Israelbezogener Antisemitismus in Europa

Hass verbindet

In Europa erstarkt der Antisemitismus. Längst ist er eine üble Melange geworden, zu der neben dem klassischen rechten auch der islamistische Hass gegen Juden und der linke Antizionismus gehören.

Im Juni erschien eine wissenschaftliche Studie, die Erschreckendes ans Tageslicht beförderte, in Deutschland jedoch kaum wahrgenommen wurde. »Antisemitische Gewalt in Europa« lautet ihr Titel; verantwortlich für sie ist Johannes Due Enstad von der Universität Oslo. Dokumentiert und analysiert werden gewalttätige antisemitische Vorfälle, die sich zwischen 2005 und 2015 in sieben europäischen Ländern ereignet haben: Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Russland. Enstad stellt fest, dass die Zahl antisemitischer Gewalttaten dort im untersuchten Zeitraum beständig zugenommen hat. Etwa zehn Prozent der französischen Juden gäben inzwischen an, schon einmal aus antisemitischen Gründen physisch angegriffen worden zu sein, in Deutschland und Schweden seien es 7,5 Prozent, in Großbritannien fünf Prozent.

Zudem vermeiden es 79 Prozent der in Schweden lebenden Juden nach eigenen Angaben manchmal (19 Prozent) oder sogar immer (60 Prozent), Symbole oder Gegenstände – beispielsweise eine Kippa oder einen Davidstern – zu tragen oder zu zeigen, durch die sie als Juden erkennbar sein könnten. In Frankreich liegt dieser Wert bei 74 Prozent (23 Prozent manchmal, 51 Prozent immer), in Deutschland bei 64 Prozent (32 Prozent manchmal, 32 Prozent immer), in Großbritannien bei 59 Prozent (37 Prozent manchmal, 22 Prozent immer). Fast die Hälfte der Juden in Frankreich denkt über die Auswanderung nach Israel nach, während es in Deutschland 25 Prozent und in Schweden sowie in Großbritannien knapp 20 Prozent der jüdischen Bevölkerung sind. Tatsächlich verließen im Jahr 2015 ungefähr 10 000 Juden Europa – davon fast 8 000 aus Frankreich –, um nach Israel einzuwandern. Nie waren es mehr, seit der jüdische Staat im Jahr 1948 gegründet wurde.

 

Ein »Kategorisierungsproblem«: Was ist antisemitisch?

Um den antisemitischen Taten auf den Grund zu gehen, hat Enstad zahlreiche offizielle Statistiken der betreffenden Länder ausgewertet und dabei vor allem in Schweden und Deutschland ein »Kategorisierungsproblem« festgestellt. Die deutsche Polizei beispielsweise »hält den Antisemitismus für eine grundsätzlich rechtsextremistische Ideologie und verbucht deshalb die meisten antisemitischen Angriffe in der Kategorie rechtsextremistisch«, auch dann, wenn ein anderer Hintergrund vorliegt, etwa ein islamistischer. Ein weiteres Problem bestehe darin, so Enstad, dass manche Vorfälle in deutschen Behördenstatistiken als antiisraelisch und nicht als antisemitisch klassifiziert würden. So auch der versuchte Brandanschlag auf eine Wuppertaler Synagoge im Juli 2014, verübt von drei palästinensischen Männern. Sie kamen mit Bewährungsstrafen davon. Der Richter sah keine Anhaltspunkte für eine antisemitische Tat, die Angreifer hätten lediglich auf den Gaza-Konflikt aufmerksam machen wollen.

Die schwedische Regierung gebe zwar an, dass nur eine Minderheit der antisemitischen Attacken auf das Konto von Rechtsextremen gehe, sage aber nicht, wer für die anderen Angriffe verantwortlich ist. Statt etwa die islamistische Motivation, die in der Mehrheit der Fälle vorliege, klar zu benennen, heiße es häufig, eine Vielzahl von »Ausdrucksformen des Antisemitismus« sei »mit dem Nahostkonflikt verbunden«. Enstad kommt zu dem Ergebnis, dass antisemitische Gewalt in allen untersuchten Ländern vor allem von Muslimen verübt werde, mit Ausnahme von Russland, wo Rechtsextreme das Gros der Täter stellten. In Frankreich, Schweden und Großbritannien, nicht aber in Deutschland gebe es außerdem mehr antisemitische Angriffe von links als von rechts.

