurde auf dem Wiener Kongress 1815 aufgeteilt, deswegen gibt es dort heutzutage zwei Städte, nämlich das niederländische Kerkrade und das deutsche Herzogenrath, das früher »’s Hertogen Rode«, also die Rodung des Herzogs, hieß.
Ein in den Nivelsteiner Sandwerken tätiger und als »besonders fromm« geschilderter Ingenieur namens Paul Dunkel – fromm steht in Herzogenrath immer noch für strikt katholisch – beauftragte vor mehr als 150 Jahren einen Bildhauer aus der Region damit, eine Skulptur zu schaffen, die den biblischen Moses darstellen sollte. Fast vier Meter groß und 7,5 Tonnen schwer fiel die Statue aus, dem damaligen Geschmack entsprechend also sehr imposant.

Die Herzogenrather waren derart begeistert, dass die Figur 1855 zur Weltausstellung nach Paris geschickt wurde. Der ganz große Ruhm blieb Moses und damit auch der Stadt jedoch verwehrt. Das Werk erhielt bloß eine Art Teilnahmeurkunde, wie man sie von den Bundesjugendspielen kennt. Die erhoffte Auszeichnung für hohen künstlerischen Wert gab es nicht. Das habe bloß daran gelegen, dass der Figur ein Stock fehlte, ist man sich in der Kleinstadt bis heute ziemlich sicher. Und selbstverständlich habe es keinesfalls daran gelegen, dass es sich bloß um eine weitere monumentalbiblische Bildhauerei handelt.

Es fand sich auf der Weltausstellung kein Käufer für Moses. Und weil man ihn in Paris auch nicht unbedingt länger als notwendig aufbewahren wollte, wurde er mit der Bahn zurück nach Herzogenrath geschickt. Unfrei – der Abholer hätte also für die Transportkosten aufkommen müssen. Blöd nur, dass niemand die Figur abholte. Was nach der Ankunft 1856 genau geschah, ist unklar, anscheinend aber hatte der Ingenieur Dunkel entweder keine Lust oder kein Geld, um die zweifellos hohen Fahrtkosten zu bezahlen. Und so wurde das Kunstwerk am Zielort kurzerhand ausgeladen. Vermutlich, weil irgend­jemand von der Bahn die Gefahr erkannte, die riesige Figur andernfalls auf ewig zwischen Herzogenrath und Paris herumzukutschieren.

Der Herzogenrather Bahnhof ist seit jeher ein trostloser Ort, dem es an allem mangelt, was Bahnhöfe anderswo wenigstens leidlich attraktiv macht. Es gibt auch heutzutage weder Läden, in denen man noch einkaufen könnte, wenn anderswo die Geschäfte schon geschlossen sind, noch ein Restaurant oder wenigstens eine Imbissbude. Der immerhin dank seiner Reise durch Frankreich welterfahrene Moses lag also jahrelang auf diesem Provinzbahnhof herum, bis einige Bahnangestellte eines Tages genug hatten und ein hölzernes Podest bauten, um ihn daraufzustellen.

