Die Möglichkeiten der Beschäftigten von Air Berlin im Arbeitskampf sind beschränkt

Die Kotztüte ist eine Waffe

Massenhafte Krankmeldungen von Piloten der Fluglinie Air Berlin erschweren die möglichst reibungslose Übernahme des insolventen Unternehmens. Die Interessen der Beschäftigten spielten in den Plänen von Politik und Wirtschaft bisher keine Rolle.

Das Flugzeugessen scheint nicht nur Passagieren auf den Magen zu schlagen, sondern auch so manchem Piloten. 200 von ihnen meldeten sich in der vergangenen Woche krank und erschienen nicht zur Arbeit bei der insolventen Fluglinie Air Berlin. Allein am Dienstag jener Woche musste das Unternehmen 100 Flüge streichen, auch am Tag darauf gab es zahlreiche Ausfälle.

Medien, Politik und die Fluggesellschaft glauben jedoch nicht an eine plötzliche Krankheitswelle, sondern wittern »illegale Arbeitskampfmethoden«. Aus Wut über das Management hätten die Piloten zum Mittel des sick-out gegriffen, also zur koordinierten Krankmeldung. Die Empörung ist groß. Die Süddeutsche Zeitung spricht von »ungerechter Selbstjustiz«. Die Streikenden seien dabei, »die Sitten zu verderben, im schlimmsten Fall über die Luftfahrtbranche hinaus«. Die Zeitung empfiehlt den krankgeschriebenen Beschäftigten »einen Grundkurs über den Wert von Regeln im Rechtsstaat«. Für die Berliner Morgenpost, ist das Verhalten »kaum zu entschuldigen«. Die Piloten trügen ihre »Zukunfts­ängste auf dem Rücken der restlichen Belegschaft aus«.

In einem Brief an die Mitarbeiter von Air Berlin meldet sich auch Oliver ­Iffert, der Leiter des Flugbetriebs der Gesellschaft, zu Wort. Für die Verhandlungen mit Interessenten über eine Übernahme von Teilen des Unternehmens seien die Ausfälle pures Gift. »Heute ist ein Tag, der die Existenz der Air Berlin bedroht«, so Iffert in der vergangenen Woche. In den Ohren der Beschäftigten, die womöglich bald ­arbeitslos sind, dürfte es allerdings wie Hohn klingen, wenn der Konzern sie zur Existenzbedrohung erklärt. Tatsächlich sind es nicht die Piloten, die die Billigfluglinie in die Pleite getrieben haben. Vielmehr führten die seit Jahren anhaltenden Verluste in dreistelliger Millionenhöhe im August zur ­Insolvenz des Billigflugunternehmens.

Das rigide geregelte deutsche Streikrecht untersagt Arbeitsniederlegungen gegen Unternehmensentscheidungen. Weder gegen die Schließung eines Betriebs noch gegen den Verkauf oder die Verlagerung dürfen Gewerkschaften in Deutschland zum Streik aufrufen.

Beim seither stattfindenden Ringen um eine Übernahme spielen die Interessen der 8 000 Beschäftigten eine ­untergeordnete Rolle. Das zeigt sich unter anderem angesichts des 150 Millionen Euro schweren Überbrückungskredits der Bundesregierung, der der Fluglinie die Aufrechterhaltung des ­Betriebs für drei Monate ermöglicht. Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi ­forderte, die Vergabe des Kredits an den Erhalt der Arbeitsplätze zu fairen Konditionen zu knüpfen. Von einer solchen Bedingung wollte die Bundesregierung jedoch nichts wissen.

Die Bundesregierung steht hinter der Unternehmensleitung

Auch angesichts der jüngsten Vorgänge unterstützt sie die Unternehmensleitung. So forderte Alexander Dobrindt (CSU), als Verkehrsminister unter anderem für die Sicherheit der Fluggäste verantwortlich, die krankgeschriebenen ­Piloten zur Rückkehr an den Arbeitsplatz auf. Die Insolvenz von Air Berlin sei »eine große Belastung für alle Mitarbeiter, vor allem auch wegen der ­Unsicherheiten bezüglich der Entwicklung der Arbeitsplätze«, sagte er Bild. Gerade deswegen sei es »wichtig, den Flugbetrieb jetzt bestmöglich aufrechtzuerhalten und nicht die Kunden in Mitleidenschaft zu ziehen«. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hält die zahlreichen Krankmeldungen für »hochgradig unsolidarisch«, Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) beschwört die Betriebsgemeinschaft und appelliert an den Zusammenhalt von Unternehmen und Belegschaft.

Der für die Sanierung des Betriebs verantwortliche Generalbevollmächtigte Frank Kebekus droht den krankgeschriebenen Flugkapitänen mit Konsequenzen. »Wenn sich die Situation nicht kurzfristig ändert, werden wir den Betrieb und damit jegliche Sanierungsbemühungen einstellen müssen«, so Kebekus. Dass der psychische Druck des bevorstehenden Arbeitsplatzverlusts bei zahlreichen Beschäftigten tatsächlich zu gesundheitlichen Problemen geführt haben könnte, scheint der Konzernleitung, der Politik und den Medien ausgeschlossen. Sowohl die Gewerkschaft Verdi als auch die Spartenorganisation Vereinigung Cockpit (VC) versichern jedoch, von einem sick-out nichts zu wissen und auch nicht zur Arbeitsniederlegung aufgerufen zu haben. Beide appellierten an die Piloten, wieder an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren, sofern kein akuter Grund für eine Krankmeldung vorliege.

