Bedrohte Squats. Hausbesetzungen werden in Brüssel kriminalisiert

Straße oder Squat

Das belgische Parlament hat ein Gesetz beschlossen, das Hausbesetzungen kriminalisiert. In Brüssel, wo bezahlbarer Wohnraum besonders knapp ist, regt sich Protest.
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Gar nicht so einfach, ein Interview zu führen, bei dem Tempo, in dem die Demonstrierenden durch die Brüsseler Straßen traben. Nein, sie wohne nicht in einem Squat, sagt die 32jährige Marie-Laure. »Aber es ist einfach völlig inakzeptabel, was hier läuft.« Und schon ist sie im Getümmel der Protestierenden verschwunden. Was »läuft«, ist die loi anti-squat, die das belgische Parlament am 5. Oktober verabschiedet hat. Nach Artikel 439/1 des belgischen Strafrechts werden Hausbesetzungen künftig strafbar sein. Bislang riskierte, wer ein Haus besetzt, lediglich dessen Räumung. Von nun an drohen zwischen 15 Tagen und zwei Jahren Haft. Außerdem muss man mit einem Bußgeld von bis zu 300 Euro rechnen, wobei ein Gericht eine Geld- oder Haftstrafe verhängen kann.

Grund genug also, sauer zu sein für die 200 bis 300 Leute, die an diesem lauen Oktoberabend in der Brüsseler Gemeinde Ixelles zusammengekommen sind, um gegen das Gesetz zu demonstrieren. Trotzdem ist die Stimmung nicht schlecht. Das mag auch daran liegen, dass die belgische Squatter-Bewegung noch immer Bedeutung für sich reklamieren kann. Denn mit den Hausbesetzungen hat die Szene auf ein gerade hier in Brüssel wichtiges Problem hingewiesen: enormer Leerstand von Gebäuden bei zugleich grassierender Wohnungsnot und Immobilienpreisen, die zweimal so hoch wie in Flandern und zweieinhalbmal so hoch wie in Wallonien sind.

»Das ergibt doch keinen Sinn, dass Häuser leer stehen, wenn es zugleich so schwer geworden ist, bezahlbaren Wohnraum zu finden«, sagt die 16jährige Mina. Sie sei aus Solidarität gekommen, erzählt sie, denn obwohl sie gerne in einem besetzten Haus wohnen würde, sei das für sie als Minderjährige selbstverständlich schwierig.

Nach der Besetzung des »123« dauerte es keine 48 Stunden, bis eine Vereinbarung mit dem Eigentümer getroffen wurde. Bis zum heutigen Tage müssen die Bewohner keine Miete bezahlen.

Von der Porte de Namur aus schlängelt sich die Demonstration nun durch die Straßen des Viertels Matonge, das denselben Namen trägt wie das Ausgehviertel Kinshasas, der Hauptstadt des Kongo, und traditionell vor allem von Angehörigen der kongolesischen Diaspora bewohnt ist. Seit einigen Jahren ziehen allerdings vermehrt auch Studierende hierher.

»À bas l‘état, les flics, les bourgeois« (Nieder mit dem Staat, den Bullen, der Bourgeoisie), schallt es durch die Straßen. Die Demonstration ist nicht angemeldet, doch von der Polizei ist weit und breit nichts zu sehen. Links und rechts der Marschroute werden Plakate geklebt, die zum Widerstand gegen die loi anti-squat aufrufen, es wird auch eifrig gesprüht.

Viele Protestierende haben keine rechte Lust, mit der Presse zu reden. Man weiß ja nie. Vince vom Squat »Kré-Action« aus Liège sieht das gelassener. »Ich bin schon am Ende meiner Hausbesetzerkarriere«, sagt der 50jährige mit einem verschmitzten Lächeln. Inwiefern sich die Situation mit dem neuen Gesetz tatsächlich ändern wird, vermag der erfahrene Squatter noch nicht abzuschätzen: »Das hängt davon ab, wie die Richter das Gesetz anwenden werden.« Seit 20 Jahren wohnt und engagiert sich Vince bereits in besetzten Häusern und denkt, dass sich in dieser Zeit viel verändert hat: »Es ist ein alltäglicher Kampf geworden.« Doch »mit der zunehmenden Prekarisierung werden vielleicht wieder mehr Leute Häuser besetzen, einfach nur, um dort zu wohnen«, sagt er.

