Die Erwerbsarmut in Deutschland wächst

Vom Tellerwäscher zum Pensionär

Den Tüchtigen hat die Welt noch nie gehört. Selbst wer rund um die Uhr arbeitet, ist vor Armut nicht gefeit. In Deutschland ist die Erwerbsarmut deutlich stärker verbreitet als in anderen EU-Ländern.

»Wenn Sie was Ordentliches gelernt haben, dann brauchen Sie keine drei ­Minijobs.« So beantwortete Peter Tauber Anfang Juli auf Twitter die Frage eines Nutzers, ob das CDU-Wahlversprechen von der Vollbeschäftigung für ihn künftig drei Minijobs bedeute. Was der CDU-Generalsekretär mit dem Willen zur Vollbeschäftigung offenbar ausdrücken wollte, ist so simpel wie falsch. Weder Bildung noch Motivation haben großen Einfluß auf den Wohlstand des Einzelnen. Mehr als die Hälfte aller Minijobber in Deutschland haben eine ­reguläre Ausbildung oder sogar einen Hochschulabschluss. Es ist also nicht so, wie Tauber nahelegt, dass Minijobs ein Randphänomen wären, das einige wenige Menschen ohne Ausbildung betrifft. Die Wirtschaft in Deutschland wächst, die Arbeitslosigkeit sinkt – und trotzdem meldete der Paritätische Wohlfahrtsverband im März, dass sich die Armutsquote auf dem Höchststand seit der Vereinigung befinde. Besonders gefährdet seien kinderreiche Familien, Arbeitslose, Alleinerziehende, ­Migranten und zunehmend auch Rentner.

Die Zahl der armutsgefährdeten Berufstätigen hat sich zwischen 2004 und 2014 mehr als verdoppelt.

»Arbeitslose bilden mit einem Anteil von 59 Prozent die größte Gruppe der von Armut betroffenen Menschen. ­Arbeitslosigkeit ist damit eine der wesentlichen Risiken und Ursachen für Armut in Deutschland«, heißt es in dem Bericht.

Doch besonders die Anzahl der working poor, der trotz Lohnarbeit armen Menschen nimmt stetig zu. In Deutschland gab es der Bundesagentur für Arbeit zufolge im September 2016 mehr als sieben Millionen Minijobber. Fast 40 Prozent der Arbeitnehmer sind in Teilzeit beschäftigt. Innerhalb von 20 Jahren hat sich diese Zahl von 8,3 auf nunmehr 15,3 Millionen Menschen fast verdoppelt. ­Damit ist ein Niedriglohnsektor entstanden, der eben diese Erwerbsarmut ­begünstigt. Die Zahl der Berufstätigen, die als armutsgefährdet gelten, hat sich zwischen 2004 und 2014 mehr als verdoppelt, wie aus einer aktuellen Analyse der Hans-Böckler-Stiftung hervorgeht. Deutschland weist der Studie zufolge mit Abstand den höchsten Zuwachs an Erwerbsarmen unter 18 untersuchten EU-Ländern auf. Gleichzeitig sei die ­Beschäftigungsrate im europäischen Vergleich mit am stärksten angestiegen. Die Leiter der Studie ziehen daraus den Schluss:
»Offensichtlich ist der Zusammenhang zwischen Beschäftigungswachstum und Armut kom­plizierter als gemeinhin angenommen. Mehr Arbeit ist ­keine Garantie für ­weniger Erwerbs­armut.«

Generell haben Alleinverdienerhaushalte ein höheres Erwerbsarmuts­risiko, insbesondere wenn der Alleinverdiener oder die Alleinverdienerin ­atypisch beschäftigt ist. Alleinerziehende Mütter sind besonders von Armut gefährdet und auch der Anstieg der Kinderarmut resultiert maßgeblich daraus. Dass die Verfasser der Studie zur ­Erwerbsarmut dennoch keine geschlechtsspezifische Betrachtung vorgenommen haben, verwundert. Schließlich sind es vor allem Frauen, die in atypischen Beschäftigungs­verhältnissen arbeiten und daher den Niedriglohnsektor ausmachen. »Die Analysen wurden nicht getrennt für Männer und Frauen vorgenommen. Deshalb können wir zu geschlechterspezifischen Besonderheiten bei der Erwerbsarmut leider nichts sagen«, bestätigt Rainer Jung, Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der Hans-Böckler-Stiftung der Jungle World.

Die meisten Alleinerziehenden (90 Prozent) sind Frauen, die häufig in Teilzeit arbeiten, um Beruf und Familie vereinbaren zu können. Das erwirtschaftete Einkommen reicht dann oft nicht, um den eigenen Unterhalt und den der Kinder zu bestreiten. Mehr als die Hälfte der Alleinerziehenden ist auf Sozialleistungen angewiesen. Die Armutsquote der Alleinerziehenden steigt daher weiter, obwohl ihre Erwerbstätigenquote seit Jahren zunimmt.

Gründe für Erwerbsarmut sind vor allem im Strukturwandel des Dienstleistunggssektors zu finden, der insbesondere in der sogenannten Gig-Ökonomie die Schaffung von Niedriglohnjobs begünstigt. Arbeitskräfte sind nicht mehr festangestellt, sondern werden je Auftrag (Gig) bezahlt. Auch die zunehmende Flexibilisierung der Tarifbindung und die Aufweichung von Lohnvereinbarungen tragen zu schlecht bezahlten und unsicheren Arbeitsverhältnissen bei.

