Die Filme von Bo Widerberg

Exzentrisch bis zum Bruch

Zur Werkschau des schwedischen Filmemachers Bo Widerberg.

Ob die Prostituierten wohl Pelzmäntel tragen, wenn Sixten sie im Juni endlich in der großen Stadt Stockholm besucht? Davon redet er seit Jahren, aber es mangelt ihm an Entschlossenheit. Eigentlich ist es im Juni ja zu warm für Pelz. Und so kommen er und sein Kumpel Anders zu dem Schluss, dass Zweckmäßigkeit kein Argument sein kann. Die Mantelmode ist eine Frage des Stils. Ja, auch die Söhne des Arbeitermilieus verstehen so etwas.

Der Film »Das Rabenviertel« ist benannt nach dem Wohngebiet der Jungs, einer Gegend, der nur wenige entkommen. Anders versucht es dennoch, er will Schriftsteller werden und muss dafür seiner Familie den Rücken kehren. »Das Rabenviertel« (1963) ist einer der Filme Bo Widerbergs, die das Filmkollektiv Frankfurt am Main im Rahmen einer Werkschau vom 15. bis 21. Juni gezeigt hat. Einleitende Beiträge sowie ein Vortrag des Widerberg-Biographen Mårten Blomkvist verdeutlichten, wie die Kinoarbeiten des Filmemachers zu verstehen sind. So umfassend wie im Kino des Deutschen Filmmuseums wurde sich dem eigenwilligen Schweden hierzulande bislang nicht gewidmet.

Rund 20 Jahre nach »Das Rabenviertel« drehte Widerberg einen Film, in dem Prostituierte dann tatsächlich Pelzmäntel tragen. »Der Mann aus Mallorca« (1984) ist ein schwarzhumoriger, kauziger Krimi über einen korrupten Mitarbeiter des schwedischen Geheimdienstes. Es geht auch um Morde; vor allem aber ist interessant, dass leichte Mädchen beim Geheimdienst offenbar zum guten Ton gehörten. Widerberg griff mit dem Film einen schwedischen Politikskandal auf, der ihm für eine Kritik am Spionageapparat wohl sehr gelegen kam. Die gesellschaftlichen

Machtverhältnisse sind ein wesentlicher Bestandteil vieler seiner Filme, etwa wenn er in »Adalen 31« (1969) oder seinem Biopic »Joe Hill« (1971) historische Schlüsselereignisse innerhalb der schwedischen beziehungsweise der US-amerikanischen Arbeiterbewegung skizziert. Um alles noch zu verkomplizieren, sind die politischen Handlungsstränge seiner Filme oft mit Liebeswirren und künstlerischen Grundsatzfragen verschränkt.

Widerberg suchte seinen eigenen Zugang zum Filmemachen als Arbeiterkind ohne künst­lerische Ausbildung. Wie sein Prota­gonist aus »Das Rabenviertel« begann er eine Karriere als Autor. Schon vor seinem ersten Film schrieb er ­öffentlichkeitswirksam über das Kino und attackierte immer wieder die schwedische Regiekoryphäe Ingmar Bergman. Dessen Kino wurde Widerbergs Auffassung von gesellschaftlicher Realität nicht gerecht. Er forderte ein Kino, das horizontale Verknüpfungen zwischen Menschen und Milieus erstellt. Geprägt von der französischen Nouvelle Vague ging er mit Offenheit, Improvisation und schauspielerischen Laien ans Werk,  dachte Film über die Montage und inszenierte Situationen mit einer beachtlichen Bewegungsfreiheit. In einer ikonischen Szene aus seinem erstem Spielfilm »Kinderwagen« (1963) trifft sich ein junges Liebespaar im Musikladen zu den Klängen von Vivaldi. Darin war bereits alles angelegt, was sein Schaffen später prägen würde. Die Kritik feierte ihn schon früh für seine vermeintliche ­Natürlichkeit.

Trotz erster Erfolge und einem Kassenschlager mit »Der Mann auf dem Dach« (1976) wollte nach zehn Jahren kaum noch jemand mit dem Regisseur arbeiten. Er galt als exzentrisch und hatte mit Depressionen zu kämpfen. Größere Budgets und der Wunsch von Produktionsfirmen nach Planungssicherheit drohten ihn auszubremsen. Da machte er nicht mit, verteidigte seinen psycho­logischen Scharfsinn und schuf ein beachtlich stringentes Gesamtwerk. Widerberg setzte sich als genauer Beobachter nicht nur der schwedischen Gesellschaft, sondern auch seiner Schauspielerinnen und Schauspieler durch – und wurde zum Meister der Vermischung von Liebesfragen mit Gedanken über soziale Mobilität. Besonders ­interessant sind seine NS-Filme, in denen sich psychologische Höhepunkte und politische ­Drastik regelrecht aneinander entzünden.

Widerberg war ein Wegbereiter und Arbeiter an der Form des Kinos, er gehörte zu den ersten Regisseuren, die den Farbfilm mit einer Idee von Realismus kreuzten. Sein Kino kommt einem in den besten Momenten so vielschichtig vor, wie es eine freie Gesellschaft sein könnte.