Geschichtsaufarbeitung in Spanien: Die Überreste von Opfern des Bürgerkrieges sollen exhumiert werden

Graben für die Gewissheit

In Spanien liegen in Hunderten Massengräbern noch die Überreste von mehr als 100 000 namentlich bekannten Opfern des Bürgerkriegs (1936–1939) und der darauffolgenden Massaker. Die katalanische Regionalregierung will mit einem ambitionierten Plan Exhumierungen fördern.
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Im Pyrenäendorf Figuerola d’Orcau mit seinen knapp 200 Einwohnern wussten alle von einem Massengrab. Jenem, das just neben der alten Friedhofs­mauer im Mai 1938 ausgehoben wurde. »Die Alten haben davon erzählt. Auch davon, dass man Kreuze mit den Namen der Gefallenen darüber aufstellte. Und kein Bauer wagte es, das Land hier seither zu beackern«, sagt Constantí Aranda Farrero vom Partit Demòcrata de ­Catalunya. Er ist der Bürgermeister des unweit von Tremp und Andorra gelegenen Dorfes. »Es ist eine Frage der Würde, die Verscharrten zu exhumieren und zu identifizieren«, sagt er. »Es geht nicht darum, Wunden zu öffnen, wie die Rechtskonservativen beklagen, sondern darum, ebenjene zu heilen. Viele Familien leben seit Dekaden in Ungewissheit, was mit ihren Angehörigen geschehen ist. Und sie wünschen sich, ihnen ein würdiges Begräbnis zu ermöglichen.«

Dass das der spanischen Regierung widerstrebt, versteht der 57jährige nicht. Entgegen dem unter der ehemaligen sozialdemokratischen Regierung von Ministerpräsident José Luis Rodríguez Zapatero 2007 beschlossenen »Gesetz zur Wiedererlangung der his­torischen Erinnerung«, will die jetzige Regierung des konservativen Partido Popular (PP) keinerlei Förderungen zur Suche nach und Exhumierung von in Massengräbern Verscharrten gewähren.
In Eigenregie versuchen Vereine in ganz Spanien das zu finden, was jahrzehntelang begraben lag, so auch der von Emilio Silva Barrera und anderen gegründete »Verein zur Wiedererlangung der historischen Erinnerung«. Der Soziologe war der erste, der in Spanien ein Massengrab aus dem Bürgerkrieg bei León öffnete: Jenes, in dem sein Groß­vater, der auf Seiten der Republik kämpfte, und elf seiner Kampfgenossen nach ihrer Hinrichtung verscharrt worden waren.

»Das, was man jetzt unternimmt, hätte man vor 40 Jahren zum Ende der Franco-Diktatur schon machen sollen.« Josefina Villena, Nichte eines Gefallenen

Spaniens Amnestiegesetz von 1977 räumte den Tätern und Verantwortlichen für die Massaker Straffreiheit ein. Die Aufklärung ist daher ein zermürbender, zeitraubender Prozess. ­Unterstützt wird er unter anderem von der argentinischen Richterin María ­Romilda Servini de Cubría. Sie untersucht seit 2010 dem Prinzip der uni­versellen Strafgerichtsbarkeit folgend die Verbrechen der Franco-Diktatur. Zuletzt veranlasste sie die Suche nach Opfern von Massenerschießungen, auf Servinis Antrag wurde unter anderem ein Massengrab in Guadalajara ­geöffnet. 2008 erstellte der international renommierte Richter Baltasar Garzón eine Liste der »Verschwundenen« des Bürgerkriegs (1939–1939) mit 130 137 ­namentlich Bekannten; wegen seiner Ermittlungen im PP-Korruptionsfall Gürtel wurde er jedoch des Amtes enthoben (Jungle World 5/2012). Servini und die argentinische Justiz spielen seither eine wichtige Rolle in der Aufklärung der Verbrechen des Franquismus.

