Ein Besuch bei einer Raki-Brennerin im albanischen Teth-Tal

Die Raki-Meisterin

Umgeben von den imposanten Felshängen der Nordalbanischen Alpen wird im abgelegenen Theth-Tal nach alter Tradition Schnaps destilliert.

Die letzten Kilometer über den Bergpass zum Theth-Tal ist die Straße unbefestigt. Der Ausblick ist atemberaubend und zuweilen schwindelerregend. Neben der Straße klafft ein steiler Abgrund, über den Tälern erheben sich die imposanten Nordalbanischen Alpen. Bis zur Baumgrenze unterhalb der grauen Felswände haben sich die Blätter des Waldes bereits herbstlich verfärbt. Der Fahrer des Geländewagens bekreuzigt sich, als er seine Passagiere sicher an ihrem Ziel abliefert, einem zweistöckigen Steingebäude am Straßenrand. Es ist etwa einen Kilometer steinigen und gewundenen Wegs vom historischen Kern der Siedlung entfernt, in der neben einer Kirche auch ein dreistöckiger Kulla steht, einer jener Wehrtürme, die einst große Bedeutung für das in dieser Region praktizierte System der Blutrache hatten.

Am Hauseingang begrüßt Vitora Tërthorja die Besucher aus Gjermani und führt sie zu einer kuriosen Apparatur im Garten des Anwesens. Sie trägt einen schwarzen Rock und ein langärmliges schwarzes Oberteil. Die letzten Sommertage im Tal sind heiß, doch die Abende kalt. Ihre ergrauenden lockigen Haare hat Tërthorja braun mit einem Stich rot gefärbt. »Meine Destillerie«, stellt sie die kleine Anlage vor. An einem Ende des aus zwei Teilen bestehenden kesselartigen Metallbehälters ragt ein Metallrohr hervor, das rechtwinklig abbiegt und am anderen Ende auf der Gabel eines in den Boden gerammten Asts ruht.

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Bild:
Carl Melchers

Aus dem Ende des Rohrs tröpfelt eine klare Flüssigkeit in einen auf einem Holzblock stehenden Plastikeimer, der mit einem dünnen, weißen Baumwolltuch überspannt ist. »Dieses Gerät ist seit über 1oo Jahren im Besitz meiner Familie«, sagt Tërthorja stolz und meint damit offenbar Metallbehälter und Rohr, da die Anlage auch aus erkennbar moderneren Bestandteilen besteht. In der Mitte ist das Rohr von einer Art Kühlvorrichtung umgeben, in die durch einen Gummischlauch Wasser aus dem nahen Bach geleitet wird. Das Kühlwasser plätschert an der Mitte des Rohrs herunter, während unter dem Metallbehälter ein durch Wellblechstücke abgeschirmtes Feuer brutzelt.

»Momentan köcheln in dem Behälter die gegorenen Pflaumen«, beginnt Tërthorja den Produktionsprozess zu erklären. Sie ist die Raki-Meisterin der Familie. Eine solche Position können sowohl Männer als auch Frauen einnehmen, es ist jedoch üblich, dass ein Familienmitglied für den Betrieb der hauseigenen Destille bestimmt wird. Seit 40 Jahren sammelt Tërthorja jeden Herbst im Garten die kleinen roten Pflaumen, aus denen in dieser Gegend üblicherweise der Raki hergestellt wird. Dem albanischen Raki wird, im Gegensatz zum türkischen, meist kein Anis beigemischt; er schmeckt daher eher wie Obstler oder Grappa. Woher der Name kommt, ist nicht ganz klar. Mutmaßlich leitet er sich vom arabischen Wort araq ab, das »Schweiß« bedeutet. Wahrscheinlich kam die Tradition der Raki-Herstellung mit der osmanischen Eroberung ins Land. Sie wurde, anders als der Islam, auch von den katholischen Bewohnerinnen und Bewohnern des Theth-Tals angenommen.