Das Denkmal sei rasch eine Attraktion geworden, heißt es dazu auf der Seite der Herzogenrather Stadtverwaltung, und zwar nicht nur für die Bevölkerung, sondern auch »für Reisende, die mit dem Zuge an Herzogenrath vorbeifuhren«. Das Monument sei sogar im »Baedeker« erwähnt worden, berichtet der Autor stolz, der eigens einen Urenkel des Herausgebers des Reiseführers kontaktiert hat. Dieser wusste Folgendes zu berichten: »Ich habe festgestellt, dass mein Urgroßvater die Moses-Statue gleich nach deren Aufrichtung aufgenommen hat.« In »Baedekers Rheinlande«, 12. Auflage 1862, stehe nämlich auf Seite 317: »Am Bahnhof ein kolossaler Moses.«
Und so hätten alle in Ruhe miteinander alt werden können, der »kolossale Moses«, die Einwohner der Kleinstadt und die vorbeifahrenden Reisenden, wenn nicht eines Tages ein Unglück passiert wäre: Die Holzkonstruktion war unter der Figur morsch geworden und Moses fiel um. Als die Skulptur anschließend auf einen solideren Sockel gestellt wurde, war das selbstverständlich der Anlass für ein Fest: »Moses’ Auferstehung« hieß es, und es war vermutlich rauschend. Wann genau es stattfand, ist leider nicht bekannt, wohl aber, dass die Figur nicht sehr lange an dem Platz stand. Auf »Moses’ Auferstehung« folgte rasch das Fest »Moses’ Versetzung«, als die Figur aus unbekannten Gründen an einem anderen Ort aufgestellt wurde. Einige Jahre später wurde »Moses’ Erhöhung« gefeiert, was nicht nur viel über die Feierbereitschaft der Herzogenrather aussagt, sondern auch interessante Einblicke in ihre Denkweise gibt: Weil die um das Denkmal herum stehende Hecke stark gewachsen war, wurde nicht etwa kurzerhand diese geschnitten, sondern stattdessen das Podest der Sandsteinfigur erhöht.

Im Februar 1934 war es dann allerdings vorbei mit dem Herzogenrather Moses. Die Lokalzeitung berichtete: »Dienstagnacht wurde die Moses-Statue zerstört. Ein Teil hiesiger Geschichte ist uns hiermit verlorengegangen und wir sind überzeugt, dass die Täter nicht in unserer Gemeinde zu suchen sind. Kein hiesiger Bürger kann wegen solcher Grausamkeit und eines derartigen Mangels an Taktgefühl angeklagt werden. Wir hoffen sehr, dass die Zerstörer gefasst werden.« Sie wurden es nicht. Der Gärtnereibetreiber Hellbach war sich damals sicher, dass die Täter Nazis aus der Stadt gewesen seien, allgemein glaubte man aber unerschütterlich an auswärtige Täter, die sich aus Köln, vom Niederrhein und aus Aachen gemeinsam aufgemacht hätten, um den Moses zu zerstören.

Der Gärtnereibetreiber Hellbach war sich 1934 sicher, dass Nazis aus der Stadt die Moses-Statue zerstört hatten, allgemein glaubte man aber unerschütterlich an auswärtige Täter.

Hatten die Herzogenrather bis zu diesem Zeitpunkt nicht bemerkt, dass es unter ihnen Nazis gab und was mit ihren jüdischen Nachbarn geschah? Waren sie davon ausgegangen, dass der jüdische Metzger, der jüdische Schuhhändler und einige andere Ladeninhaber ihre Geschäfte nur ganz zufällig geschlossen und an ihrer Stelle »arische« Familien die Geschäfte übernommen hatten? Spätestens im Jahr 1942 musste ihnen auffallen, was mit den Juden geschah: Am 10. Juni 1942 hielt am Herzogenrather Bahnhof ein Zug mit mindestens 100 Kölner Juden, die von SS-Männern anschließend über die Hauptstraße der Stadt in Übergangslager ins benachbarte Würselen getrieben wurden. Die mehrheitlich alten Menschen, die auf Befehl des Gauleiters nach einem Fliegerangriff Ende Mai aus Köln vertrieben worden waren, weil ihre Wohnungen und ihr Besitz an »Arier« vergeben werden sollten, waren äußerst erschöpft, hungrig und durstig. Lediglich eine Herzogenratherin, erstaunlicherweise in BDM-Uniform, habe Mitleid gezeigt und einer Frau geholfen, ihr weniges Gepäck zu tragen. Die SS-Leute trauten sich offenbar nicht, die 17jährige Hildegard Wirtz aufzuhalten, die als »schüchtern, schmächtig, sehbehindert« beschrieben wird.