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Nicht schön, aber mietfrei. Seit zehn Jahren ist das »123« besetzt, doch im kommenden Jahr müssen die Besetzerinnen und Besetzer das Gebäude verlassen

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thorsten fuchsuber

Gilles* sieht das ähnlich. »Straße oder Squat«, lautet für ihn die Alternative – ungeachtet der Tatsache, dass er mit Hausbesetzungen einen politischen Anspruch verbindet. Für eine Mietwohnung in Brüssel fehle ihm das Geld. Bis Anfang Oktober habe er gemeinsam mit anderen für einige Wochen ein Haus in der Rue de l’Orme im Brüsseler Stadtteil Etterbeek besetzt. Doch am 4. Oktober, einem Tag vor der Verabschiedung des neuen Gesetzes, habe die Polizei das Haus geräumt, sagt der Mittzwanziger. Jetzt schlafe er mal hier, mal dort bei Freunden. Fürs erste wolle er sich an keiner neuen Besetzung beteiligen, »weil man ja künftig nicht mehr nur die Räumung, sondern auch ein Strafverfahren riskiert«.

Nicolas Bernard ist Rechtsprofessor an der Université Saint-Louis in Brüssel. Dem 45jährigen zufolge läuft die loi anti-squat »allem zuwider, was derzeit unternommen wird, um die Wohnungskrise zu beheben. Es gibt ja allein in Brüssel zwischen 15 000 und 30 000 leerstehende Wohngebäude.« Und allein in der belgischen Hauptstadt stehen 45 000 Haushalte auf der Warteliste für eine Sozialwohnung. »Auf eine Dreizimmerwohnung muss man also ungefähr zehn Jahre warten«, so Bernard. Angesichts dieser Situation habe man in Brüssel wenigstens verstanden, dass Squatter sich nach jeder Räumung ohnehin ein neues Gebäude suchen: »Anstatt sie zu verjagen, hat man daher versucht, ihnen auf geregelter Basis ein Gebäude zur Verfügung zu stellen.« Doch damit könnte es nun vorbei sein, denn »die loi anti-squat läuft dieser intelligenten Praxis zuwider«, so Bernard.

Das bestätigen auch Réginald, Adrien und Steven. Die drei sitzen in einer Wohnküche im zweiten Stock des legalisierten Squats »123«, benannt nach der Nummer des zentral gelegenen Hauses in der Brüsseler Rue Royale. Nach der Besetzung des »123« vor zehn Jahren dauerte es keine 48 Stunden, bis eine mündliche Vereinbarung mit dem Eigentümer des einstigen Bürogebäudes der Region Wallonien getroffen wurde. Bis zum heutigen Tage müssen die Bewohnerinnen und Bewohner des »123« keine Miete bezahlen. Der Eigentümer profitiert davon, dass die Bausubstanz erhalten bleibt und er die Leerstandssteuer sparen kann – die allerdings ohnehin fast nie erhoben wird.

In Brüssel ist das »123« längst eine feste Institution. Ob im »Magasin des poissons«, wo man Lebensmittel und Kleider kaufen kann, oder bei der sonntäglichen »Tâble d’hôtes«, wo im Schnitt 80 Personen verköstigt werden: Es gilt der prix libre, der Preis, den jede und jeder nach eigenem Ermessen bezahlt. Das Haus verfügt zudem über drei Notschlafstellen für Obdachlose und eine Kneipe, das »Bokal Royal«; regelmäßige Konzerte gibt es auch. »Vor allem jedoch verstehen wir uns als carrefour de lutte«, sagt Steven – als »Kampfknotenpunkt«, denn es gibt im Haus Versammlungsräume, die von verschiedenen Gruppen und Initiativen für Veranstaltungen oder die Vorbereitung von Aktionen genutzt werden.

