Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags hat seinen Abschlussbericht vorgelegt

Aufklärung im Jahr 2134

Der zweite NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags hat seinen Abschlussbericht vorgelegt. Mit Kritik an den Behörden spart er nicht. Von einer abgeschlossenen Aufklärung kann jedoch keine Rede sein.

»Wir wissen auch nicht, wie es war«, gestand der Vorsitzende des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags, Clemens Binniger (CDU), der »Tagesschau«. Das Gremium habe aber Beweise zusammengetragen, die die Zweifel an der Annahme bestätigten, dass alle dem NSU zugerechneten Verbrechen allein vom Trio Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos begangen worden seien, so der Politiker.

In der vergangenen Woche veröffentlichte der zweite NSU-Untersuchungsausschuss seinen über 1 700 Seiten starken und von allen Fraktionen gemeinsam getragenen Abschlussbericht. Das Ziel von Untersuchungsausschüssen ist es, fragwürdige politische Vorgänge zu untersuchen, aufzuklären und so die Lage zu befrieden. Der profunde Bericht zeigt jedoch, dass der NSU-Komplex weit von der Aufklärung entfernt ist – zumal manche Behörden diese behindern. Zunächst hatte sich der Ausschuss intensiv mit der Frage beschäftigt, was am 4. November 2011 in Eisenach geschehen war, wo Böhnhardt und Mundlos in einem Wohnmobil tot aufgefunden worden waren. Diese Arbeit kostete den Ausschuss viel Zeit, die am Ende für andere Untersuchungsgegenstände fehlte.

Die neue Qualität des Skandals im NSU-Komplex durch den Beweis der vorsätzlichen Aktenvernichtung fand kaum öffentliche Resonanz.

Der Ausschuss des Bundestags wollte wohl entschieden gängigen Verschwörungstheorien entgegentreten, denen zufolge Böhnhardt und Mundlos sich nicht selbst erschossen hätten. Solche Spekulationen finden auch Anklang im linken Milieu. So lud die Interventionistische Linke zu ihrem NSU-Kongress Anfang 2016 den Kriminalautor Wolfgang Schorlau ein. Dieser wartete mit der These auf, der NSU sei von Geheimdiensten liquidiert worden.

Der Untersuchungsausschuss schreibt hingegen in seinem Abschlussbericht, dass nach gründlicher Auswertung der Aktenlage und vielen Zeugenvernehmungen nicht von einer Manipulation der Spuren am Tatort in Eisenach auszugehen sei. Die Linksfraktion konstatiert zudem in ihrem Sondervotum, das dem Bericht beigefügt ist, es werde allzu oft ignoriert, dass sich der Suizid der beiden Männer nahtlos in die NS-Traditionslinie »heroischer Kämpfer« einordne.

Besonders interessant sind die Sachverständigengutachten, die der Ausschuss in Auftrag gab, um das rechtsextreme Milieu in den Städten zu durchleuchten, in denen der NSU ihre Taten verübte. Als Gutachter wurden Fachleute wie die Journalistin Andrea Röpke und der Soziologe Matthias Quent gewonnen. Die Darstellungen zu Dortmund, Nürnberg und auch Kassel zeigen nach Ansicht des Ausschusses, dass »sich zahlreiche unmittelbare und mittelbare Kennbeziehungen der Terrorgruppe NSU in die lokalen, regionalen und überregionalen Neonaziszenen nachweisen lassen«.

Der Untersuchungsausschuss tritt mit dieser Feststellung der Annahme der Generalbundesanwaltschaft entgegen, die als Verfasserin der Anklageschrift im Münchner Prozess den NSU auf das Trio und wenige Unterstützer beschränkt. Mit klaren Worten bewertet der Ausschuss die Ermittlungen zum NSU-Netzwerk als unzureichend. Die Gutachten der Sachverständigen sollten als Anlass dienen, um »sich mit den jeweils analysierten Neonazistrukturen auseinanderzusetzen und den dort benannten Hinweisen nachzugehen«.

Doch nicht nur die Generalbundesanwaltschaft wird kritisiert. Der Untersuchungsausschuss hatte immer wieder damit zu kämpfen, dass die Behörden Akten zu spät oder nur teilweise nach Berlin lieferten. Eine besonders unrühmliche Rolle spielt dabei das Bundesland Hessen. Dort arbeitet ein eigener Untersuchungsausschuss zu der Frage, warum sich der Verfassungsschützer Andreas Temme, der einen rechtsextremen V-Mann führte, sich im Internet-Café von Halit Yozgat befand, als dieser dort erschossen wurde. Die hessischen Behörden lieferten dem Bundestagsausschuss entscheidende Akten nur unvollständig. Das Gremium spricht in diesem Zusammenhang von einer »erheblichen Beeinträchtigung« der Aufklärungsarbeit.

