Die anarchistischen Wurzeln der Kibbuzbewegung

Anarchie im Kibbuz

In der frühen Kibbuzbewegung gab es viele anarchistische Elemente. Doch heutzutage beziehen sich Anarchistinnen und Anarchisten kaum noch positiv auf die Kibbuzbewegung.

Es sollte eine neue Art des Zusammenlebens werden. Inspiriert von den Vorstellungen der utopischen Sozialisten Charles Fourier und Henri de Saint-Simon entstanden in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem im französischsprachigen Raum und in den USA Siedlungen und sogenannte Phalanstères, landwirtschaftliche oder industrielle Produktions- und Wohngenossenschaften. Kaum eines der rund 100 Projekte überlebte allerdings mehr als eine Dekade. Ähnlich erging es den Siedlungsversuchen im deutsch­sprachigen Raum, die im ausgehenden 19. Jahrhundert strömungsübergreifend en vogue waren. Auch diese scheiterten, abgesehen von vereinzelten Ausnahmen, innerhalb kürzester Zeit. Im Gegensatz dazu kann die jüdische Kibbuzbewegung auf eine über 100jährige Tradition zurückblicken, gemessen an der Quantität der Siedlungsgenossenschaften stellt sie andere derartige Versuche in den Schatten. In ihrer Anfangsphase kann sie als der praktische Ausdruck eines in der jüdischen Arbeiterklasse breit ­diskutierten jüdischen Sozialismus angesehen werden.

Der nicht-jüdische Anarchist und Veteran des spanischen Bürgerkriegs, José Ribas, fand seine spätere Heimat in einem Kibbuz und propagierte diese Projekte in der anarchistischen Presse.

Aus den seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Rahmen der Alija, der jüdischen Migration nach Palästina, entstandenen zionistischen Siedlungen, genauer gesagt aus der Kommune Hadera, entwickelte sich im Jahr 1910 der erste Kibbuz der Welt, Kvutza Degania. Zwölf junge Migrantinnen und Migranten aus Osteuropa, die von zionistischen und sozialistischen Ideen geprägt waren, erbauten jenen Kibbuz, der bis heute ununterbrochen existiert, mit lediglich leichten Veränderungen der Grundwerte. Ihm folgten eine Reihe weiterer Kibbuzim, die sich dieser Werte annahmen. Ohne sich selbst als Anarchisten zu definieren, schufen diese Pionierinnen und Pioniere Siedlungen, in denen nach anarchistischen Prinzipien gelebt, gearbeitet und gewirtschaftet wurde. In einer frühen Selbstdarstellung von Degania definierte man sich als »kooperative Gemeinschaft ohne Ausbeutung und Ausbeuter«. Der deutsche Anarcho­syndikalist Augustin Souchy schrieb in seinem Bericht »Reise durch die Kibbuzim« anerkennend über diese Bewegung, es handele sich um »eine Groß­familie, eine Gesamtwirtschaft, in der die Produktionsmittel allen gehören und die Mitglieder gemeinsam beschließen, wie die Früchte der gemeinsamen Arbeit allen gleichmäßig zukommen sollen. (…) Ohne sich dessen bewusst zu sein, verwirklichten sie als erste in Israel die Ideale Proudhons, Bakunins, Peter Kropotkins und Gustav Landauers.« Der britische Journalist und Politikwissenschaftler Colin Ward sah in den Kibuzzim die Umsetzung Kropotkin’scher Ideale und auch Noam Chomsky würdigte sie in einem Interview als ein wichtiges anarchistisches Experiment.

Basierend auf der Maxime »Jedem nach seinen Bedürfnissen« wurde mit Degania um 1910 ein Projekt ins Leben gerufen, das die anarchistischen Kollektive während des spanischen Bürgerkriegs antizipierte. Der nichtjüdische Anarchist und Veteran des spa­nischen Bürgerkriegs, José Ribas, fand seine spätere Heimat in einem Kibbuz und propagierte in der anarchistischen Presse diese Projekte als annähernde Verwirklichung jener Ideale.

