Die Flüchtlingsproteste haben sich ausdifferenziert

Alle sollen bleiben

Protestmärsche, Hungerstreiks, Konferenzen – ab 2012 enstanden in Deutschland neue, öffentlichkeitswirksame Formen des Flüchtlings­protests. Seitdem haben die Kämpfe an Kraft verloren, die Szene hat sich aber auch diversifiziert.

Grund zum Protestieren gibt es genug: Deutschland schiebt nach Afghanistan ab, die CDU überlegt, »Bundesbeauftragte für Abschiebungen« in die Bundesländer zu schicken, und es ist ausgemachte Sache, dass die CSU den Bundestagswahlkampf mit dem Thema Abschiebungen bestreiten will. In Europa sieht es kaum besser aus. Ungarn sperrt nun ganz offiziell alle Flüchtlinge ein, Polen will offenbar dasselbe tun und die EU scheint nicht von dem Plan abzubringen, Bootsflüchtlinge in Versklavung oder den Tod in Libyen zurückzuschicken. Diese Liste ließe sich fortsetzen.

Gleichwohl sind die Proteste von Flüchtlingen weniger geworden. Als widerständige Subjekte waren Geflüchtete in Deutschland der breiteren Öffentlichkeit vor allem ab 2012 aufgefallen – auch wenn die Geschichte ihrer Proteste hierzulande sehr viel länger zurückreicht. Doch ab 2012 hatten vor allem neue Formen der Proteste Katalysatorwirkung entfaltet. Die langen Märsche – von Würzburg nach Berlin, von Straßburg nach Brüssel –, Dauermahnwachen und Besetzungen, vor allem aber lebensgefährliche Durststreiks hatten ihre Kämpfe in die Schlagzeilen und auch in den Bundestag gebracht.

Nach dem »Sommer der Migration« aber setzte eine Phase ein, in der Ermüdung und Überlastung der Solidaritätsnetzwerke zusammenfielen mit der Notwendigkeit, Abwehrkämpfe zu führen. Den in rasender Geschwindigkeit ab November 2015 beschlossenen Asylrechtsverschärfungen vermochte die antirassistische Szene, inklusive ihres Flügels der Geflüchteten, kaum etwas entgegenzusetzen. Die dafür nötigen Ressourcen waren durch Unterstützungsarbeit fast komplett belegt.

Die oft paternalistische und tendenziell apolitische Arbeit der Willkommensinitiativen wurde vor allem von Flüchtlingsorganisationen wie »The Voice« kritisiert. »Uns passt die Richtung der Hilfe nicht, die immer mehr in Mode kommt«, sagte etwa das Voice-Mitglied Rex Osa. »Die Fluchtursachen werden nicht thematisiert. Die Leute leisten humanitäre Hilfe, oft ohne darüber nachzudenken, dass sie auch Ursache des Problems sind.« Diese Willkommensarbeit aber einzustellen kam nicht in Frage – zu groß war der Bedarf.

Ein Versuch, mit diesem Problem umzugehen, war die Initiative »Welcome to stay«, an der unter anderem die Interventionistische Linke (IL) beteiligt war. Die Willkommensintitiativen, deren Zahl ab 2015 sprunghaft zugenommen hatte, sollten politisiert werden. Durchschlagenden Erfolg hatte dies bislang nicht. Trotzdem sind die Flüchtlingsproteste und die sie flankierende Solidaritätsarbeit keineswegs tot – im Gegenteil. Zu beobachten ist derzeit vielmehr eine Phase der Diversifizierung, der Aufsplitterung der Kämpfe.
Eine bemerkenswerte Mobilisierung fand in der afghanischen Exilcommunity statt, die seit Beginn des Jahres deutschlandweit gegen die bislang drei Abschiebeflüge nach Kabul protestierte.

Die – wenigen organisierten – Roma kämpfen gegen die zunehmenden Abschiebungen nach Südosteuropa, zuletzt sichtbar am 8. April, dem Welt-Roma-Tag. Eine Woche später gesellten sich italienische und französische Aktivisten bei Aktionstagen zu den Flüchtlingen, die immer wieder versuchen, die für sie geschlossene Grenze bei Ventimiglia zu überqueren. Zugleich traten im EU-Internierungslager Moria auf Lesbos syrische Kurden in Hungerstreik. Sie waren seit elf Monaten in dem Lager gefangen. Am 19. April protestierten europäische und geflüchtete Aktivisten am ungarischen Grenzort Röszke, unter anderem gegen Victor Orbáns Internierungspoltik und die Haft der sogenannten »Röszke 11«. Drei Tage später feierte das City Plaza Hotel in Athen, ein maßgeblich von Flüchtlingen betriebenes Willkommenszentrum in einem besetzten Hotel, seinen ersten Geburtstag. Im Juni werden die langjährig geduldeten »Jugendlichen ohne Grenzen« bei der Innenministerkonferenz in Dresden sein. Vor allem afrikanische Flüchtlinge beteiligen sich an diversen Bündnissen gegen die G20-Gipfel im Juni und Juli in Berlin und Hamburg, wo die Kontrolle der Migration aus Afrika Thema sein wird.

Die Auseinandersetzungen um Teilhabe, Bleiberecht und Fluchtwege haben in den vergangenen Jahren immer mehr Ebenen und Orte erreicht, getragen vielfach von Flüchtlingen. Anders als etwa in Zeiten der berühmt gewordenen Besetzung des Oranienplatzes fehlt ihnen jedoch heute ein gemeinsamer Fixpunkt.