In Griechenland hilft meist nur noch Selbstorganisation gegen die Krise

Raus aus dem Defizit

Die EU hat das Defizitverfahren gegen Griechenland eingestellt, die ökonomische Lage im Land bleibt jedoch schlecht. Solidaritäts­netzwerke und Selbstorganisation sind weiterhin für viele Menschen wichtig und eine leise Form der Gegenwehr.

Nach acht Jahren war endlich Schluss. Ende September stellte die EU das De­fizitverfahren gegen Griechenland ein. Nach der Durchsetzung der harten Austeritätspolitik, die von den Gläubigern verlangt worden war, um Hilfskredite an das hochverschuldete Land zu vergeben, konnte Griechenland vergangenes Jahr einen Haushaltsüberschuss von 0,7 Prozent des Brutto­inlandsprodukts (BIP) ausweisen; 2009, als die EU-Kommission das Verfahren eröffnete, lag das Haushaltsdefizit bei über 15 Prozent. Die Grenze für die Länder der Euro-Zone liegt bei drei Prozent des BIP.

Die Nachricht aus Brüssel wurde in der griechischen Öffentlichkeit jedoch kaum beachtet. Solche Zahlen bedeuten vielen Griechinnen und Griechen nichts mehr, denn sie erleben die Folgen der Sparmaßnahmen am eigenen Leib. Die Austeritätspolitik, die als alternativlos dargestellt wurde, scheint kein Ende zu nehmen und das Land leidet weiterhin unter einer extrem hohen Gesamtverschuldung von 179 Prozent der Wirtschaftsleistung. Am 2. Oktober wurde der Haushaltsentwurf für 2018 veröffentlicht. Vorgesehen sind erneut die Erhöhung der Steuereinnahmen und Kürzungen vor allem bei ­Sozialleistungen. Griechische Medien rechnen mit weiteren Sparmaßnahmen.

»Wir haben kapiert, dass sich die Dinge nur schwer ändern. Wir werden aber nicht jemanden beauftragen, die Lage zu ändern, sondern wir werden es selbst versuchen.« Stefanos Vasilakakis, Bürgerbewegung Mesopotamia

Was die Einschnitte der vergangenen Jahre bewirkt haben, ist nicht gerade ermutigend: In mehreren Krankenhäusern mangelt es weiterhin an wichtigem Personal, in den Universitäten an Büchern. Das Einkommen der Bevölkerung ist stark gesunken. Der durchschnittliche Arbeitnehmer hat wegen der Sparmaßnahmen fast ein Drittel seines Einkommens eingebüßt. Vier von zehn Rentnern leben von 300 Euro im Monat, die übrigen mehrheitlich von 500 bis 800 Euro, so die Schätzungen von Rentnerverbänden. Angaben der Dachgewerkschaft der Privatangestellten (GSEE) zufolge lag die tatsächliche Arbeitslosenquote im ­zweiten Quartal 2017 bei 28,7 Prozent. Aber auch ­viele, die eine Arbeitsstelle haben, leben an der Armutsgrenze. Insgesamt erhalten 38 Prozent der Arbeitnehmer weniger als den gesetzlich festgeschrieben Mindestlohn von 586 Euro brutto monatlich. Die Zahl der Teilzeitbeschäftigten und Arbeitslosen hat sich während der Krise fast verdreifacht. Mehr als die Hälfte derjenigen, die vergangenes Jahr einen Arbeitsplatz gefunden haben, sind in Teilzeitarbeit tätig. Einer von fünf Angestellten ist nicht versichert. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei über 43 Prozent, die höchste Quote in der EU. 40 Prozent der griechischen Kinder lebten in Armut, so die Schätzung von SOS-Kinderdorf.

Aktuelle Umfragen zeigen, dass die Mehrheit der Griechinnen und Griechen von der Situation im Land tief enttäuscht ist. Nicht nur von der Regierung, sondern auch von der Opposition. Wie auch zu Anfang der Krise wandern viele Menschen, insbesondere Jugendliche, aus, um eine Arbeitsstelle zu finden.

Generell hat die Bereitschaft zum Protest gegen die Austeritätspolitik abgenommen. 2011 hatte die Bewegung mit den sogenannten Empörten ihren Höhepunkt erreicht. Tagelang protestierten Tausende vor dem Parlament. Als 2015 Alexis Tsipras mit dem linken Bündnis Syriza an die Macht kam, nahm die Stärke der Protestbewegung ab. Manche dachten, eine linksgerich­tete Regierung würde die Forderungen der Bürgerbewegung berücksichtigen, da Syriza sich selbst an Solidaritätsbekundungen beteiligt hatte. Andere verließen die Protestbewegung aus Enttäuschung darüber, dass Tsipras die von den Gläubigern geforderte Politik durchsetzte. Aufrufen der Gewerkschaften zu Streiks und Demonstrationen folgen die Menschen kaum noch, Massenproteste in den Straßen sieht man mittlerweile selten. Dennoch ­geben manche die Hoffnung nicht auf.

Acht Jahre nach Ausbruch der Krise haben sich mittlerweile überall in Griechenland Solidaritätsnetzwerke gebildet. Diese fußen auf dem Prinzip der direkten Demokratie und Gleichheit, von den sogenannten sozialen Kliniken und sozialen Hilfszentren, Solidaritätsküchen für Einheimische und Einwanderer bis hin zu »Zeitbanken« auf Basis von Tauschwirtschaft sowie Bewegungen gegen Zwangsversteigerungen. Besonders stark sind derzeit die Bewegung für die Rechte von Flüchtlingen und Migranten, antifaschistische Gruppen sowie die Bewegung für Solidarität und Sozialwirtschaft.

Eines der vielen Solidaritätsnetzwerke im Raum Athen ist die Bürgerbewegung Mesopotamia im Stadtteil Moschato, die unter anderem Lebensmittel an bedürftige Menschen verteilt und eine Zeitbank sowie Nachhilfeunterricht für Schüler aus armen Familien organisiert. Stefanos Vasilakakis, Mitglied der Bewegung, sieht in der Selbstorganisation die einzige Möglichkeit: »Die Menschen sind realistischer geworden. Wir haben kapiert, dass sich die Dinge nur schwer ändern. Wir werden aber nicht jemanden beauftragen, die Lage zu ändern, sondern wir werden es selbst versuchen.«

»Griechenland wurde wegen der Krise zu einem Labor der sozialen Änderungen«, sagt Michalis Psimitis, Soziologieprofessor an der Universität der Ägäis. Die bestehenden Bewegungen hätten, auch wenn sie in der griechischen Öffentlichkeit nicht vollständig sichtbar sind, eine große Bedeutung für die Gesellschaft. »Dort werden neue Formen der Kultur, des Bewusstseins, der Geselligkeit und der Sittlichkeit auf der Grundlage von universellen Werten wie Freiheit, Gleichheit, Würde, Autonomie gebildet«, so Psimitis.

Projekte wie der selbstverwaltete Betrieb Vio.Me in Thessaloniki und die Athener Sozialklinik im Stadtteil Elliniko, in der 300 Freiwillige bisher mehr als 56 000 Menschen geholfen haben, sind mittlerweile europaweit bekannt und werden auch aus dem Ausland unterstützt. Doch trotz der großen Anzahl an Solidaritäts- und Selbstorganisationsprojekten gibt es keine gemeinsame Koordination. »Es gibt eine lose Vernetzung, die keine starken Knoten hat, um zusätzliche Dynamik zu geben. Es sind kleine Inseln in einem nicht zusammenhängenden Archipel«, sagt Nikos Serntedakis, Soziologieprofessor an der Universität von ­Kreta.