Im Münchner NSU-Prozess haben die Plädoyers begonnen

Der Tag X rückt näher

Die Beweisaufnahme im NSU-Prozess ist abgeschlossen. Neue Verfahrens­fragen und vielstündige Plädoyers dürften die Urteils­verkündung aber bis in den Herbst verschieben.

Auf einmal ging alles sehr schnell. Der Vorsitzende Richter Manfred Götzl ­beendete vergangene Woche im Münchner Prozess wegen der Taten des ­»Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) die Beweisaufnahme, nachdem die letzten Beweisanträge der Nebenklage und der Verteidigung abgelehnt worden waren. In den Monaten zuvor war die Beweisaufnahme nur schleppend vorangegangen, weil zwischen der Verteidigung der Hauptangeklagten Beate Zschäpe, dem Gericht und der Bundesanwaltschaft ein Streit über die herangezogenen psychologischen Sachverständigen entbrannt war. Anfang Juli hatte das Gericht einem Antrag der Nebenklage stattgegeben, den von Zschäpes Verteidigung beauftragten Gutachter Joachim Bauer für befangen zu erklären. Nach Götzls Ansicht habe Bauer den »Eindruck der Parteilichkeit« nicht beseitigen können. Der Freiburger Psychiater hatte zuvor der Zeitung Die Welt per E-Mail einen Beitrag über Zschäpe und das Gerichtsverfahren ­angeboten. Den NSU-Prozess hatte er darin als »Hexenverbrennung« bezeichnet.
Der Senat dürfte dem Gutachten des Psychiaters Henning Saß folgen, der Beate Zschäpe dauerhafte Gefährlichkeit und die volle Schuldfähigkeit ­attestierte. Damit droht ihr im Falle eines Schuldspruchs die Sicherungsverwahrung nach verbüßter Haftstrafe.
Nach dem Ende der Beweisaufnahme sollen nun die Plädoyers der Prozessbeteiligten folgen, beginnend mit dem der Bundesanwaltschaft, die ankündigte, dass ihr Plädoyer rund 22 Stunden dauern werde. Die Vertreter der Nebenklage kritisierten, dass die Hinter­bliebenen kaum die Möglichkeit hätten, dem Plädoyer beizuwohnen. Götzl ­verlegte daraufhin am Mittwoch vergangener Woche den Beginn des Plädoyers von 9.30 Uhr auf elf Uhr. Mehrere Verteidiger beantragten dann, das ­Plädoyer der Bundesanwaltschaft aufzuzeichnen. Für ihre Mandanten sei es bei einer Länge von 22 Stunden nicht möglich, alle relevanten Aspekte mitzuschreiben.
Der Antrag warf wieder einmal eine Frage auf, die den Prozess von Anfang an begleitet: Inwiefern sollte bei einem so bedeutsamen Gerichtsprozess wie dem NSU-Verfahren von dem grundsätzlich geltenden Mündlichkeitsprinzip des Strafprozesses abgewichen werden, um Ton- und Bildaufzeichnungen zu ermöglichen? Bereits zum Beginn des Prozesses wurde die Forderung nach einer Video-Live-Übertragung in einen zweiten Raum erhoben, damit mehr Pressevertreter und Besucher das Verfahren beobachten können. Im Laufe des Prozesses zeigte sich jedoch, dass nur wenige Pressevertreter die Ausdauer hatten, an der Mehrzahl der Verhandlungstage anwesend zu sein. Auch das Interesse der Öffentlichkeit nahm stetig ab, so dass viele Sitze auf der Zuschauertribüne leer blieben.
Bei dem neuen Antrag der Verteidigung ging es aber nicht um die möglichst ungeschmälerte Teilhabe der Öffentlichkeit am Verfahren, sondern um das Recht der Angeklagten auf einen fairen Prozess. Wer sich vor einem staatlichen Strafgericht zu verantworten hat, der muss tatsächlich die Möglichkeit haben, die Anklage nachzuvollziehen. Zwar sind die Verteidiger prozessrechtlich dazu bestimmt, ihren Mandanten die juristischen Feinheiten der Plädoyers zu erläutern. Aber bei einem mehrere Tage dauernden Plädoyer dürfte es nicht von der Hand zu weisen sein, dass die Kon­zentration der Prozessbeteiligten nicht über den gesamten Zeitraum hinweg gleichbleibend gut sein wird. Im Strafprozess werden keine Protokolle an­gefertigt, die Angeklagten können also im Nachhinein nicht noch einmal nachlesen, ob sie wichtige Details nicht zur Kenntnis genommen haben. Eine interne Mitschrift für die Prozessbeteiligten ist aber möglich, sofern der Senat dies zulässt.

