Die »Operation Entebbe« war ­antisemitisch motiviert

Terror und Quellenkritik

Markus Mohr verniedlicht in seinem Beitrag zur Debatte über die »Operation Entebbe« mit seinem wissenschaftstheoretisch falschen Begriff von »Selektion« Tatmotive der Entführer.

Abgesehen von seinen letztlich falschen Schlussfolgerungen ist der von Markus Mohr herausgegebene, viele seiner eigenen Beiträge enthaltende Band »Legenden um Entebbe« durchaus zu loben – argumentiert er doch in einer Weise, die mit ihrer ausgefeilten kritischen Methodologie rein weltanschaulich gefärbte Bekenntnisse weit hinter sich lässt. Gleichwohl: Wie zu zeigen sein wird, geht Mohr dabei nicht weit genug, was denn doch zu einer Apologie des Terroristen Wilfried Böse gerät. Quellenkritik reicht nicht aus – weitere wissenschaftstheoretische und metaphorologische Überlegungen sind ebenfalls notwendig.

Im Kern geht es um eine zumal für die allgemeine Antisemitismusforschung grundlegende Frage, nämlich darum, welche Eigenschaften einer Handlung sie zu einer antisemitischen machen. Als »antisemitisch« gelten die Handlungen einer oder mehrerer Personen dann, wenn sie darauf zielen, Menschen vor allem deshalb, weil sie für jüdisch gehalten werden, zu erniedrigen oder – bis hin zum Mord – zu schädigen.
Eben dies gilt nach Mohr gemäß seiner Quellenanlyse für die Trennung verschiedener Passagiere in Entebbe nicht. So hält Mohr den Kritikern, die ihm Verharmlosung der terroristischen Entführung eines Air-France-Flugzeugs vorwerfen, entgegen: »Unser wesentliches Ergebnis ist nach Recherche aller möglichen Quellen (… ), dass die bislang allerorten zur Tatsache erhobene Behauptung, in Entebbe habe es durch die Luftpiraten eine Selektion der Juden von Nichtjuden gegeben, Unfug ist.« (Jungle World 20/2017) Den Begriff der »Selektion« aber definiert er – in seinem Buch, Seite 327 – so: »Der Begriff Selektion bezieht sich auf die gezielte Ermordung in Konzentrationslagern.«

Das ist ungenau: Tatsächlich spricht die Forschungsliteratur im Falle von Auschwitz-Birkenau oder etwa Treblinka nicht mehr von »Konzentrations-«, sondern – genauer – von »Vernichtungslagern«. Gewiss wurden auch in Konzentrationslagern wie Buchenwald und Dachau politische Gefangene und auch Juden umgebracht – nach allem jedoch, was die zeithistorische Forschung inzwischen weiß, ging es dabei nicht um »gezielte Ermordung« wie etwa in Treblinka.

Der von Mohr verwendete Ausdruck »Selektion der Juden« scheint also im Zusammenhang von »Entebbe« soviel wie »Aussonderung aller von den Entführern als jüdisch identifizierten Personen« zu bedeuten. Gleichwohl ist zu fragen: Muss es sich, damit es statthaft ist, den Ausdruck »Selektion« zu verwenden, tatsächlich im strikten Sinne um alle (!) als Juden identifizierten Personen handeln, oder ist es zulässig, auch dann von »Selektion« zu sprechen, wenn es nicht um alle, sondern »nur« um einige Juden geht?

Damit geht es um die Frage, worin genau das von Mohr und anderen so genannte »Selektionsnarrativ« besteht. Dass es dabei nicht sensu stricto um die nur zeitlich verschobene Identität von Handlungen, die 1944 an der Rampe von Auschwitz, und Handlungen, die auf dem Flughafen von Entebbe vorgenommen wurden, gehen kann, ist allen Beteiligten der Debatte klar. In Frage steht lediglich, ob in Entebbe ähnliche Handlungen (Aussonderung) aus ähnlichen Motiven (es wurden Juden als Juden ausgesondert) vollzogen wurden. Darüber hinaus – so das historische Argument – könne von »Selektion« nur gesprochen werden, wenn das Ziel der Tötung von Anfang an vorgeherrscht habe – und es nicht nur um Gefangennahme zwecks Geiselnahme ging.

Die von Mohrs Kritikern als »apologetisch« bezeichnete Argumentation besteht darin, zu behaupten, Wilfried Böse und seine Mittäter hätten die unbestrittene Trennung verschiedener Passagiergruppen nicht auf der Basis ihres wirklichen oder angenommenen Jüdischseins vorgenommen, sondern »nur« aufgrund ihrer über die Pässe festgestellten israelischen Staatsangehörigkeit. Dann aber, so Mohrs Argumentation, zeige sich, dass das Motiv der Trennung nicht Judenfeindschaft, sondern lediglich Feindschaft gegenüber dem israelischen Staat als zionistischem, also jüdischem Staat gewesen sei. Es ist an dieser Stelle nicht nötig, die Debatte darüber zu eröffnen, ob Feindschaft gegenüber dem Staat Israel auf jeden Fall und immer schon alleine deshalb antisemitisch ist, weil dieser Staat nach dem Selbstverständnis der meisten seiner Einwohner »jüdisch« ist – es genügt, auf einen auch von Mohr nicht bezweifelten Quellenbefund hinzuweisen:

So bestreitet Mohr an keiner Stelle die Wahrheit der zuerst von Alexander Sedlmaier und Freia Anders im Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2013 überlieferte Zeugenaussage, dass in Entebbe zwei Ehepaare, ein belgisches und ein orthodox jüdisch gekleidetes, aufgrund ihres Namens und Aussehens, von Böse zu den als Geiseln festgesetzten Israelis verwiesen worden seien.

