Franreich zwischen den Wahlen

Erasmus gegen Vichy

Für die Stichwahl zur französischen Präsidentschaft ist entscheidend, wie sich die Anhänger und Anhängerinnen der unterlegenen Kandidaten nun orientieren.

Eine Berufsgruppe ist sehr zufrieden mit dem Ausgang der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl: die Demoskopen und Mitarbeiter von Meinungsforschungsinstituten. Ihre Reputation ist vorläufig gerettet, denn die Ergebnisse vom Sonntag decken sich mit dem, was sie in den vergangenen Wochen vorhergesagt haben. Das Raunen über die »Lügenpresse« sowie die Spekulationen über die vermeintliche Unvorhersehbarkeit der politischen Entwicklung wurden fürs Erste widerlegt. Die beiden Präsidentschaftsbewerber, die nun in die Stichwahl kommen – Emmanuel Macron mit 23,9 Prozent und Marine Le Pen mit 21,4 Prozent der abgegebenen Stimmen bei einer Wahlbeteiligung von rund 77 Prozent – haben ihren jeweiligen Wunschgegner, beide halten die politisch-ideologische Konfiguration für optimal.

Emmanuel Macron, der ehemalige Wirtschaftsminister François Hollandes, ist kein Feind straffer politischer Führung.

Aus der Sicht des Liberalen Macron stehen nun die Kräfte der »offenen Gesellschaft« – zu der die Freiheit des Kapitals und der Abbau von »starren Regelungen« im Arbeitsrecht ebenso gehören wie interkulturelle Toleranz und das Bekenntnis zur EU – denen des Rückzugs auf nationale Grenzen gegenüber. Allerdings tritt Macron, der für ein multikulturelles Zusammenleben plädiert, in seinem Programm auch für eine Verstärkung der Außengrenzen der Europäischen Union ein, wofür unter anderem 5 000 zusätzliche Grenzpolizisten eingestellt werden sollen. Macrons Kernwählerschaft besteht aus proeuropäischen Angehörigen der Mittelschicht, Menschen, die ihre Erasmus-Studienerfahrungen für den Inbegriff der kapitalistischen Globalisierung halten, Jungunternehmern und Start-up-Gründern. Gewählt wird er aber auch von wenig politisierten Personen, die den smarten, relativ jungen Politiker mit dem Image des idealen Schwiegersohns vor allem aus dem Fernsehen und der Regenbogenpresse kennen – Macron schmückte im vergangenen halben Jahr über 75 Titelseiten. Selten ging es in solchen Berichten über Macron um politische Inhalte, doch seine mediale Präsenz war stets gewährleistet. Spekulationen über sein Familienleben und die Ehe des 39jährigen mit der 63jährigen Brigitte Macron sowie Gerüchte über die angebliche Homosexualität des früheren Investmentbankers bieten immer wieder einen Anlass für ausführliche Berichte und Fotostrecken.

Macron war Wirtschaftsminister unter Präsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls und ist kein Feind straffer politischer Führung. Er kündigt unter anderem an, »das Arbeitsrecht auf dem Verordnungsweg« statt über das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren zu reformieren, und fordert die Gewerkschaften nachdrücklich dazu auf, sich auf Betriebspolitik und Vertragsschlüsse in den einzelnen Unternehmen zu konzentrieren, also die Finger von Flächentarifverträgen und gesamtgesellschaftlichen Vereinbarungen zu lassen. Anfang des Jahres sagte der studierte Philosoph in einer Debatte über die dimension christique, die transzendentale und religiöse Dimension von Politik: »Ich stehe zu dieser Vertikalität der politischen Macht.« Als Präsident dürfte er versuchen, wirtschaftsliberale Reformen per Dekret durchzusetzen.
Aus Sicht von Marine Le Pen ist Macron der optimale Gegner, da er sich am deutlichsten gegen nationale Abschottung ausspricht, so dass sie der vermeintlich zerstörerischen Globalisierung und der seelen-, da grenzenlosen Welt den »eingewurzelten Patriotismus« und Ethnopluralismus gegenüberstellen kann. Dass Le Pen, wie bereits in den Umfragen der vergangenen zwei Wochen vorhergesagt, auf den zweiten statt wie ursprünglich erwartet auf den ersten Platz kam, hängt mit einer gewissen Abnutzung ihrer Wahlkampagne zusammen. Vor allem schadete es ihr, dass sie am 9. April in einem Fernsehinterview die historische Verantwortung Frankreichs für die »Razzia vom Velodrome d’Hiver« abstritt – eine Massenverhaftung von 13 000 Juden im Juli 1942 durch französische Polizeikräfte unter der nazideutschen Besatzung.

Zwar wiederholte sie damit nur einen Kernsatz der Doktrin des historischen Gaullismus, derzufolge »Vichy nicht Frankreich war«, sondern die Kollaboration eine Art Fremdkörper in der Nation darstellte; Charles de Gaulle hätte hinzugefügt, dass das wahre Frankreich ab 1940 in London saß. Henri Guaino, Berater und Reden­schreiber des konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy ab 2007, gab zwar Marine Le Pen öffentlich recht und sagte nach der Wahl: »Niemand bringt mich dazu, Emmanuel Macron zu wählen.« Doch in den Augen der meisten hat es den Front National in gewisser Weise renazifiert, dass Le Pen das Thema der Nazikollaboration ansprach, da Erinnerungen an die offenen Sympathien für Kollaborateure aus Zeiten des früheren Parteivorsitzenden Jean-Marie Le Pen geweckt wurden.

Entscheidend ist nun, wie sich die Wählerinnen und Wähler der unterlegenen Kandidaten orientieren werden. Am Sonntag erklärten sich 48 Prozent des mit 19,9 Prozent gescheiterten konservativen Kandidaten François Fillon bereit, in der Stichwahlrunde für Macron zu stimmen, 33 Prozent wollen Le Pen wählen. Fillon rief zur Wahl Macrons auf, doch Christine Boutin, eine rechtskatholische ehemalige Ministerin Sarkozys, und einige andere konservative Politiker sprechen sich offen für Le Pen aus. Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon – er wurde mit 19,6 Prozent Vierter – hat bislang keine Wahlempfehlung ausgesprochen. In seinem Lager tendieren 62 Prozent der Befragten zu Macron, nur neun Prozent zu Le Pen. Allerdings gibt es unter Arbeitern, die Mélenchon wählten, eine große Abneigung gegen den wirtschaftsliberalen Kandidaten. Möglicherweise werden sich viele Wähler linker Parteien enthalten. Die neostalinistische Website Canempechepasnicolas, die bislang Mélenchon »kritisch unterstützte«, ihm jedoch vorwarf, dass er den EU-Austritt nicht befürwortet, erklärte am Montag als erste vermeintlich linke Stimme Macron zum größeren und Le Pen zum kleineren Übel.