Eine Fluchtroute in die benachbarten Niederlande befand sich in Nivelstein/Finkenrath, ganz in der Nähe der Sandwerke, die das Moses-Monument hervorgebracht hatten. Der schon lange abgerissene Mühlenhof in der Nähe des Flusses Wurm wurde zum Anlaufpunkt für Menschen, die Hilfe brauchten. Dort war Anna Nöhlen als Fluchthelferin tätig, nach der heute eine Brücke benannt ist. Sie wurde 1940 verhaftet und starb 1942 im KZ Ravensbrück. Ob sie von Herzogenrathern verraten wurde, ist nicht bekannt.
Nach der Zeit des Nationalsozialismus war Moses nicht vergessen. 1964 versprach der örtliche Unternehmer Ferdinand Schmetz den Herzogenrathern eine neue Statue und beauftragte eigens einen Künstler aus Köln. Die neue Moses-Figur wurde selbstverständlich mit einem Fest, »Moses’ Wiederkehr«, gefeiert, das Zeitzeugen zufolge alles in den Schatten stellte, was es bisher an kolossalen Monumentenpartys gegeben hatte. Es gab einen »Heimatabend«, ein Brillantfeuerwerk sowie einen Sonderstempel der Post und der Schützenverein marschierte durch die Straßen.

Die feierliche Enthüllung der neuen Moses-Statue geriet jedoch zum Eklat. Statt des gütigen Mannes, der die Tafeln mit den zehn Geboten in seinen Händen hielt, hatte der Bildhauer Kurt-Wolf von Borries einen wütenden Moses erschaffen, der absichtlich nicht so überlebensgroß wie sein Vorgänger gehalten war und seinen Ärger deutlich zeigte. Dass Moses sehr viel Grund zur Ungehaltenheit haben könnte, kam den Kleinstädtern nicht in den Sinn. Nur eine Minderheit fand, der zornige Moses sei eine sehr gelungene Stellungnahme zur Ermordung der Juden durch die Nazis und sein Anblick eine tägliche Erinnerung daran, dass die Einwohner der Stadt kaum etwas getan hatten, um ihre Mitbürger zu schützen. Die Mehrheit war hingegen enttäuscht, weil der Neue nicht so ein gütig aussehender alter Mann war wie sein Vorgänger. Diese Bürger meinten außerdem, es sei überhaupt nicht nötig, an die Nazizeit zu erinnern, da diese lange zurückliege. Außerdem habe man nichts gewusst und es müsse doch langsam Schluss sein. Und ganz wenige kritisierten, der neue gleiche einer antisemitischen Karikatur.

Trotz allem lechzten die Herzogenrather offenbar immer noch nach Anerkennung in der Kunstwelt. Denn kaum war der neue Moses enthüllt, sollte er auch schon zur nächsten Weltausstellung. Dass es eine sehr eigenartige Idee war, sich mit der Moses-Statue bei den zweifellos über genug eigene Künstler verfügenden Machern des israelischen Pavillons auf der Weltausstellung anzubiedern, kam den Herzogenrathern anscheinend nicht in den Sinn. Aus dem Annäherungsversuch wurde nichts, wie Die Zeit damals berichtete: Die Statue habe die Leitung des Pavillons »erschreckt«, die »untersetzte Figur mit einer Dornenkrone auf dem Kopf« habe zur Frage geführt, ob sie nicht vielleicht »antisemitische Tendenzen habe«. Weil die Israelis die Herzogenrather der Zeit zufolge nicht »vor den Kopf stoßen« wollten, entschieden sie sich dazu, die »freundliche Offerte zurückzuweisen, weil die Idee der Moses-Statue nicht mit der eigenen übereinstimme«. Die Herzogenrather reagierten mit Unverständnis. In der Lokalzeitung hieß es: »1856 kehrte der Herzogenrather Moses ohne den erhofften großen Erfolg von der ersten Weltausstellung in Paris zurück. Dem neuen Moses werden nun die bereits geöffneten Tore des israelischen Pavillons vor seinem Einzug zugeschlagen. Damit ist anzunehmen, dass unser Moses gute Kunst dokumentiert, denn bekanntlich werden zwar teilweise gefällige, aber künstlerisch wertlose Werke nicht zur Diskussion Anlass geben.«

Nach einer längeren Zeit der Ruhe war Moses dann auf einmal weg. Irgendwann in der Nacht vom 22. auf den 23. April 2014 wurde die Statue gestohlen.