 

Israelbezogener Antisemitismus: eine alarmierende Entwicklung

Abseits von Straftaten zeigt sich auch in Erhebungen zu antisemitischen Einstellungen in der Bevölkerung eine alarmierende Entwicklung. Dem Bericht des unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus zufolge, der im Mai dem Deutschen Bundestag vorgelegt wurde, ist die Zustimmung zum klassischen Antisemitismus – wie er sich etwa in der Annahme äußert, die Juden hätten zu viel Einfluss oder arbeiteten mehr als andere mit üblen Tricks – in Deutschland zwar gesunken. Die Werte beim sekundären Antisemitismus sind jedoch nach wie vor hoch. So stimmen beispielsweise 26 Prozent der Aussage zu: »Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen.« Der israelbezogene Antisemitismus kommt sogar auf noch höhere Zustimmungswerte, die Expertenkommission beziffert sie auf 40 Prozent. So viele können beispielsweise »bei der Politik, die Israel macht, gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat«, und glauben, Israel führe »einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser«.

»Die jüdische Gemeinschaft in Europa wird von ganz rechts, von ganz links und von radikalen Islamisten angegriffen.« Moshe Kantor, Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses.

Es ist vor allem diese Form des Antisemitismus, die verschiedene Milieus und politische Strömungen zusammenführt. Der Gaza-Krieg im Sommer 2014 hat diesbezüglich wie ein Katalysator gewirkt. Als es in ganz Europa zu teilweise gewalttätigen Demonstrationen gegen Israel kam, deren Teilnehmer überwiegend Muslime waren, begegneten viele linke Organisationen dem antisemitischen Treiben mit Verständnis und warfen dem jüdischen Staat ihrerseits vor, Massaker zu verüben, Kriegsverbrechen zu begehen und das Völkerrecht zu brechen. Auch in den Medien habe »eine systematische Asymmetrie in der Darstellung der Akteure« zulasten Israels vorgeherrscht, wie der Sprachwissenschaftler Anatol Stefanowitsch schrieb, der die Schlagzeilen zum Gaza-Krieg ausgewertet hat.

»Die jüdische Gemeinschaft in Europa wird von ganz rechts, von ganz links und von radikalen Islamisten angegriffen«, sagt Moshe Kantor, der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses. Wie immer sei »die einzige Verbindung zwischen diesen Gruppen der Hass gegen Juden«. Die Produzenten der Dokumentation »Auserwählt und ausgegrenzt – der Hass auf Juden in Europa«, Joachim Schroeder und Sophie Hafner, haben genau diese Verbindung deutlich gemacht und auch die unselige Rolle von Nichtregierungsorganisationen wie Brot für die Welt, das Ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) und Pax Christi bei der Dämonisierung und Delegitimierung Israels thematisiert. Ihr Film war ursprünglich für Arte produziert worden, doch der deutsch-französische Sender lehnte eine Ausstrahlung ab – die Dokumentation sei »antiislamisch« und »proisraelisch«, lauteten die Vorwürfe.

Nach viel medialem Wirbel zeigte sie schließlich der WDR, allerdings nur mit allerlei Einblendungen, die vor angeblichen Fehlern und Versäumnissen warnten. Die Ausstrahlung wurde von einem bizarren Faktencheck im Internet begleitet, der statt Tatsachen vor allem Gesinnung präsentierte. Es war offensichtlich, dass die Verantwortlichen von WDR und Arte sich von dem Film selbst angesprochen fühlten. Im »Faktencheck« stutzte der WDR den Begriff des Antisemitismus so zurecht, dass er sich nur noch auf Rechtsextremisten anwenden ließ. Linke und islamistische Milieus waren damit aus dem Schneider. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hatte die Filmemacher nach Kräften zu diskreditieren versucht und war mit ihrer Dokumentation über den erstarkenden Antisemitismus verfahren, wie man es sonst nur mit Werken aus dem Giftschrank tut.

 

Antisemitismus als Kitt einer fragmentierten Gesellschaft

In Europa ist nach dem Erstarken rechtspopulistischer Parteien eine üble Melange entstanden, zu der neben dem klassischen rechten Antisemitismus auch der islamistische Hass gegen Juden und der linke Antizionismus gehören. Französische Juden fühlen sich ihres Lebens nicht mehr sicher, weil sich zur antisemitischen Hetze des Front National (FN) Angriffe von Islamisten gesellen, die immer wieder tödlich enden. Besonders die Ermordung dreier Kinder und eines Rabbiners in einer jüdischen Schule in Toulouse im März 2012 und die Ermordung von vier Juden beim Anschlag auf einen koscheren Supermarkt in Paris im Januar 2015 haben das gezeigt. In Großbritannien ist die Zahl der antisemitischen Taten von Islamisten und Rechtsextremisten so hoch wie nie zuvor, während zugleich in der Labour Party von Jeremy Corbyn gegen den jüdischen Staat gehetzt wird und die antiisraelische BDS-Bewegung an den Hochschulen jüdische Studentinnen und Studenten einschüchtert. Im postfaktischen Zeitalter ist zumindest eine Tatsache unbestreitbar: Der Antisemitismus fungiert wie eh und je als Kitt, um fragmentierte Gesellschaften zusammenzuhalten.