Nicht überraschend ist, dass der Verfassungsschutz (VS) erneut im Zentrum der Untersuchung stand. Während der Arbeit des ersten Untersuchungsausschusses war bekannt geworden, dass der VS am 11. November 2011, unmittelbar nach der Selbstenttarnung des NSU, Akten zu einer geheimdienstlichen Operation im rechtsextremen Milieu geschreddert hatte. Dies hatte zu einer veritablen Krise des Inlandsgeheimdienstes geführt, in deren Zuge offen über die Abschaffung des Amtes diskutiert wurde. Am Ende mussten aber lediglich einige Präsidenten der VS-Ämter in Bund und Ländern ihre Plätze räumen.

Weil der erste Ausschuss nicht abschließend hatte feststellen können, warum die Akten geschreddert worden waren, musste der verantwortliche Beamte mit dem Decknamen Lothar Lingen erneut aussagen. Als diesem seine Angaben aus einer Vernehmung durch die Generalbundesanwaltschaft vorgelegt wurden, gelang dem Ausschuss der Nachweis, dass Lingen die Akten vorsätzlich hatte vernichten lassen. Seiner Aussage zufolge hatte er damals lediglich verhindern wollen, dass die schiere Anzahl der V-Leute im rechtsextremen Milieu zu unangenehmen Fragen an den VS führten. Während die Nachricht von der Aktenvernichtung 2012 noch für rege Empörung in der Öffentlichkeit gesorgt hatte, fand die neue Qualität des Skandals durch den Beweis der vorsätzlichen Aktenvernichtung kaum öffentliche Resonanz.

Beim Schreddern war damals auch die Akte des V-Manns Michael See alias Tarif vernichtet worden. Dieser hatte 2014 in einem Interview behauptet, er habe dem NSU-Trio bereits im Frühjahr 1998 Unterschlupf gewähren sollen, woraufhin ihn sein V-Mann-Führer angewiesen habe, dies zu unterlassen. Für den VS ist dies eine unangenehme Aussage, schließlich hätte die Möglichkeit zum Zugriff auf die drei Flüchtigen bestanden, wären sie bei dem V-Mann untergetaucht. Das Bundesamt streitet Sees Aussage weiterhin ab. Auch der Untersuchungsausschuss sah sich nicht in der Lage, die Glaubwürdigkeit des Zeugen abschließend zu beurteilen. Dies lastet der Ausschuss Lothar Lingen an, der durch die Vernichtung der Akten eine Rekons­truktion des Vorgangs verhindert habe. See hatte Anfang der neunziger Jahre gemeinsam mit Kameraden zwei Personen fast zu Tode geprügelt. Der Ausschuss kritisierte nicht nur seine Anwerbung scharf, sondern auch, dass der VS gegenüber See versichert hatte, die Schmerzensgeldzahlung an die Opfer von damals 50 000 Mark zu übernehmen. Bislang hat das Amt jedoch keinen Cent gezahlt.

Hatte der vorherige Untersuchungsausschuss des Bundestags noch zahlreiche politische Forderungen gestellt und Gesetzesreformen angeregt, so fällt der neue Abschnitt an Forderungen mit zwei Seiten sehr bescheiden aus. Dies scheint auch der Schwerpunktsetzung des Abschlussberichts geschuldet zu sein, der eher Fragen aufwirft, als Lösungen zu suchen. Bemerkenswert ist jedoch das sehr umfangreiche Sondervotum der Fraktion »Die Linke«. Sie fordert darin nicht nur die Auflösung des Verfassungsschutzes, sondern thematisiert auch den institutionellen Rassismus im Zusamenhang mit dem NSU-Komplex. Es ist einer der wenigen Teile des Abschlussberichts, in dem dies geschieht. Die Linkspartei zieht zudem den Schluss, dass es dem Nazimilieu der frühen neunziger Jahre erst dank des V-Leute-Systems gelungen sei, den Sprung zur Bewegung zu vollziehen. Die Partei fordert außerdem, der nächste Bundestag solle einen Untersuchungsausschuss zum Thema Rechtsterrorismus und Geheimdienste einsetzen.

Der NSU-Komplex dürfte das Parlament auch nach der Bundestagswahl beschäftigen. Nach dem Ende der Beweisaufnahme des Untersuchungsausschusses wurden neue Hinweise öffentlich. So deckte die Sendung »Report München« auf, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz den ehemaligen Anführer der deutschen Sektion von »Blood & Honour«, Stephan L., als V-Mann geführt hatte. Die Naziorganisation gilt als zentraler Akteur bei der Unterstützung des NSU. Im hessischen Untersuchungsausschuss kam in der vergangenen Woche heraus, dass der hessische VS einem internen Bericht zufolge bereits 1999 Hinweise auf eine Gruppe namens »Nationalsozialistische Untergrundkämpfer Deutschlands« erhalten hatte. Große Teile des internen Berichts sind jedoch bis zum Jahr 2134 als geheim eingestuft. Gäbe sich die Öffentlichkeit damit zufrieden, kann der Bundestag in 117 Jahren erneut einen neuen Untersuchungsausschuss einsetzen.