Sollte es sich bei den Krankmeldungen tatsächlich um ein koordiniertes Vorgehen handeln, hätten die Beschäftigten jedenfalls allen Grund dazu. So planen alle bisherigen Kaufinteressenten, die Fluggesellschaft nicht im Zuge eines »Betriebsübergangs« zu übernehmen. Ein solcher läge unter anderem vor, wenn ein Käufer einen Betrieb als Ganzes seiner eigenen Firma einverleibte – mit der Folge, dass zunächst alle Tarifverträge des übernommenen Betriebs weitergelten würden. Bisherige Pläne sehen stattdessen vor, dass sich die Beschäftigten von Air Berlin bei den künftigen Eigentümern neu bewerben müssen.
In der Belegschaft herrscht vor allem die Furcht vor einer Zerschlagung des Unternehmens und der Vergabe der profitabelsten Teile an einzelne Käufer. ­Tarifgebundene Beschäftigte würden dabei als hinderlich gelten. Insbeson­dere die im Langstreckenbereich eingesetzten und in höheren Einkommensstufen angesiedelten Piloten fürchten um ihre Arbeitsplätze.

Der VC zufolge könnten die Langstrecken mit einer Preiserhöhung unattraktiv gemacht werden, um sie noch vor der Übernahme einzustellen und den Piloten zu kündigen. »Die könnte der Insolvenzverwalter bei einer Einstellung der Langstrecke sofort entlassen wollen«, so VC-Präsident Ilja Schulz zur Rheinischen Post. »Die Braut wird quasi für die Hochzeit hübsch gemacht.«

Die Pilotenvereinigung will deshalb über einen Sozialplan verhandeln. Darin sollen verbindliche Kriterien – wie beispielsweise die Betriebszugehörigkeit und soziale Aspekte – dafür festgelegt werden, in welcher Reihenfolge Piloten zu neuen Eigentümern wechseln können. Am Tag vor dem sprunghaften Anstieg der Krankmeldungen waren die Gespräche hierfür vorerst gescheitert. Die Unternehmensleitung möchte eine Vereinbarung vermeiden, die von möglichen Investoren als Hindernis gesehen werden könnte.

Wilde Streiks als einzige Möglichkeit

Die legalen Druckmittel der Beschäftigten von Air Berlin sind begrenzt. Wie der Verkauf der Fluglinie abgewickelt wird, ob das Unternehmen in ­Teilen oder als Ganzes verkauft wird, zu welchen Bedingungen und an wen, unterliegt nicht der viel gerühmten deutschen Mitbestimmung. Sämtliche Entscheidungen können gegen den Willen der Betroffenen gefällt werden. Das rigide geregelte deutsche Streikrecht untersagt Arbeitsniederlegungen gegen Unternehmensentscheidungen. Weder gegen die Schließung eines Betriebs noch gegen den Verkauf oder die Verlagerung dürfen Gewerkschaften in Deutschland zum Streik aufrufen. Den Beschäftigten bleibt so häufig nur, auf illegale Arbeitskampfmethoden, sogenannte wilde Streiks, zurückzugreifen.

Zu solchen kommt es auch in Deutschland häufiger, als man denkt. Beliebte Mittel sind unter anderem stundenlange Betriebsversammlungen, an denen die gesamte Belegschaft teilnimmt, oder kollektiver Dienst nach Vorschrift. Auch der sick-out gehört zu diesen Streikformen und ist insbesondere in der Luftverkehrsbranche ein ­effektives Mittel. Schon während der »Bummelstreiks« von Fluglotsen in den sechziger und siebziger Jahren kam es zu kollektiven Krankmeldungen. Um bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen, meldeten sich während der Olympischen Spiele 1972 ganze Lotsenmannschaften geschlossen krank. Mehr als 40 000 Flüge fielen damals aus.

Ähnliche Vorgänge waren zuletzt im Herbst 2015 während den Tarifverhandlungen der Lufthansa und ins­besondere im vergangenen Jahr bei Tui Fly zu beobachten. Damals verkündete das Ferienflugunternehmen ein Sparprogramm auf Kosten der Beschäftigten, daraufhin meldete sich die Hälfte des fliegenden Personals eines Morgens krank. Innerhalb von Stunden gab das Management die Sparpläne auf.

Die Nervosität, die die Krankmeldungen der Piloten von Air Berlin bei der Unternehmensführung und in der Politik auslösen, lässt sich also leicht er­klären. Die verstärkte Anwendung von Methoden wie dem sick-out sind für sie eine Horrorvorstellung, da solche Formen des Arbeitskampfs jenseits des üblichen sozialpartnerschaftlichen Rahmens und der Zwänge des Streikrechts stehen. Sie sind weder von der Politik noch von Gewerkschaften kontrollierbar.