Linke Kritik am Neoliberalismus sollte offensiver werden

Mehr Utopie, weniger Staat

Linke Kritik am Neoliberalismus muss offensiver werden. Beim G20-Gipfel in Hamburg kann sich zeigen, ob es gelingt, die ökonomische und gesellschaftliche Emanzipation im Protest zu vereinen.

Bis weit in die Kreise ihrer linken Gegner hinein wird den Regimes von Wladimir Putin, Recep Tayyip Erdoğan und Donald Trump, der Bewegung von Marine Le Pen und den »Brexit«-Befürwortern eine gewisse Legitimität zugestanden: Schließlich seien sie ja alle gegen den Neoliberalismus. Sie versprächen die Rehabilitierung des »kleinen Mannes«, die Rückkehr zu konservativen – stabilen und übersichtlichen – Werten, zum ökonomischen Protektionismus, zur Zügelung von Spekulation und Banken, zu außenpolitischer Souveränität. Die Kultur- und Jetset-Linke, die akademische Linke und die Linke der Minderheiten, kurzum: die öffentliche Linke – sie solle sich in Demut üben, sie habe den globalen Neoliberalismus (»Globalismus«) angeheizt und darüber die Interessen der Proleten und Hausfrauen, der Hillbillys und Veteranen vergessen. Schlimmer noch: Sie habe sie als reaktionär gedemütigt. Die Revolte dagegen möge zu einer falschen Politik führen – schließlich geht jemand wie Erdoğan gegen alle Linken vor –, aber sie erfolge aus den richtigen Motiven.

Der Neoliberalismus ist die erste innerkapitalistische Bewegung, die ohne Utopie auskommt.

Diese Erklärung ist falsch – und sie unterschätzt die Wucht des Neoliberalismus. Sie geht nämlich davon aus, dass der Neoliberalismus linke Wurzeln habe oder zumindest linke Elemente. Demnach seien es die Libertinage und der Antiautoritarismus der »68er«, die über die Zersetzung der Familie und die Einführung alternativer Arbeitsformen schließlich zur Deregulierung der Arbeitswelt geführt hätten. Der Wunsch nach individueller Autonomie sei größer gewesen als das Beharren auf kollektive Solidarität. Das ist die übliche linke Selbstkasteiung, die immer auch auf der maßlosen Selbstüberschätzung des eigenen Diskurses und der eigenen gesellschaftlichen Rolle beruht.

Empirisch dürfte dieses Konstrukt – linker Postmaterialismus als Motor ökonomischer Deregulierung und als Leitmotiv einer globalen »Kulturelite« – kaum nachweisbar sein. Ökonomisch ist der Neoliberalismus – Deregulierung des Arbeitsmarktes, Flexibilisierung der Produktionsprozesse, Freigabe aller Arten von Finanzspekulation – die Antwort auf die historische Sättigungstendenz des Kapitals, seine zunehmende Überakkumulation. Das Produktivitätsniveau des Kapitals war bereits vor 50 Jahren dermaßen hoch, dass der Neoliberalismus seine Kritik an der regulierten Wirtschaft nicht im Büßergewand einer Krisentheorie artikulierte, sondern als Zukunftsversprechen: Diese Wirtschaft beruht auf »Mehr«, und wir versprechen euch ein noch zügelloseres, noch grenzenloseres »Mehr«. Politisch äußerten sich die Propagandisten des Neoliberalismus aber durchaus apokalyptisch und richteten sich direkt gegen die Verhandlungsmacht einer weltweit zwar sozialdemokratisch dominierten Arbeiterbewegung, die aber gerade in den Jahren um »1968« herum auch zu militanten Maßnahmen greifen konnte.

Der Neoliberalismus traute der Sozialdemokratie die Kontrolle der Arbeiterinnen und Arbeiter langfristig nicht mehr zu. Er war allzeit bereit, die Daumenschrauben anzuziehen – von Margaret Thatchers faktischem Bürgerkrieg gegen die streikenden Minenarbeiter 1984 bis zum andauernden »War on Drugs«, der in den USA vor allem das männliche schwarze Proletariat in den Knast und in die dortigen Sweatshops verfrachtet. Das fing in den siebziger und achtziger Jahren an – in den Neunzigern wurden die Früchte der Zerschlagung der Nachkriegsarbeiterbewegung geerntet.

Wie steht es aber heute um den Neoliberalismus nach den reaktionären Erfolgen von Putin bis Trump? Es führt nicht weit, die Wiederkehr der »starken Männer« als falsche, aber irgendwie berechtigte, auf jeden Fall naheliegende Antwort auf den Neoliberalismus zu verstehen – es führt nämlich geradewegs zum Phantasma des »linken Populismus«.