Dann aber steht fest, dass die Entführer in mindestens zwei, genauer gesagt vier Fällen Personen nur deswegen aussonderten, weil sie sie für Juden hielten. Dabei fällt, nebenbei gesagt, auf, dass die Entführer – wie übrigens viele Vertreter der zionistischen Staatsideologie – »Israelis« und »Juden« gleichsetzten. Damit jedoch ist Mohrs Behauptung, es habe keine Aussonderung von Juden gegeben, im strikt wissenschaftstheoretischen Sinne falsifiziert. Zur Klärung kann ein Gedankenexperiment dienen: Man überlege, ob sich als solche ausweisende christliche oder muslimische Araber mit israelischem Pass ebenfalls als Geiseln genommen worden wären.

Daher ist einzuräumen, dass es bei der Trennung der Passagiere zwar nicht im selben Sinn wie an der Rampe von Auschwitz um »gezielte Ermordung« ging, wohl aber um Schädigung und Misshandlung von mindestens vier Personen aufgrund der Annahme, dass sie Juden seien. Also erweist sich zweifelsfrei, dass die Trennung auf jeden Fall »antisemitisch« war. Im politischen Diskurs aber ist es durchaus statthaft, Ähnlichkeiten bei menschenfeind­lichen Handlungen mit Anspielungen auf die Nazizeit zu verdeutlichen. Was spricht etwa dagegen, die jahrelange Einsperrung und den Missbrauch des Mädchens Natascha Kampusch durch Wolfgang Priklopil mit einer solchen Metapher zu verdeutlichen? So schrieb der Sachbuchautor Peter Reichard über den Entführer, Wolfgang Priklopil: »Wie ein KZ-Arzt vermaß er akkurat jedes einzelne Körperteil seiner spindeldürren Gefangenen, um sie hinterher als ›zu fett‹ zu beschimpfen.«

Im Fall von Entebbe muss zudem offen bleiben, ob eine mögliche Tötung der Geiseln von Böse mindestens billigend in Kauf genommen wurde. Seine von Zeugen überlieferte Aussage gegenüber den Geiseln, dass er kein Antisemit sei, und sein schließlicher Verzicht darauf, sie im Zuge der Befreiungsaktion der israelischen Armee zu töten, beweisen jedenfalls nicht, dass seine Motive – reflektiert oder unreflektiert – nicht doch antisemitisch waren. Indem er mindestens billigend in Kauf nahm, dass auch nichtisraelische Juden ausgesondert wurden, hat er sich nicht nur antisemitisch verhalten, sondern darüber hinaus seine eigene – angeblich nur »antizionistische« – Motivation verraten.
Mohr geht es im Vorwort seines Buchs um eine Kritik an Interpreten, die die Trennung der Passagiere in Entebbe »als eine Verlängerung der deutschen Holocaust-Geschichte« deuten. Dabei sei, so Mohr weiter, »irritierend, dass diese mutmaßliche Selektion von politischen Aktivisten ausgeführt worden sein soll, die mit ihrer Organisation einen dezidiert linken Anspruch verfolgten … «

Warum aber ist dieser Umstand »irritierend«? Längst ist bekannt, erforscht und überzeugend belegt, dass viele Personen und Organisationen – von den französischen Frühsozialisten über Karl Marx, einem Antisemiten nicht der Tat, sondern der Gesinnung, bis zu Stalin und seinen Anhängern in der Sow­jetunion und der Tschechoslowakei – Antisemiten waren; warum soll das ausgerechnet im Falle einzelner Mitglieder der »Revolutionären Zellen« anders gewesen sein?

Ein Letztes: Irritierenderweise schreibt auch Mohr den Rufnamen von Böse immer wieder als »Bonni«, was erneut von einer gewissen Unkenntnis zeugt. Als zeitweiliges Mitglied nicht der »Revolutionären Zellen«, sondern der Frankfurter »FNL«, der »Föderation Neue Linke«, in der Wilfried Böse Kassierer war, kann ich bezeugen, daß der spätere Entführer deswegen »Boni« – nicht »Bonni« – gerufen wurde, weil sein Taufname »Wilfried« war. Gelegentlich kann etwas Kenntnis der Kirchengeschichte nicht schaden: Ein Mönch namens Wilfried, spätestens seit dem 16. Jahrhundert als »Apostel der Deutschen« bekannt, gründete im achten Jahrhundert das Kloster Fulda. ­Böses Genossen nahmen genau darauf Bezug, als sie seinen doch sehr altdeutsch klingenden Namen leicht verniedlichend in eine Kurzform von »Bonifatius« veränderten. Ähnlich verniedlichend ist Markus Mohrs Kritik am »Selektionsnarrativ«.