20 JAHRE Europa: Die Krise der EU und warum Deutschland nicht Teil der Lösung ist

Der Letzte macht das Licht aus

Der europäische Gedanke kann nach wie vor eine emanzipatorische Antwort auf die neue nationalistische Welle sein – aber nicht mit diesem Deutschland.

»Die Arbeiter haben kein Vaterland. Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben«, hatten Marx und Engels im »Kommunistischen Manifest« postuliert. Die langsame Auflösung nationalstaatlicher Verfasstheit hin zu einer transnationalen Gemeinwesen war für sie die unbedingte Voraussetzung für jede Emanzipation. Spätestens seit damals steht linke Politik für Internationalismus. Und einige Zeit schien es so, als sei auch die europäische Integration ein Teil dieses historischen Prozesses. Die List der Geschichte bediente sich sozusagen der Europäischen Union, um »nationale Einseitigkeit und Beschränktheit« aufzuheben.

Auch die Jungle World stand dem europäischen Projekt von Beginn an ­aufgeschlossen gegenüber. Zumal es dadurch möglich schien, Deutschland als mächtigsten Nationalstaat Europas in ein zivilisatorisches Korsett zu zwängen, aus dem es nicht mehr so einfach entweichen konnte. Die zentrale Frage war nur, ob Deutschland durch die EU-Integration europäischer oder Europa deutscher werden würde. Bereits bei der ersten Veranstaltung, die die Redaktion im August 1997 organisierte, mit Lothar Bisky und Jürgen Trittin, lautete der Titel: »Der Euro: Ein neoliberales Projekt – oder ein antinationales?«
Für den emanzipatorischen Charakter der europäischen Integration sprachen die offensichtlichen Veränderungen. An den Grenzübergängen verschwanden die Schlagbäume, wurden zumindest die sichtbaren Schranken abgebaut, entfielen Passkontrollen. Zugleich gab es aber auch die berechtigte Befürchtung, dass die EU zur »Festung« gegen Migration ausgebaut werden könnte. Weniger überzeugend mutet heute die damalige Sorge an, dass sich Europa als neue Weltmacht etablieren könnte, die ihre Interessen auch militärisch durchsetzen würde. Von einer gemeinsamen Armee ist Europa heute fast genauso weit entfernt wie vor zwei Jahrzehnten. Dafür sind, neben den mangelnden finanziellen Ressourcen, die außenpolitischen Ziele der Mitgliedsstaaten zu unterschiedlich. Diese orientieren sich nach wie vor an nationalen Interessen, wie es sich insbesondere am Verhältnis zur Russland zeigt.

Die inkohärente EU-Außenpolitik ist nur ein Indiz dafür, dass die europäischen Nationalstaaten nicht erodieren, sondern vielmehr auf einem neuen Niveau weiter miteinander konkurrieren. Die deutsche Regierung gab zwar mit der D-Mark ein zentrales Symbol der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte auf – aber nur um den Preis, dass der Euro anschließend den Stabilitätskriterien der Bundesbank unterlag.

Die List der Geschichte funktionierte nun in einem ganz anderen Sinne. Die meisten Euro-Staaten profitieren zunächst von der neuen Währung, weil sie nun über billige Kredite verfügen konnten. Am Ende nutzte dies aber vor allem einem Staat in Europa. Mit dem Euro wuchs die deutsche Exportwirtschaft stärker, als es mit der D-Mark jemals möglich gewesen wäre. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat Deutschland seinen Exportüberschuss exorbitant erhöht und dreistellige Milliardenbeträge an Zinsen gespart.

In den südlichen Euro-Staaten, aber auch in Frankreich verschärften sich aufgrund der deutschen Sparpolitik die sozialen Gegensätze und die Proteste mehrten sich. In Berlin und Frankfurt interpretierte man diese Entwicklung allerdings ganz anders. Dort war man überzeugt, dass die Schuldnerstaaten einfach zu lange über ihre Verhältnisse gelebt und diese nun die Zeche dafür zu zahlen hätten.
Was die britische Premierministerin Margaret Thatcher bereits 1990 unter dem Schlagwort »Greater Germany« beschworen hatte – eine politische ­Hegemonie Deutschlands in Europa –, wurde spätestens mit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008 Wirklichkeit. Die rigide Austeritäts­politik der Bundesregierung dominiert seitdem Europa.

Die zentrale Frage war, ob Deutschland durch die EU-Integration europäischer oder Europa deutscher werden würde.

