Das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« will Leerstellen der Auf­klärung benennen

Leerstellen der Aufklärung

Nach vierjähriger Verhandlungsdauer im Münchner NSU-Prozess und mehreren Untersuchungsausschüssen in Bund und Ländern fordert das Tribunal »NSU-Komplex auflösen« Konsequenzen aus den Erkenntnissen, die diese erbracht haben.

Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl hat das Ende der Beweisaufnahme im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München eingeleitet. Noch bis zum 17. Mai konnten weitere Beweisanträge gestellt werden. Nach vierjähriger Verhandlungsdauer ist das Ende des größten Strafprozesses gegen eine rechtsterroristische Vereinigung in der deutschen Nachkriegszeit absehbar.

Zum Abschluss des Tribunals soll eine gemeinsam verfasste Anklage mit Forderungen verlesen werden, die sich als Gegenanklageschrift zu der der Bundesanwaltschaft in München versteht.

Verschiedene Gruppen und Bündnisse wie »Keupstraße ist überall« aus Köln, die »Initiative 6. April« aus Kassel und »NSU-Watch« kritisieren seit Jahren die Unzulänglichkeiten eines Prozesses, bei dem an die Prämisse der Anklageschrift, es habe sich beim NSU um ein »isoliertes Trio« gehandelt, kaum jemand mehr ernsthaft glaubt. Die zuständigen Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden haben, so die Kritik der Initiativen, gerade nicht, wie von Angela Merkel versprochen, »alles« getan, damit der NSU-Komplex und die begangenen Taten aufgeklärt werden. Dabei haben die bislang zwölf eingesetzten parlamentarischen Untersuchungsausschüsse und nicht zuletzt auch der Prozess selbst dazu beigetragen, dass die These vom isolierten Trio, das die rassistische und rechts­terroristische Mord-, Anschlags- und Raubserie ohne ein unterstützendes Netzwerk begangen habe, nicht haltbar ist. Angesichts der heutigen Erkenntnisse über die Netzwerke, aus denen das NSU-Kerntrio durch Anmietungen von Wohnungen und Autos, Spendensammlungen, Beschäftigungsverhältnisse und zudem ideologisch Unterstützung erhielt, und über Verbindungen zu über 40 V-Leuten der Verfassungsschutzämter sowie der Landes- und Bundeskriminalämter, ist die »Trio-These« umfassend widerlegt. Dennoch halten die Bundesanwaltschaft und der zuständige Strafsenat im Prozess daran fest.

Das Tribunal »NSU-Komplex auf­lösen«, das vom 17. bis 21. Mai im Schauspiel Köln stattfindet, fordert Konsequenzen angesichts dieser Erkenntnisse sowie offener Fragen. Ibrahim Arslan ist Überlebender des rassistischen Brandanschlags in Mölln 1992 und Mitinitiator des Tribunals. »Entscheidend ist es«, erklärte Arslan auf einer vorbereitenden Veranstaltung in Köln das Ziel des Tribunals, »die Erfahrungen der Betroffenen über Rassismus in die ­Öffentlichkeit zu tragen, um ein Problembewusstsein und Solidarität zu schaffen.« Auch die Hinterbliebenen und Geschädigten des NSU haben ­jahrelang aus Angst vor weiterer Kriminalisierung und Stigmatisierung über die Folgen der Morde und Anschläge geschwiegen. Im Münchner Prozess wurden die Folgen der Taten des NSU auf das Leben der Geschädigten und Hinterbliebenen sowie der institutionelle Rassismus der ermittelnden ­Behörden erst durch die engagierte Arbeit der Nebenklage Gegenstand des Verfahrens. Dazu mussten die Geschädigten Strategien entwickeln, um sich gegen Widerstände der Bundesanwaltschaft und des Gerichts zu behaupten.

»Das Tribunal stellt Wissen und Perspektiven der Betroffenen in den Mittelpunkt. Im Münchner Prozess muss das immer wieder erstritten werden«, sagt Daniel Poštrak, ein Mitorganisator des Tribunals. Ziel sei es zu ermöglichen, die Opfer des NSU und rechter und rassistischer Gewalt zu beklagen, Verantwortliche des NSU-Komplexes anzuklagen und eine solidarische Gesellschaft einzuklagen. Jeweils einen Tag lang steht daher im Programm des Tribunals je einer dieser drei Aspekte im Mittelpunkt der Veranstaltungen. Um antirassistische und antifaschistische Bewegungen und Akteure aus Kultur, Medien, Politik, Recht und Gesellschaft miteinander ins Gespräch kommen zu lassen und zu vernetzen, finden verschiedene Workshops, Diskussionen, Theaterstücke und Ausstellungen über den NSU-Komplex sowie die Geschichte der Migra­tion und des Widerstands gegen Rassismus statt. Damit will das Tribunal, so Poštrak, »die Stärke der Gesellschaft der Vielen, einer postmigrantischen ­Gesellschaft« demonstrieren. Zum Abschluss des Tribunals soll eine gemeinsam verfasste Anklage verlesen werden, die sich als Gegenanklageschrift zu der der Bundesanwaltschaft in München versteht. Darin sollen ­insbesondere jene Personen benannt werden, die in München nicht auf der Anklagebank sitzen, aus Sicht des Tribunals aber Verantwortung für den NSU-Komplex und seine Folgen tragen.