Zu den Prinzipien, die auch in vielen nachfolgend gegründeten Kibbuzim mehr oder weniger verwirklicht wurden, gehören erstens Freiheit und Freiwilligkeit. So erfolgt der Ein- und Austritt in einen Kibbuz freiwillig; ein Austritt ist jederzeit möglich. Das entspricht der klassischen Vorstellung ­einer freien Vereinigung. Das zweite Prinzip ist das der Gleichheit. Jegliche Tätigkeit im Kibbuz ist gleich viel wert. Jedes Mitglied hat die gleichen Rechte und den gleichen Anspruch auf das erwirtschaftete Einkommen. Drittens wird die Grundversorgung (Essen, Wohnen, Kleidung) für alle vom Kibbuz ­gestellt. Ansonsten gilt das oben genannte Prinzip »Jeder nach seinen Fähigkeiten, ­jedem nach seinen Bedürfnissen.« Als Viertes sind Selbstorganisation und Selbstverwaltung zu nennen. Der Kibbuz verwaltet sich selbst unabhängig von Staat und Unternehmen. Alle Entscheidungen werden gemeinsam im Rahmen von Vollversammlungen getroffen und die anstehende ­Arbeit wird gemeinsam verteilt. Fünftens die Ämter­rotation, alle Ämter im Kibbuz rotieren regelmäßig. Damit soll ­verhindert werden, dass sich eine büro­kratische Kaste herausbildet. Arbeit kommt sechstens, ähnlich vielen frühsozialistischen Ansätzen, ein wichtiger Stellenwert in der individuellen Selbstverwirklichung zu. Die Überwindung von entfremdeter Arbeit gepaart mit einem gewissen Arbeitsethos – in der Anfangsphase rein auf körperliche Arbeit fokussiert – waren die Basis für diese Selbstverwirklichung. Siebtens ging es um die Abschaffung des Geldes, wenn auch oft nur partiell. In einzelnen Siedlungsprojekten verbannte man das Geld komplett – eine Maßnahme, die auch aus einzelnen anarchistischen Kollek­tiven in Spanien bekannt ist.

Seit den achtziger und neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurden viele dieser originären Prinzipien aufgeweicht oder aus Gründen der Effizienz geopfert. Insgesamt ist die Bedeutung der Kibbuzim angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung in den Hintergrund getreten. Der Erfolg der frühen Bewegung beruhte auf sehr unterschiedlichen und spezifischen Faktoren. Den schwierigen Ausgangsbedingungen wie Armut und dem sich in jener Zeit in Europa verstärkenden Antisemitismus wurde mit einem ungeheuren Enthusiasmus getrotzt. Man wollte sich eine neue, auf sozialistischen Prinzipien beruhende Heimat schaffen. Diese Idee wurde von Autoren wie Theodor Herzl (»Der Judenstaat«, 1895; »Altneuland«, 1902) und Theodor Hertzka (»Freiland«, 1890) befeuert. Zudem hatte man Lehren aus den gescheiterten frühsozialistischen Versuchen gezogen. Franz Oppenheimers soziologische Untersuchung »Die Siedlungsgenossenschaft« (1896), die unter anderem in Auseinandersetzung mit Fourier entstand, bot nützliche Analysen und wurde ebenso wie die anarchistischen Konzeptionen Peter Kropotkins und Gustav Landauers in sozialistisch-zionistischen Kreisen breit diskutiert. Ebenfalls lassen sich vereinzelt Einflüsse des Agraranarchismus Leo Tolstois in den Debatten jener Zeit herauslesen.

Kropotkins Schrift »Landwirtschaft, Industrie und Handwerk« (1899) gehörte zu den ersten in der neuen Heimat ins Hebräische übersetzten Texten. Es folgte seine Schrift über »Die französische Revolution«. Gustav Lan­dauers Vorstellungen von Siedlungs­genossenschaften, die ihrerseits durch eine intensive Lektüre Kropotkins und Oppenheimers angeregt wurden, fanden vor allem durch seinen Freund und Nachlassverwalter, den jüdischen Philosophen Martin Buber, ihren Weg in die Kibbuzbewegung. Vor allem in der jüdischen Jugendbewegung der zwanziger Jahre, aus der sich viele Kibbuznikim rekrutierten, fielen ­seine Ideen auf fruchtbaren Boden. Bis in die Gegenwart werden die Konzepte dieser Denker in linken Kibbuzim diskutiert. Der Marx’sche Sozialismus hingegen spielte lange Zeit keine Rolle und auch später nur eine untergeordnete. Aharon David Gordon, ein führender Kopf der jüdischen Arbeiterbewegung und spä­teres Mitglied des Kibbuz Degania, bemerkte über Marxens Ansätze in ­seinen »Briefen aus Palästina« (1919): »So wird durch hohen Idealismus und wissenschaftlichen Sozialismus die ­Nation, der Mensch erstickt.« Auch lehnte er explizit das Marx’sche Postulat vom Klassenkampf ab.

Trotz deutlicher Überschneidungen zwischen Kibbuz- und anarchistischer Bewegung gab und gibt es kaum Interaktionen. Dies hat sicherlich unterschiedliche Gründe. In vielen Ländern ist es der Antizionismus der Linken, der verhindert, dass sich anarchistische Gruppen positiv auf Kibbuzim beziehen. In Israel selbst unterscheiden sich die ­Lebensentwürfe der relativ jungen Anhängerinnen und Anhänger der neoanarchistischen Bewegung, die erst im Zuge der globalisierungskritischen Proteste an Bedeutung gewann, von denen in den Kibbuzim, die eher am klassischen Anarchismus orientiert sind. Zum anderen verbietet die ideologische Vereinnahmung der Kibbuzim als Grundlage des israelischen Staates und ihre Einbindung in dessen militärische Verteidigung für viele ­israelische Anarchistinnen und Anarchisten eine positive Bezugnahme.