Tatsächlich reagieren diese neoautoritären Regimes – auch wenn sie, wie im Fall des Front National, noch eine »Bewegung« sind – auf die globale Aufstandswelle zwischen 2011 und 2014, von der Besetzung des Tahrir-Platzes in Kairo bis zum Euromaidan in Kiew. Man kann Erdoğans repressive Politik nicht ernsthaft verstehen, wenn man nicht die Gezi-Park-Proteste als für sie konstitutiv begreift. Man kann Stephen Bannon und die Breitbart-Ideologen nicht verstehen, wenn man verdrängt, was für ein Schock die »Occupy«-Bewegung für diese totalitären Libertären bedeutete.

Kritische Kritiker haben sich während der »Occupy«-Proteste ausgiebig über den Schlachtruf »Wir sind die 99 Prozent« mokiert, zu klassenunspezifisch sei er, womöglich schüre er noch das Ressentiment auf Minderheiten. Rückblickend muss man sagen, dass der Spruch zutreffender war, als es vielen Protestierenden bewusst war, und dass die Bewegung weiter war, als ihre Protagonisten ahnten. Die Bewegung verstand sich nämlich als emphatisch globale, sie kam ohne Rückbezug auf den heute wieder von Linken nos­talgisch verklärten Nationalstaat aus, sie benötigte keine linksverschwurbelten Technovisionen wie den Akzelerationismus, sie lehnte die entfremdeten Formen politischer Repräsentation ab, sie kritisierte instinktsicher die Destruktivkräfte des hochspekulativen, sich permanent von Lebens- und Arbeitswelten entkoppelnden Neoliberalismus, die die ganze Gesellschaft bedrohen. Dagegen artikulierten eben die berühmt-berüchtigten »99 Prozent« ihre lebensweltlichen Interessen. In diesem Schlachtruf war bereits die Aufhebung von Klassenschranken (und also auch von geschlechtlichen, ethnischen und staatlichen Grenzen) inbegriffen, das verlieh der Bewegung ihren utopischen und kosmopolitischen Charakter.

Es blieb auch weitgehend bei diesem utopischen Charakter, denn nur in wenigen Fällen mischten sich Arbeiterinnen und Arbeiter sichtbar und federführend in die Proteste ein und spitzten sie zum zielgerichteten Angriff auf Eigentums- und Produktionsverhältnisse zu. Trotzdem ist jene Aufstandswelle als eine globale Antwort auf den Neoliberalismus in all seinen politischen Spielarten zu betrachten – ob vereinigt-europäisch, russisch-nationalistisch, islamisch oder amerikanisch-plutokratisch. Studentisch-naive, hippiesk-freundliche Platzbesetzungen stellten symbolisch Regierungen, Verfassungskonstruktionen, eiserne ökonomische Spielregeln in Frage. Linken sollte das zu denken geben: Steht der Neoliberalismus vielleicht doch auf tönernen Füßen?

Die Reaktion auf diesen Utopismus sind Regimes, die einerseits dem »kleinen Mann« so viele soziale Zugeständnisse in Aussicht stellen (mehr aber auch nicht), dass er vielleicht das Interesse verliert, bei der nächsten Platzbesetzung doch noch mitzumachen, und die andererseits diesen Utopismus repressiv verfolgen und den Hass auf ethnische, kulturelle und sexuelle Minderheiten schüren. Darauf mit einem auf den Nationalstaat fixierten Populismus zu reagieren, wie es viele Linke tun, bestätigt die autoritären Bewegungen und Regimes in ihrer Politik. Wenn die Linke Antworten in einem von den Herrschenden vorgegebenen Rahmen gibt, dann liegen diese gar nicht so falsch, zumindest müssen sie sich vor dieser Linken nicht fürchten. Dabei agiert der autoritäre Neoliberalismus aus Schwäche, nicht aus Stärke.
Zurück also zum Utopismus von 2011? Der war voller Flausen, aber er sprengte den Rahmen des politisch Zugestandenen. Der Neoliberalismus ist nämlich die erste innerkapitalistische Bewegung, die ohne Utopie auskommt.

Sie verspricht einfach nur ein Extra-Mehr: noch mehr Privilegien, noch mehr Ausbeutung, noch mehr Verdrängung. Peter Thiel, jenem Silicon-Valley-Milliardär, der sich sehr früh zu Trump bekannte, ist das auch aufgefallen. »Wir träumten von fliegenden Autos und was wir bekamen, waren 140 Buchstaben«, stöhnte er. Er spielte auf Twitter an: Das Zukunftsversprechen des Neoliberalismus reduziert sich auf dürre Botschaften. Oder auf repressive: Die Doppelbewegung der Reaktion – soziale Zugeständnisse einerseits und die innerstaatliche Feinderklärung gegen konstruierte Minderheiten (also gegen Schwule, Feministinnen, Flüchtlinge, arme Schwarze etcetera), die den Arbeitern angeblich die sozialen Zugeständnisse madig machen wollen – zeigt, dass beides zusammengehört: die ökonomische und die gesellschaftliche Emanzipation.