Doch nicht mehr lange. Anfang Oktober hat die Region Wallonien das Haus an einen privaten Investor verkauft. Für das »123« ist in elf Monaten Schluss. So lange währt noch die einjährige Kündigungsfrist, die das Besetzerkollektiv seinerzeit ausgehandelt hat.
Einige Bewohner und Bewohnerinnen des »123« sind Jugendliche, doch auch ein 77jähriger lebt dort. Ob sie ein anderes Gebäude besetzen werden, ist fraglich. »Unsere Leute haben Angst davor, ein Strafverfahren an den Hals zu bekommen. Es ist ja nicht so, dass wir nichts zu verlieren haben«, sagt Réginald. »Wir haben Arbeitsplätze in den unterschiedlichsten Bereichen, und wenn du dann einen Eintrag im polizeilichen Führungszeugnis hast, kannst du deine berufliche Zukunft vergessen«, ergänzt Steven. Für ihn ist das neue Gesetz auch Ausdruck einer Gesellschaft, die »nur noch ein einziges Lebensmodell zulassen, nichts daneben bestehen lassen will«, so der 43jährige.

»Es wird ein ganzes Netzwerk genossenschaftlicher und alternativer Strukturen zerstört.« Zum Beleg zählt Steven eine beeindruckende Reihe renommierter Brüsseler Institutionen auf: »Die Ateliers Mommen, das Programmkino Nova, die Beursschouwburg, der Marché des tanneurs und so weiter – das alles waren früher einmal Squats.«

Auch bei der belgischen Gewerkschaft FGTB empfindet man die loi anti-squat als »echte Katastrophe«, so Philippe Van Muylder, der Generalsekretär für die Region Brüssel. Mitte Oktober hat er daher zu einer Konferenz unter dem Titel »Wohnungsleerstand – sind Hausbesetzungen noch immer eine Alternative zum Leben auf der Straße?« in den Sitz des FGTB im inzwischen angesagten Brüsseler Stadtteil Saint-Gilles eingeladen. In diesem ist die Gentrifizierung in vollem Gange. Die FGTB-Zentrale blieb davon zumindest äußerlich unberührt. Etwa 40 Personen haben sich in einem schmucklosen grauen Raum eingefunden. Klassenkämpferische Parolen auf bedruckten Zetteln zieren die Wände, doch der Funke will nicht so recht überspringen. Ein Teil der Anwesenden kommt aus der Squatter-Szene, aber es sind auch viele andere da, die sich allgemein für das Thema interessieren. Die Gewerkschaft hat ein Sandwichbüffet vorbereitet, man wartet und kaut.

Als sich der Zug durch die Rue Blaes windet, riegelt die Polizei die Straße vorne und hinten ab und verkündet, ohne Preisgabe der Personalien komme hier keiner heraus. Klein beigeben will eigentlich niemand.

Ehe er das Podium vorstellt, verdeutlicht Van Muylder, warum die Veranstaltung nicht nur eine Solidaritätsgeste, sondern im Interesse der Gewerkschaft ist: »Auch Betriebsbesetzungen können mit dem neuen Gesetz kriminalisiert werden.« Nacheinander ordnen verschiedene wohnungspolitische Initiativen das Gesetz aus ihrer Perspektive ein. Nicole Mondelaers von »La Strada«, einer Hilfsorganisation für Obdachlose, betont, dass viele Arme in Brüssel wenn nicht obdachlos, so doch gezwungen seien, inadäquat und in einer gesundheitsschädlichen Umgebung zu wohnen. Jemand von den »sans-papiers« sagt, Hausbesetzungen seien für seine Bewegung vor allem wichtig, um Sichtbarkeit zu erlangen.

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Nicht schön, aber mietfrei. Seit zehn Jahren ist das »123« besetzt, doch im kommenden Jahr müssen die Besetzerinnen und Besetzer das Gebäude verlassen

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Auch der Bürgermeister von Etterbeek, Vincent De Wolf vom liberalen Mouvement Réformateur, ist gekommen. Seine Partei gehört zur Regierungskoalition und hat das kritisierte Gesetz mit auf den Weg gebracht. Über die Räumung des Hauses in der Rue de l’Orme sei er nicht informiert gewesen. »Ich konnte bislang die Leute immer ohne Polizei dazu bewegen, ein Gebäude zu verlassen«, behauptet De Wolf. Auch habe er die Betroffenen danach immer adäquat untergebracht. Murren aus den Reihen des anwesenden Kollektivs »Piratons Bruxelles«, dessen Mitglieder von weniger positiven Erfahrungen mit der Gemeinde Etterbeek zu berichten wissen. »Wir sind sehr wütend«, beschreibt einer von ihnen die Stimmung. Er kündigt eine zweite Demonstration gegen die loi anti-squat an und wendet sich direkt an den Bürgermeister von Etterbeek: »Übrigens, Herr De Wolf – wenn Sie ein leerstehendes Gebäude haben, geben Sie uns Bescheid. Wir wissen, was man damit machen muss.«