Spät, aber immerhin, ergreift nun die Regionalregierung Kataloniens die Initiative. Fast 80 Jahre nach den Mas­sakern, an einem sengend heißen Junitag, liegen in Figuerola d’Orcau nach einer Woche penibler Exhumierungsarbeit die ersten 17 Skelette frei. Ihr Knochenbau und die exzellent erhaltenen Zähne deuten darauf hin, dass es sich um sehr junge Männer handelte. Gewitterwolken türmen sich in den ­nahen Bergen auf, die nur knapp einen Kilometer entfernt im spanischen ­Bürgerkrieg eine der Frontlinien der Schlacht am Rio Segre von 1938 markierten. Die Zeit drängt für die knapp ein Dutzend Archäologen und Anth­ropologen. Es gilt, noch vor dem Regenguss das Tagespensum zu erfüllen.
»Man kann davon ausgehen, dass es sich um gefallene Soldaten handelt«, sagt der leitende Archäologe Francesc Busquets. Im Dorf habe es damals ein Feldlazarett gegeben: »Eines der Skelette weist schwerste Schrapnell-Verletzungen am Bein auf. Selbst Eisenteile der Granate sind zu sehen.« 15 der 17 Skelette seien ordnungsgemäß in Nordsüdausrichtung nebeneinander in das Massengrab gelegt worden. Zwei Tote waren darüber gebettet worden. Anhand der Reste von für die zwanziger Jahre typischen Uniformen, die erhalten blieben, geht Busquets zu »98 Prozent davon aus, dass es sich um Soldaten der ›Nationalen‹« handelte. Diese kämpften mit dem Putschisten und späteren Diktator Francisco Franco (1892–1975) gegen die demokratisch gewählte Zweite Spanische Republik.

»Es ist eine sehr wichtige Arbeit, die irgendjemand machen muss«, sagt Aida Gutierrez, eine forensische Anthropologin der Autonomen Universität Barcelona, während sie gewissenhaft mit einem Spachtel und einem Pinsel Erdreich unter dem Kieferknochen eines Schädels entfernt. »Zum Vorschein ­kamen neben Schuhwerk und Munitionskartuschen auch persönliche Utensilien, wie zwei Kämme und eine Bleistiftmine«, so Gutierrez, die aus der baskischen Region Vizcaya kommt.

Gewissheit über die Identität der ­Toten sollen nun genetische Analysen und der Abgleich mit einer Gendatenbank bringen, die Kataloniens Regionalregierung Ende des Vorjahres anlegen ließ, auch für etwaige noch lebende Angehörige. Mehr als 2 000 Nachkommen von Gefallenen oder von Menschen, die während und nach dem Siegeszug der faschistischen Armee bei »Säuberungen« landesweit massenhaft hingerichtet wurden, sollen in den kommenden Monaten dafür Speichelproben abgeben. Über 700 Personen haben dies bereits getan. Auch aus England, Österreich und Frankreich kamen ­erste Proben von Nachkommen der »Internationalen Brigadisten« bereits auf dem Postweg an. Die Proben können mittels eines zur Verfügung gestellten Kits entnommen werden, das man auf Anforderung erhält.

Ob die Nachkommen noch zeitlebens Klarheit haben werden, ist ungewiss. Derzeit werden die Ältesten von ihnen unter anderem ins Krankenhaus Vall d’Hebron in Barcelona geladen. Der 80jährige Josep María Tarragona Martí ist einer von ihnen, die Einladung zum Gentest erreichte ihn im April dieses Jahres. Er ist auf der Suche nach zwei Angehörigen, dem Bruder seiner Mutter, und dem seines Vaters, die auf entgegengesetzten Seiten kämpften. Er zieht zwei vergilbte Schwarzweißfotos aus seiner Brusttasche. Im April 1938 kämpfte einer der beiden Onkel, Luis Martí Morera, damals 17jährig, in der sogenannten Quinta del Biberón, dem »Babyflaschen-Regiment«. Die Republik hatte damals bei weitem nicht mehr ausreichend Soldaten, daher wurden Jugendliche ausgehoben. Das Letzte, was Tarragona Martí von seinem Onkel weiß, ist, dass er in der Segre-Schlacht bei Balaguer in den Pyrenäen gefallen sein soll.