In anderen Teilen des Landes wird Raki auch aus Trauben oder Maulbeeren hergestellt. Die Pflaumen lagern zur Gärung in zwei gut verschlossenen Plastikbottichen. Die Flüssigkeit der süßlich-vergoren riechenden Mischung verdampft in dem Metallbehälter über dem Feuer, steigt in das Rohr auf, wo sie vom wasserbetriebenen Kühlsystem wieder verflüssigt wird. Das Resultat ist das erste Raki-Destillat. »Das ist aber noch nicht der richtig gute Raki«, erläutert Tërthorja, während sie das Rohr löst, den Behälter in der Mitte auseinandernimmt und die untere Hälfte mit den heißen Pflaumenresten in der Nähe des Bachlaufs auskippt. Ihre drei mageren Hühner machen sich sofort darüber her. Mit dem Wasserschlauch spült sie den Metallbehälter gründlich aus und stellt ihn wieder über dem Feuer auf. Aus dem Plastikeimer schüttet sie nun das erste Destillat wieder in den unteren Teil des Behälters und verdünnt es mit Wasser. Dann baut sie die ganze Anlage wieder zusammen, wobei sie die Verschlüsse zwischen den einzelnen Teilen sorgsam mit einer Mischung aus Mehl und Wasser abdichtet, damit kein Dampf entweichen kann. Erst das zweite Destillat gilt als der richtige Raki. Vitoria füllt damit zwei Gläser bis zum Rand und reicht sie zum Kosten – »Gëzuar«, sagt sie, albanisch für Prost. »Wir danken Gott für unsere Gäste und dann stoßen wir mit dem Raki an. Das Schnapsbrennen ist sehr wichtig für die Menschen, die seit langer Zeit in dieser Region leben.« Die Menschen im Theth-Tal erhalten ihren Nachnamen nach dem Pfad, an dem sie leben. Vitorias Familie lebt an der Straße zum Tërthorja-Pass.

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Schweigen und Rauchen. Vitoras Cousin beobachtet die Raki-Herstellung

Bild:
Carl Melchers

In ganz Albanien wird auf diese oder ähnliche Weise Raki in Heimproduktion hergestellt. Es ist nicht ungewöhnlich, den Tag mit einem Raki und einem Kaffee zu beginnen. »Die meisten Erwachsenen trinken hier wohl 100 bis 200 Mililiter am Tag«, schätzt Florian Harusha, dessen Familie seit Generationen hier lebt und nun ein kleines Gästehaus nahe dem Ortskern betreibt. »Manche übertreiben es aber auch und trinken jeden Tag einen Liter«, mutmaßt er. Die wenigen Polizisten würden meistens beide Augen zudrücken, wenn jemand nach einigen Raki noch durch die Berge fährt. »In Shkodra«, der benachbarten Kreisstadt, »geht das natürlich nicht, aber in den Bergen kennt schließlich jeder jeden.«

Mit dem Tourismus, von dem Florians Familie lebt, hat das Tal in den vergangenen Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Die malerische Talkulisse ziert den Umschlag so manches Albanien-Reiseführers. Nach dem Sturz des stalinistischen Regimes kam es zunächst zu einer Mas­sen­emigration aus dem Theth-Tal. Manche zog es in die nahegelegene Stadt Shkodra oder nach Tirana, andere wanderten nach Westeuropa oder in die USA aus. »Zu Zeiten des Kommunsimus lebten über 1 200 Menschen im Theth-Tal, mehr als 200 Familien«, erzählt Florian. Heute gebe es vielleicht noch 20 Familien, die den Winter hier verbringen.

Vor 20 Jahren verließ Tërthorja das Tal auf der Suche nach einem besseren Leben und ließ sich in Shkodra nieder. Sie kommt aber jedes Jahr zwischen Mai und Oktober mit ihren Hühnern und ein paar Kühen und Schweinen wieder ins Tal. Im Sommer sei das Leben hier viel besser, im Winter hingegen schwierig. Sie erinnert sich, wie im Winter 1985 vor ihrem Haus der Schnee drei Meter hoch lag. »Wir mussten einen Tunnel graben, um ins Haus und wieder nach draußen zu kommen«, erzählt sie. Heutzutage schneie es es nicht mehr so viel, »vielleicht wegen der globalen Erwärmung«, wie sie nachdenklich hinzufügt. Der trockene Sommer hat auch in Albanien zu Waldbränden geführt, im Tal ist ein Teil der Ernte vertrocknet. Die

Subsistenzwirtschaft leidet unter den Wetterbedingungen, während der Tourismus boomt. Tërthorjas Sohn fährt berufsmäßig Touristen über den steilen Bergpass ins Tal. Vermutlich bekreuzigt auch er sich jedes Mal, wenn er die Strecke hinter sich gebracht hat. Und vielleicht kippt er noch einen Raki hinterher.