Die Idee des Tribunals sei, so Vanessa Höse, eine weitere Mitorganisatorin, aus einer bundesweiten Vernetzung und Zusammenarbeit mit den Be­troffenen des NSU und verschiedener Initiativen entstanden. Die fehlende Thematisierung staatlicher Verstrickungen, der Rolle der Geheimdienste, der Netzwerke des NSU und der faktischen Täter-Opfer-Umkehr im polizeilichen Umgang mit den Angehörigen der Ermordeten und der Geschädigten der Bombenanschläge bilden, so Höse, »Leerstellen der Aufklärung im Prozess«.

Insbesondere gehe es darum, die poli­tische und gesellschaftliche Dimension des NSU-Komplexes jenseits der Reduzierung auf die NSU-Mitglieder Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt und die in München angeklagten Unterstützer aufzuzeigen.
Mit Blick auf die Rolle staatlicher ­Sicherheitsbehörden folgerte Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler in Interview mit der Taz am 6. Mai: »Auch der Staat gehört auf die Anklagebank.« Die Beschränkung der Anklage auf das Trio diene dazu, genau dies zu verhindern. Auf Versuche der Nebenklage, die Rolle staatlicher Behörden und der von ihnen geführten V-Leute in den Prozess einzubringen, reagierte die Bundesanwaltschaft mit dem Vorwurf, die Nebenklage wolle das Verfahren »poli­tisieren«. Dabei ergibt sich die politische Brisanz direkt aus dem fehlenden Willen, die Rolle staatlicher Behörden und ihr Wissen über den NSU aufzuklären.

Zur Beantwortung offener Fragen wurde bereits vor Beginn des Tribunals »NSU-Komplex auflösen« die Forschungseinrichtung Forensic Architecture der Goldsmith University in London mit einer Untersuchung des Mordes an Halit Yozgat am 6. April 2006 in Kassel beauftragt. Forensic Architecture kam zu dem Ergebnis, dass der Ver­fassungsschutzmitarbeiter und V-Leute-Führer Andreas Temme entgegen ­seinen Aussagen vom Mord an Halit Yozgat gewusst haben müsse. Doch trotz Erkenntnissen wie dieser und der Vielzahl offener Fragen hält die Regierung an der Behauptung fest, dass es beim NSU nur eine Reihe von »Pannen« in der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden gegeben habe.

»Um an der Behauptung des ›isolierten Trios‹ festhalten zu können, wurden zu Beginn des NSU-Prozesses Ermittlungen zu Netzwerkstrukturen und mutmaßlichen Unterstützenden ausgelagert«, sagt Carsten Ilius, Anwalt der Nebenklage im Münchener NSU-Prozess. Parallel zum NSU-Prozess führe die Bundesanwaltschaft neun weitere Ermittlungsverfahren gegen unbekannt und ein sogenanntes Strukturermittlungsverfahren. In diesem soll gegen den Unterstützerkreis des NSU ermittelt werden. Darüber hinaus ist wenig über diese Verfahren bekannt. »Mit einer ernsthaften weiteren Strafverfolgung in Form einer Anklage ist in den anderen Verfahren leider nicht mehr zu rechnen«, sagt Ilius. Indem die Bundes­anwaltschaft nach ihrem alleinigen ­Ermessen bestimmte Fragen und Themenkomplexe vom NSU-Prozess ­abspaltet und in nichtöffentliche Ermittlungsverfahren überführt, verschafft sie sich die Kontrolle darüber, welche Erkenntnisse der Öffentlichkeit preis­gegeben werden.

Folglich wird die Forderung der Geschädigten und der ­Angehörigen der Ermordeten nach einer lückenlosen Aufklärung im NSU-Prozess durch das Agieren der Bundesanwaltschaft konterkariert.

Die Aufklärung des NSU-Komplexes ist mit dem Ende des Prozesses keinesfalls abgeschlossen. Zu viele Fragen sind noch unbeantwortet. Daher wird es weiterhin Druck und Öffentlichkeit brauchen, um auch nach Ende des Prozesses eine lückenlose Aufklärung zu fordern. Das NSU-Tribunal ist ein wegweisender Schritt.