Marion von zur Gathen, Abteilungsleiterin des Paritätischen Gesamtverbands, konkretisiert die Gründe, warum Erwerbsarmut häufig weiblich ist: »Bei Frauen reduziert sich die Erwerbsarbeit häufig aufgrund von geleisteter Fürsorgearbeit, also der Betreuung von Kindern oder der Pflege von Angehörigen. Frauen haben dadurch auch mehr Brüche in ihren Erwerbsbiographien. Ein Wiedereinstieg in den Beruf ist dann selbst bei gut ausgebildeten Frauen mit Einbußen verbunden. Wir be­nötigen andere Arbeitszeitmodelle, damit wir die Arbeit und Verantwortung egalitär verteilen können und damit Frauen weniger auf Erwerbsarbeit verzichten müssen«, sagte von zur Gathen der Jungle World.
Die deutsche Politik schafft jedoch keine funktionierenden Mechanismen, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Im Gegenteil. Die Schaffung prekärer Arbeitsplätze und der Druck auf Arbeitslose, schlechtbezahlte Arbeit anzunehmen, verschärfen das Problem weiter.

Anfang 2018 soll in Bremerhaven ein Pilotprojekt zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit beginnen. Statt faul herumzusitzen, sollen Hartz-IV-Empfänger künftig unbezahlt in Betrieben aushelfen oder öffentliche Parks pflegen. Tobias Helfst vom Bremer Erwerbslosenverband beurteilt das Pilotprojekt kritisch. »Menschen als Arbeitskraft ­irgendwo einzusetzen, ohne sie dafür anständig zu entlohnen, klingt für mich fast wie Zwangsarbeit«, sagte er der Taz. Neben den Zwangsmaß­namen entsteht durch solche Projekte und den Ausbau der Ein-Euro-Jobs de facto ein Mikrolohnsektor im Niedriglohnsektor.

Der Politikwissenschaftler und Armutsforscher Christoph Butterwegge ­erkennt darin ein Konzept: »Die Schaffung eines breiteren Niedriglohn­sektors, um den Wirtschaftsstandort Deutschland noch konkurrenzfähiger auf den Weltmärkten zu machen, hat wesentlich dazu beigetragen, dass es heute mehr Armut trotz Arbeit gibt. Das war auch bewusst so gemacht und gewollt«, sagte Butterwegge im Deutschlandfunk.

Tatsächlich war die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes das Kernstück der sozialdemokratischen Agenda 2010. »Wir haben einen der besten Niedriglohnsektoren aufgebaut, den es in ­Europa gibt. Ich rate allen, die sich damit beschäftigen, sich mit den Gegebenheiten auseinanderzusetzen, und nicht nur mit den Berichten über die Gegebenheiten. Deutschland neigt dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen, obwohl es das Falscheste ist, was man eigentlich tun kann«, prahlte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder 2005 während des Weltwirtschaftsforums in Davos.

Ebenso wie der Niedriglohnsektor und die Armut der Erwerbstätigen dürfte auch die Armut der Alten weiter wachsen. Im Juni 2017 wurden zwei weitere Studien zum Thema Altersarmut veröffentlicht von der Bertelsmann-Stiftung und eine vom Deutschen Institut für Altersvorsorge. Beide prognostizieren einen Anstieg der durchschnittlichen Armutsrisikoquote bis in die 2030er Jahre um zehn bis 20 Prozent. Dann wären etwa 2o Prozent der alten Bevölkerung armuts­gefährdet.

Langzeitarbeitslose und Niedrigqualifizierte werden demnach besonders oft auf Grundsicherung ­angewiesen sein. Auch von Altersarmut sind Frauen in höherem Maße betroffen. »Die Branchen, in denen besonders viele Frauen arbeiten, wie Pflege und Betreuung, sind Teil des Niedriglohnsektors. Das bedeutet, Altersarmut ist programmiert. Das Ergebnis sieht man an der gender pension gap«, sagte von zur Gathen.

Die sogenannte Grundsicherungsquote soll der Bertelsmann-Studie ­zufolge sogar von 16 Prozent im Jahr 2015 bis 2036 auf etwa 28 Prozent der alleinstehenden Neurentnerinnen ansteigen
Vor 150 Jahren erschien in Hamburg »Das Kapital«, Band eins, von einem ­gewissen Karl Marx. Darin analysiert der Autor, wie die kapitalistische Ökonomie gleichzeitig Reichtum und Armut schafft, und benennt die wachsende soziale Ungleichheit zwischen Kapitalbesitzern und der großen Mehrheit der Lohnarbeitenden als »allgemeines Gesetz« der kapitalistischen Entwicklung. Daran hat sich nicht viel geändert. Das Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und die Universität Potsdam untersuchten im vergangenen Jahr die ­Lebenssituation vermögender Menschen in Deutschland. Die Ergebnisse verwundern kaum. Reich wird man hierzulande vor allem durch eines: Erbschaft. Richtiger hätte Tauber also ­damit gelegen: »Wenn Sie wohlhabende Eltern hätten, dann bräuchten Sie ­keine drei Minijobs.«