Auf dem zweiten Foto sieht man spanische Kämpfer der sogenannten Blauen Division, die in den frühen vierziger Jahren für die nazideutsche Wehrmacht in Russland kämpften. Darauf ist Arturo Tarragona Calafell zu sehen, der Fernmeldesoldat war. »Ich habe sehr viel Briefkorrespondenz von ihm mit meinem Vater aus jener Zeit«, sagt Tarragona Martí. Verschlüsselt in den ersten Buchstaben der Absätze der Briefe teilte er darin stets seinen jeweiligen Aufenthaltsort mit. Der letzte Brief erreichte den Vater aus Nowgorod, ­datiert auf den 10. Februar 1943. »An Arturo kann ich mich besser erinnern. Ich war sechs Jahre alt, als er fortging.« Die Gendatenbank macht keinen Unterschied, auf welcher Seite die Opfer kämpften. Arturo Tarragona Calafell ist aber bislang ein Einzelfall, noch dazu da er aller Vorraussicht nach in der ­damaligen Sowjetunion gefallen war. In der Zeit des Franco-Regimes habe man sich innerhalb der Familie nicht über die Opfer unterhalten, so Tarragona Martí. Es sei ein Tabu ge­wesen. Auch wenn es die »Straße der Gefallenen der ›Blauen Division‹« in Spanien noch gibt und Franco ihnen Denkmäler er­richten ließ, waren die Unterstützer der Nazi-Wehrmacht nicht wirklich ­angesehen. Dass niemand sich dieser Toten erinnern will, aus politischen Gründen, schmerzt Tarragona Martí. Er ist aber guter Hoffnung, die sterb­lichen Überreste zu finden mit dem Ziel, sie im Familiengrab beizusetzen und ihnen eine Zeremonie zu bieten.

»Das, was man jetzt unternimmt, hätte man vor 40 Jahren zum Ende der Franco-Diktatur schon machen sollen«, sagt Josefina Villena. Die 71jährige ist dabei den Tränen nahe. »Erst wenn man die Opfer findet und sie bestatten kann, können die Familien der Opfer das ­Kapitel abschließen.« Sie versucht, die Gebeine ihres Onkels väterlicherseits zu finden und zu bergen. »1938 erhielt mein Vater einen Brief, der besagte, dass er in Mosqueruela de Teruel – einer der verlustreichsten Schlachten des Krieges – gefallen war.« Ihre Cousine, mittlerweile über 90, versuchte an Ort und Stelle an Informationen zu gelangen – vergebens, so Villena.

Sie teilt eine Befürchtung mit vielen der Hinterbliebenen: dass die Gebeine von den »Nationalen« bereits nach Kriegsende ausgegraben und neben Franco in dessen Mausoleum, dem »Tal der Gefallenen«, platziert wurden wie über 10 000 Republikaner und Zwangsarbeiter, die bei dessen Bau ums Leben kamen. »Man kann doch nicht die Opfer mit ihrem Mörder bestatten«, sagt sie. »Ein bisschen Kohärenz ist schon gefragt.« Selbst wenn man ihren Onkel nicht entdecke, wäre sie »unendlich dankbar. Dafür, dass man es zumindest versucht hat.«

Allein in Katalonien hat man im Zuge des »Plans der Massengräber 2017–2018«, der ein Budget von 800 000 Euro hat, 503 Massengräber identifiziert. Über 260 sind verifiziert. Der Rest birgt mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenso die Gebeine von Opfern. Immer wieder kommen Knochen aus der Zeit des Bürgerkriegs zu Tage. Mehr als 30 Skelette hat die katalanische Regional­regierung in den vergangenen Monaten an der Oberfläche gefunden, im Ebro-Tal – Schauplatz der größten Schlacht des Bürgerkriegs –, aber auch im Priorat und in Noguera an der Grenze zum benachbarten Aragón.

»Man kann sich vor seiner Vergangenheit nicht ewig verstecken«, sagt Raül Romeva, ehemaliger EU-Parlamentarier und derzeit katalanischer Minister für Auswärtige Angelegenheiten und Transparenz, in dessen Ressort diese Thematik fällt. »Es kann keine Gerechtigkeit geben, solange anonyme Opfer in vergessenen Massengräbern verscharrt sind.« Selbst das Fundament der ­spanischen Demokratie sei aus diesem Grund brüchig. »Mit dem ›Plan der Massengräber‹ will man nicht alte ­Konflikte wiederbeleben«, unterstreicht er beim Besuch der Exhumierung dieses ersten Grabes in Figuerola d’Orcau. Es gehe vielmehr darum, »ein Versäumnis vergangener Jahrzehnte« zu beheben.