20 Jahre Islamismus: über eine Welt ohne Jihad

Keine »Jungle« ohne Jihad

Die Auseinandersetzung mit Ayatollahs, Taliban und anderen Islamisten war von Anfang an ein zentrales Thema in der »Jungle World«. War der Jihadismus vor 20 Jahren ein fast nur ferne Gegenden der Welt betreffendes Problem, ist er inzwischen näher gerückt.

In unserer Zeit, in der rechtspopulistische Ignoranten, postmoderne Schwätzer, Schmalspurtheologen und viele andere sich Koranverse um die Ohren hauen, ist es kaum noch vorstellbar, dass sich die Öffentlichkeit vor 20 Jahren nur sporadisch für dieses Thema interessierte. Aber so war es. Wie für die große Mehrheit der Deutschen »die ›Islamkritik‹ als Diskursgegenstand in die Welt gekommen ist«, erläutert wohl am treffendsten Henryk M. Broder. »Es war der 11. September 2001, um 8.46 Uhr New Yorker Zeit. Bis dahin beschränkte sich ›Islamkritik‹ auf die Frage, ob man als Urlauber in Ägypten oder in Tunesien mehr für sein Geld bekommt.«

Bereits am 17. September 1992 um 22.54 Uhr betraten zwei bewaffnete Männer das Restaurant »Mykonos« in Berlin und ermordeten drei Repräsentanten der Demokratischen Partei des Iranischen Kurdistan sowie einen Dolmetscher. Die Attentäter handelten im Auftrag des iranischen Geheimdiensts. Das juristische Urteil wurde am 10. April 1997 gesprochen und stellte die Verantwortung der iranischen Staatsführung für das Attentat fest. »Bis zuletzt arbeitete die Bundesregierung im Mykonos-Verfahren den Ermittlungsbehörden entgegen«, urteilte die Jungle World (16/1998) ein Jahr später. »Wirtschaftliche Interessen rangierten ganz offen vor moralischer Empörung.«

Durchschlafen bis zum Kommunismus kam nicht wirklich in Frage. Auf wann sollte man den Wecker stellen?

Sadegh Sharafkandi, Fattah Abdoli, Homayoun Ardalan und Nouri Dehkordi waren die ersten Opfer des islamistischen Terrors in Deutschland. Damals wie heute ist aber der Islamismus vor allem ein Problem für die Menschen in den islamischen Ländern. Die Jungle World berichtete damals unter anderem über die Wahl Mohammed Khatamis zum Präsidenten des Iran, unter dessen vermeintlich liberaler Herrschaft weiter fleißig gesteinigt wurde (47/1997), über die letzte Phase des algerischen Bürgerkriegs (38/97), zu dessen Beginn der Islamistenführer Abassi Madani verkündet hatte, man sei »bereit, zwei Drittel der algerischen Gesellschaft zu opfern, um dem überlebenden Drittel zu erlauben, den Weg Gottes zu beschreiten«, sowie über die Entmachtung der islamistischen Partei Necmettin Erbakans in der Türkei (37/1997).

Islamistische Bewegungen kämpften damals gegen nationalistische Autokratien und Diktaturen, doch blieb der Sieg der Ayatollahs im nachrevolutionären Machtkampf im Iran zunächst der einzige. In Algerien wurden die Jihadisten marginalisiert, das autoritäre nationalistische Regime konnte sich stabilisieren; in der Türkei gelang der »verdeckte Putsch« gegen Recep Tayyip Erdoğans Vorgänger Erbakan ohne größere Probleme. Eine Ausnahme war der Siegeszug der Taliban in Afghanistan, der zunächst aber kein Problem des Westens zu sein schien. Wo rief man im September 1998 »Tod den Taliban«? In Teheran. Ja, Teheran. Natürlich vergaß man nicht, »Tod Israel« und »Tod den USA« hinzuzufügen, aber mit einer Militärintervention gegen die Taliban drohte damals das iranische Regime (40/1998).

Zum Krieg kam es damals nicht, aber rückblickend kann man diesen Konflikt als Vorläufer der Konfrontation zwischen dem Iran und Saudi-Arabien betrachten, die jetzt in Syrien, im Irak und im Jemen ausgetragen wird. Die USA begnügten sich damals damit, nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Daressalam und Nairobi Cruise Missiles auf das Lager eines damals noch wenig bekannten islamistischen Warlords namens Ussama bin Laden abzufeuern.

Zu den unerfreulichen Seiten der Produktion einer Wochenzeitung gehört es, dass man von der Wirklichkeit überholt werden kann. »Die Schlafmünze geht« war am Tag nach dem 11. September 2001 nicht die passendste Titelschlagzeile, wenngleich das Titelthema, die Einführung des Euro, in späteren Jahren durchaus noch Brisanz entwickeln sollte (38/2001). »Der Haussegen hängt schief auf dem Planeten Erde, es heißt, nichts werde mehr sein, wie es war«, resümierten wir in der Homestory der folgenden Woche. »Das Entsetzen ist da, Feindbilder lösen sich auf, die Paranoia hebt ab, doch die Arbeit geht weiter.«

»In den acht Jahren, bevor Obama kam, hatten wir keinen erfolgreichen Angriff radikaler islamistischer Terroristen in den Vereinigten Staaten«, sagte knapp 16 Jahre später ausgerechnet Rudolph Guiliani, damals Bürgermeister von New York (er berichtigte sich später). Kaum jemand hat sich seine Feindbilder nehmen lassen, 9/11 ist zur vielseitig verwendbaren Chiffre geworden, aber von einem historischen Wendepunkt kann man dennoch sprechen.