In den folgenden Jahren kam Herzogenrath nur sehr selten deutschlandweit in die Schlagzeilen. Am 1. November 1977 war es dann aber mit der beschaulichen Ruhe an der Neustraße und der Nieuwstraat vorbei: Die RAF-Mitglieder Rolf Heißler und Adelheid Schulz waren beim Versuch, ins Nachbarland zu gelangen, von niederländischen Zöllnern erwischt worden und hatten die beiden Beamten erschossen. Die Identität der Täter blieb lange unbekannt. Anscheinend kam in Herzogenrath und Kerkrade niemand auf die Idee, die Uniformtaschen der Getöteten zu durchsuchen, wo sich Jahre später die wohl zur Personenüberprüfung eingesteckten gefälschten Pässe fanden.
1997 zog Moses um, denn die Gegend um den Bahnhof wurde umgestaltet und sein bisheriger Standort passte nicht zu den Ideen der Verkehrsplaner. Dabei ging sein bisheriger Sockel kaputt, er musste ersetzt werden. 2002 beschloss der Stadtrat, den schmucklosen Basaltsockel um eine Plakette zu ergänzen, die an die Zerstörung des alten Moses durch Nazis erinnerte, und um ein Relief, dass die Vorgängerfigur zeigte.

Nach einer längeren Zeit der Ruhe war Moses dann auf einmal weg. Irgendwann in der Nacht vom 22. auf den 23. April 2014 wurde die Statue gestohlen. Obwohl die zuständige Aachener Kriminalpolizei sofort eine Suchmeldung veröffentlichte, wurde die Figur nicht wiedergefunden. Sie könnte kurz nach dem Diebstahl eingeschmolzen worden sein. Dass Moses Metalldieben zum Opfer fiel, ist wahrscheinlich, denn seine Verwertung dürfte lukrativ gewesen sein. Interessanterweise hatte ein Metalldiebstahl Herzogenrath und die umliegenden Ortschaften bereits einige Jahre zuvor in die internationalen Schlagzeilen gebracht. Eine DNA-Spur, die bei einem Buntmetalldiebstahl zurückgeblieben war, hatte 2007 zur Ergreifung des Mannes geführt, der als »Discomörder« zwei Jahrzehnte zuvor junge Frauen in der Region getötet hatte. Mindestens fünfmal hatte der Serientäter Egidius Schiffer zwischen 1983 und 1990 zugeschlagen und sich dabei zunutze gemacht, dass man in der Region nachts zum Trampen gezwungen war, weil keine Busse mehr fuhren.

Im Herbst 2015 wurde eine neue Moses-Statue enthüllt, die dank Bürgerspenden hergestellt werden konnte. Das Fest war wie immer rauschend, wenn man den Schilderungen der Lokalzeitung glauben darf: »Willkommen geheißen wurde die Figur so, wie es manch ein verlorener Sohn nicht erfährt: mit einem Festzug unter Beteiligung vor allem der Musikvereine und Schützen, der an Burg Rode Aufstellung genommen hatte und unter klingendem Spiel die Kleikstraße hinunter und die Bahnhofstraße hinauf gezogen war, und einem nachfolgenden Bürgerfest mit Rock- und Popmusik auf dem Ferdinand-Schmetz-Platz.« Bei dem neuen Denkmal handelt es sich jedoch nicht um eine Figur, sondern um ein in Nivelsteiner Sandstein gehauenes Relief des zweiten, des wütenden Moses. Den meisten Herzogenrathern gefällt es nicht. Mit großer Wahrscheinlichkeit existieren aber schon Pläne, den Moses zur nächsten Weltausstellung zu schicken. Sie wird von Juni bis September in Kasachstan stattfinden.