Der Protest auf der Straße wird am 1. November kurz nach 17 Uhr auf der Brüsseler Place du Jeu de Balle fortgesetzt. Die Reste des weithin bekannten Flohmarkts, der hier bei Wind und Wetter täglich stattfindet, sind längst beseitigt, und trotz der etwa 100 Protestierenden, die sich bereits versammelt haben, macht der Platz einen recht verschlafenen Eindruck.

Für eine Demonstration, die sich auch gegen massenhaften Gebäudeleerstand und Gentrifizierung richtet, ist die Place du Jeu de Balle in den Brüsseler Marollen dennoch ein passender Ausgangspunkt. Schon seit Mitte des 19. Jahrhundert ist das Viertel für Arbeiterorganisation, Streiks und Straßenkämpfe bekannt. Während des Ersten Weltkriegs war die Angst vor Revolten im Quartier so groß, dass die Staatsmacht dauerhaft eine Kanone auf der Rue Montserrat postierte, um den nahegelegenen Justizpalast zu schützen.

Zwischen den Kriegen fanden republikanische Spanier wie auch Jüdinnen und Juden, die vor den Pogromen in Osteuropa geflüchtet waren, in dem überbevölkerten Viertel Unterschlupf. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen hier manche Cafébesitzer Menschen ohne Obdach nach der Sperrstunde gar in den Schankstuben übernachten, wo sie teils auf Stühlen sitzend schliefen. Die Stadt begann 1959 mit dem sozialen Wohnungsbau, doch schon 1969 wurde für eine Erweiterung des Justizpalasts das ganze Viertel zum Abriss bestimmt. Allerdings hatte man die Rechnung ohne dessen Bewohnerinnen und Bewohner gemacht. Sie begannen und gewannen die »Bataille de la Marolle« (Schlacht von Marolle) für den Erhalt des Viertels.

Eine Massenbewegung tritt an diesem Tag nicht in Erscheinung, doch allmählich füllt sich der Platz, dessen Umwandlung in einen Parkplatz vor zwei Jahren verhindert worden ist. Es ist kurz vor sechs, mittlerweile sind ungefähr 400 Leute hier. Flugblätter werden verteilt, ein Transparent mit der Parole »Nein zum loi anti-squat« wird aufgehängt. Samba-Rhythmen bringen die Anwesenden in Stimmung.

Auch diese Veranstaltung ist wie die erste Demonstration nicht angemeldet. Bislang ist jedoch kaum Polizei anwesend. Parolen werden skandiert, während die Demonstrierenden sich allmählich in Bewegung setzen. Nebelkerzen tauchen den nächtlichen Straßenzug in rotes Licht, Böller explodieren mit ohrenbetäubendem Lärm. Man ist gespannt, wohin es geht und was für Überraschungen es im Verlauf der Demonstration geben wird.

Doch für die größte Überraschung sorgt schon nach wenigen Hundert Metern die Polizei. Als sich der Zug durch einen langgezogenen Abschnitt der Rue Blaes windet, riegelt sie die Straße vorne und hinten ab und verkündet, ohne Preisgabe der Personalien komme hier keiner mehr heraus. Klein beigeben will eigentlich niemand. »Bei der letzten Demo war es weniger kompliziert«, sagt Vince aus Liège, der wieder angereist ist und an einem geparkten Auto lehnend ein wenig gelangweilt wirkt. Anwohner und Anwohnerinnen beobachten das Treiben auf der Straße unter ihnen. Jemand stellt eine Box ins Fenster. Sein Beitrag zur Unterstützung: Musik von Bérurier noir, einer französischen Punkband.

Dennoch lässt der Elan langsam nach. Einer nach der anderen verschwinden die Protestierenden. Entweder durch die Polizeisperre, wo man sich fotografieren lassen muss und die Personalien aufgenommen werden, oder durch die Hinterhöfe. Gegen halb neun ziehen dann auch die Polizeikräfte ab. Die »Bataille de la Marolle« bleibt für heute aus.

 

* Name von der Redaktion geändert.