Die Gefangenen haben einen Sinn für die Türkei

Aussicht der Geiselnahme

Selbst der deutsche Außenminister Sigmar Gabriel spricht von den Verhafteten als Geiseln des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan. Um sie zu befreien, bedarf es einer Gegenleistung.
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Wer Geiseln nimmt, handelt aus einer Position der Schwäche. Wer stark ist, weiß seine Interessen anders durchzusetzen. Die Verzweiflung der Geiselnehmer kann sich während der Tat steigern. Egal ob bei Banküberfällen oder terroristischen Geiselnahmen: Die Verbrecher sind irgendwann meist umzingelt von der Staatsmacht, die sie dann entweder überwältigt oder ganz erledigt. Es geht nie gut aus.

Geiselnahme wird auch dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan vorgeworfen angesichts der Verhaftung der deutschen Journalisten Deniz Yücel und Meşale Tolu, des deutschen Menschenrechtlers Peter Steudtner und weiterer deutscher Staatsbürger. Erdoğan sieht sie als Verhandlungsmasse, um die Auslieferungen von Personen zu erreichen, die die türkische Regierung als Terroristen betrachtet – diesen bisher naheliegenden Verdacht bestätigte Erdoğan jüngst selbst in aller Eindeutigkeit. In einer Rede in Ankara bezog er sich auf den in der Türkei verhafteten US-amerikanischen Geistlichen Andrew Brunson, als er sagte: »Aber ihr habt auch einen Pastor. Gebt uns den, dann machen wir diesem hier den Prozess und geben ihn euch dann.« Sein Vorschlag: Brunson gegen den islamistischen Prediger Fethullah Gülen, der im pennsylvanischen Exil lebt und den die Türkei für den Putschversuch 2016 verantwortlich macht. Heather Nauert, die Sprecherin des US-Außenministeriums, lehnte das Angebot mit Nachdruck ab.

Im Juli kursierte bereits die Nachricht eines anderen schmutzigen Deals, den Erdoğan dem deutschen Außenminister Sigmar Gabriel bei dessen Besuch in der Türkei unterbreitet haben soll. Zwei türkische Generäle, die Erdoğan mit dem Putschversuch in Verbindung bringt, soll er für die Freilassung von Deniz Yücel gefordert haben.

Im August erließ der Staatspräsident das Notstandsdekret 694. Es regelt den Austausch von Häftlingen, sofern »die nationale Sicherheit und das Interesse des Landes dies erfordern«. Es versteht sich von selbst, dass Erdoğan darüber entscheidet, wann das der Fall ist. Wenngleich hier nur von Häftlingen die Rede ist, denkt Erdoğan auch an diejenigen türkischen Staatsbürger, die für ihn Terroristen sind, nach dem Putschversuch in Deutschland Asyl beantragt haben und dort auf freiem Fuß sind. Ebenfalls im August trat ein Dekret in Kraft, dass die maximale Dauer der Untersuchungshaft im Falle eines Terror-, Spionage- oder Putschvorwurfs von fünf Jahren auf sieben verlängert.

Es ist kein Zufall, dass einige US-amerikanische und deutsche Staatsbürger weiterhin in türkischen Knästen sitzen, während andere, wie etwa der italienische Journalist Gabriele Del Grande glücklicherweise freikommen. Erdoğan ist überzeugt: Die USA und Deutschland füttern die Feinde der Türkei, Terroristen der PKK und der Gülen-Sekte. In seiner Welt steht Erdoğan auf der Seite der Gerechtigkeit. Es ist eine Welt, in der es deshalb auch legitim erscheint, Deniz Yücel, Meșale Tolu und Peter Steudtner grundlos festzuhalten.

In Erdoğans Welt verliert Ratio als Handlungskompass immer mehr an Bedeutung. Nicht nur die Nahostpolitik der Türkei scheiterte auf diese Weise. Erdoğan stößt auch Verbündete im Westen regelmäßig vor den Kopf, nennt regierende Politiker des wichtigsten Exportlandes der Türkei »Nazis«. Er riskiert so nicht nur außenpolitisch, sondern auch ökonomisch die Stabilität seines Landes. Innenpolitisch werden ökonomische Leiden schnell bestraft. Erdoğan handelt sogar dem eigenen Herrschaftsanspruch nach zunehmend irrational. Je aussichtsloser die Situation eines Geiselnehmers wird, desto größer werden seine Selbstüberschätzung und sein Realitätsverlust. Die Verhaftungen von Yücel, Tolu, Steudtner und allen anderen als »Verhandlungsmasse« Festgesetzten sind Verzweiflungstaten. Sie zeigen: Erdoğan schwächelt – aber er überschätzt sich selbst.