Auch hinsichtlich der linken Debatte. Kontrovers diskutiert wurde auch in der Jungle World. »Ein paar Texte in  Jungle World lesen sich, als seien sie in einem palästinensischen Flüchtlingslager entstanden«, kritisierten die einen. Andere meinten, »Hochhäuser zu bauen, in denen 50 000 Menschen zusammengepfercht sind, und Attentate auf diese Hochhäuser zu planen, um so viele Opfer wie möglich zu erzeugen«, gehöre »derselben geistigen Ebene an«. Wieder ein anderer gab den Ratschlag »selbst zum Sleeper zu werden« (40/2001). Aber Durchschlafen bis zum Kommunismus kam nicht wirklich in Frage. Auf wann sollte man den Wecker stellen?

Kern der Debatte war eine Frage, die sich in anderer Form derzeit wieder stellt: Wie steht die radikale Linke angesichts von rechtsextremen – nationalistischen oder islamistischen – Bedrohungen zur bürgerlichen Demokratie und »dem Westen«? Auch wenn man zu dem Schluss gekommen ist, dass Äquidistanz oder eine radikale linksprotestantische Pose – hier stehe ich mit meiner roten (oder schwarz-roten) Fahne, ich kann nicht anders, mag die Welt auch untergehen – keine Lösung ist, bleibt dies eine kontroverse Angelegenheit. Berüchtigt dafür, nicht jede US-Intervention abzulehnen, nur weil sie eine US-Intervention ist, hat die Jungle World den Kampf gegen den Islamismus immer als politische Aufgabe verstanden, als eine Aufgabe, die nicht von Diktatoren und Autokraten erledigt werden kann, deren ideologischer Widerspruch zum Islamismus vornehmlich in einer stärkeren Betonung des Nationalismus besteht.

Deshalb wurden in der Jungle World die arabischen Revolten des Jahres 2011 als Chance gewertet: »Die antikoloniale Epoche war das Zeitalter des Nationalismus, das Scheitern der staatskapitalistischen Entwicklungsdiktaturen stärkte seit den siebziger Jahren den politischen Islam. Nun aber fordert die ›arabische Straße‹ Freiheit, Demokratie und Jobs, von denen man leben kann.« (5/2011)

Wurde der Jungle World nach 9/11 »Verwestlichung« vorgeworfen, hieß es nun von anderer Seite, wir würden den unvermeidlichen Sieg des Islamismus leugnen. Tatsächlich kontrollieren Islamisten derzeit Teile der Bürgerkriegsstaaten Syrien, Irak, Libyen und Jemen, haben aber nirgendwo die Staatsmacht erobern können – ein glänzender Sieg sieht anders aus. Allerdings laufen vor allem in Syrien und im Irak viele Nationalisten zum Islamismus über. Die Kräfte der doppelten Konterrevolution – altes Regime und Islamismus – erwiesen sich als stärker als 2011 erwartet oder erhofft, zeigen sich aber unfähig, ihre Herrschaft politisch zu stabilisieren.

Auch die zweite Welle des globalen Jihad ist kein Ausdruck politischer Stärke – was ihre Gefährlichkeit nicht mindert. Mit den Anschlägen auf Charlie Hebdo, das Bataclan, einen Berliner Weihnachtsmarkt und jüngst ein Konzert in Manchester rückte der Terror räumlich und persönlich näher. »Die Stimmung im Dschungel ist also nicht gut, aber auch keinesfalls fatalistisch. Zusammenfassen ließe sie sich mit den Worten von Charlie Hebdo: ›Sie haben die Waffen. Scheiß drauf. Wir haben den Champagner!‹«, so die Homestory im November 2015.

Noch persönlicher wurde es mit der Inhaftierung Deniz Yücels in der Türkei (siehe Seite 18). Dort haben sich seit 1997 die Verhältnisse umgekehrt: Die damals unterdrückten Islamisten haben nun die Oberhand und festigen ein autokratisches System. In Algerien bestätigten die jüngsten Wahlen erwartungsgemäß das autoritäre System, die afghanischen Taliban setzen ihre mittlerweile schon traditionelle Frühjahrsoffensive fort. Im Iran hat der Wächterrat schon vor der Wahl dafür gesorgt, dass unter dem neuen Präsidenten die Hinrichtungen nicht aufhören, und deutsche Politiker sind weiterhin geneigt, diesem Regime einiges durchgehen zu lassen: »Es ist fraglich, ob sich die Bundesregierung doch noch entschließt, Stellung dazu zu beziehen, dass das antisemitische Regime im Iran über sein Pläne zur Auslöschung des jüdischen Staats hinaus offenbar auch israelfreundliche Politiker und Einrichtungen in Deutschland zum potentiellen ­Angriffsziel erklärt hat«, hieß es dazu in der Jungle World im Januar (4/2017).

Den großen Plan »Eine Welt ohne ­Jihad in fünf Jahren« kann die Jungle World leider nicht bieten. Obwohl ­Terror und Diktatur den Islamismus hinreichend diskreditiert haben sollten, hat diese Ideologie noch immer große Anziehungskraft. Die haben Demokratie, Freiheit und Champagner aber auch. Vielleicht können wir Ihnen zum 30jährigen Jubiläum ja bessere Nachrichten bieten.