Angesichts dieser Entwicklung scheinen zumindest die ursprünglichen Hoffnungen auf ein »europäisiertes Deutschland«, wie sie noch 2010 Jürgen Trittin und André Brie  in der Jungle World äußerten, mehr als trügerisch. Die Strukturen der EU, das zeigt sich deutlich, dienen vor allem den deutschen Interessen. Die Frage ist nur, wie auf diesen deutschen Wirtschaftsnationalismus reagiert werden sollte. Und viele linke Parteien und ­Organisationen in Europa wählten die denkbar schlechteste Antwort, indem sie ihrerseits auf eine Renationalisierung des Politischen setzten.
Finanzminister Wolfgang Schäuble ist ihnen zwar seit der griechischen Schuldenkrise als Verfechter einer neoliberalen Politik besonders verhasst. Grundsätzlich betrachteten sie aber die gesamte EU als ein wirtschaftsliberales Projekt, in dem nur die Ökonomie nationsübergreifend agiert, zu Lasten der unteren sozialen Schichten. Politische Entscheidungen würden dabei von anony­men Eliten getroffen, die weder demokratisch legitimiert noch beeinflussbar sind.

Die neoliberale Politik erzeugt eine extreme soziale Ungleichheit, wie sie sich insbesondere in Griechenland manifestierte. Egal welche Resultate die jeweiligen Wahlen dort erbrachten, an den elenden Umständen konnten sie nichts ändern. Aus Verzweiflung über die Folgen der neoliberalen Politik, die in Europa und in den USA gerade von sozialdemokratischen Parteien vorangetrieben wurde, begann nach Ansicht nicht weniger Linker die Unterschicht sich für rechtsextreme Populisten zu begeistern. Das britische Referendum zum EU-Austritt, der Wahlsieg Donald Trumps und der wachsende Erfolg des Front National in Frankreich bestätigen scheinbar diese Diagnose.

In dieser Situation erscheint linken Parteien und Bewegungen ausgerechnet der Nationalstaat als Hoffnungsträger. Dieser soll durch zentrale Regulierung für jene Solidarität und Umverteilung sorgen, die in einer transnationalen Gemeinschaft nicht mehr möglich scheint. Auch Linke finden wieder zurück zum Vaterland. Die Entstehung einer gemeinsamen Währungs- und Wirtschaftszone ermöglichte nicht, dass sich die Arbeiter als internationale Klasse definierten. Vielmehr verstehen sie sich heute mehr denn je als nach Nationen organisierte Konkurrenten.

So machte der linke Hoffnungsträger und französische Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon bereits mit dem Name seines Parteienbündnisses »La France insoumise« (Das unbeugsame Frankreich) deutlich, dass sich sein Frankreich nicht »unterwerfen« lassen werde, weder von der Europäischen Union noch von Deutschland. Stattdessen müsse das französische Volk selbst entscheiden: »Vor der Wahl zwischen dem Euro und der Souveränität, entscheiden wir uns für die Souveränität!« Dafür forderte Mélenchon unter anderem einen »solidarischen Protektionismus«: Die Verteidigung »unserer industriellen Souveränität« sei »die unerlässliche Bedingung für neue internationale Kooperationen«.

Ähnlich wie die linke spanische Partei Podemos oder die Initiativen Diem 25 setzt er auf den »humanistischen Populismus« von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau. Die sozialen und wirtschaftlichen Antagonismen werden reduziert auf die Teilhabe an der Macht oder den Ausschluss von ihr.
Nur hat sich diese Macht mittlerweile gewandelt. Während die Linke noch gegen den Neoliberalismus mobilisiert und dazu neigt, ihn mit dem Faschismus gleichzusetzen, orientieren sich weltweit die oligarchischen Führungsschichten immer mehr an autoritären Lösungen. Der Kapitalismus funktioniert auch bestens ohne liberale Rechte. Stattdessen benutzen sie den autoritären Staat und befeuern den Nationalismus, um ihre obszöne Akkumulation des Reichtums zu legitimieren. Sie sind fest entschlossen, ihren Status mit allen Mitteln zu verteidigen, so wie in Russland oder in der Türkei, aber eben auch in Ungarn, Polen oder vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft in Großbritannien oder Frankreich.

Dass vor allem die unteren sozialen Schichten den Preis dafür zu zahlen haben, verdeutlicht die Irrationalität des postliberalen Kapitalismus. Sie forciert den Kampf aller gegen alle. Sobald die »europäischen Völker« die vermeintliche Souveränität erlangen, wird neu über die Verteilung staatlicher Leistungen, über Wohlstand und Sicherheit entschieden werden. Wer nicht über die entsprechende nationale Zugehörigkeit verfügt, bleibt außen vor.
Das Streben nach einer kosmopolitischen, transnationalen Gemeinwesen ist aber weiterhin Voraussetzung jeder Emanzipation. Wer darauf verzichtet, wird im Chauvinismus enden. So gesehen ist selbst die Verteidigung der real existierenden Europäischen Union noch eine fortschrittliche Position. Wenn es aber nicht bald gelingt, die deutsche Hegemonie in Europa zu beenden, hat die EU keine Zukunft mehr.