Die Bundesanwaltschaft lehnte eine Aufzeichnung ihres Plädoyers ab. Bundesanwalt Herbert Diemer berief sich auf das Persönlichkeitsrecht, weil der Mitschnitt an die Presse gelangen könnte. Allerdings steht die Bundes­anwaltschaft ohnehin in der Öffentlichkeit und hat immer wieder, auch spontan, zu dem Verfahren Stellung genommen. Überdies wird das Plädoyer schriftlich verfasst, wodurch die Gefahr einer unzutreffenden Wiedergabe des Vortrags minimiert wird.

Weil das Gericht selbst keine Protokolle anfertigt, schreiben die Beobachter der antifaschistischen Initiative NSU-Watch seit dem ersten Prozesstag kontinuierlich mit. Ihre Protokolle sind schon jetzt eine wichtige Quelle für Journalisten, Wissenschaftler und zivilgesellschaftliche Initiativen, um die Vorgänge im NSU-Prozess nachzuverfolgen. Hingegen sah sich kein rechtshistorisches Institut dazu veranlasst, einen der wichtigsten Strafprozesse der bundesdeutschen Geschichte zu dokumentieren. Der Streit über die Aufzeichnung der Plädoyers ist deshalb nicht nur aus Sicht der Angeklagten wichtig, sondern hat zeit­historische Relevanz. Am Dienstag dann verkündete Götzl: Sowohl eine Aufzeichnung als auch das Mitstenographieren und die Aushändigung des Manuskripts an die Verfahrensbeteiligten sind abgelehnt.

Die Bundesanwaltschaft führte in ihrem Plädoyer am Dienstag aus, dass sich die ursprünglichen Vorwürfe gegen die fünf Angeklagten während der Beweisaufnahme bestätigt hätten. Zschäpe sei Mitgründerin und gleich­berechtigtes Mitglied des NSU gewesen und somit auch Mittäterin an allen verübten Taten. Ziel der Taten sei ein »ausländerfreies Deutschland« gewesen. Aus der Sicht einiger Nebenkläger deckt diese Darstellung aber nur einen Teil der Erkenntnisse aus der Beweisaufnahme ab. Der Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler sagte dem Münchner Merkur, dass sich die Annahme der Bundesanwaltschaft, beim NSU habe es sich um eine isolierte Zelle gehandelt, als grundfalsch erwiesen habe. Sein Kollege Sebastian Scharmer kritisierte, die Generalbundesanwaltschaft wolle offenbar »einen Schlussstrich unter den Komplex NSU ziehen«. Die staatliche Mitverantwortung werde aus dem Verfahren herausgehalten und der NSU als Einzelphänomen dargestellt. Der Anfang Juli veröffentlichte Abschlussbericht des zweiten NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestags hatte die Vermutung dargelegt, dass der NSU mehr Unterstützer hatte als bislang bekannt.

Derzeit mobilisieren antifaschistische Gruppen zu einer großen Demonstra­tion. Sie soll einen Tag nach dem Ende des Prozesses in München stattfinden. Das »Bündnis gegen Naziterror und Rassismus« schreibt in seinem Aufruf, die Mehrheitsgesellschaft habe keine erkennbaren Lehren aus dem NSU ­gezogen. Rechte Gewalt werde weiterhin verharmlost und es fehle an einer Aufarbeitung des institutionellen Rassismus. Der Verfassungsschutz müsse ersatzlos abgeschafft werden.