Die bolivianische Regierung ändert die Regeln für den Koka-Anbau, viele Bauern fühlen sich benachteiligt

Zwei Seiten eines Blattes

Im Februar 2017 verabschiedete die bolivianische Regierung ein neues Gesetz, das den Kokaanbau im Land umstrukturiert. Die wichtigste und größte Gewerkschaft der Kokabauern ist davon nicht begeistert. Sie sorgt sich um die Sonderstellung ihres traditionellen Anbaugebiets.

Die Reise in die bolivianischen Yungas ist atemberaubend. Diese Täler bilden den Übergang zwischen dem Andenhochland und dem tropischen Tiefland. Man verlässt den lokalen Busbahnhof in Minasa am Rande der Bergmetropole La Paz mit einem Minibus, der zunächst den Bergpass La Cumbre passiert. Von dort, auf über 4 670 Metern, fährt man auf einer mittlerweile asphaltierten Straße hinunter bis zu einer Abzweigung, von der aus eine kleine Schotterstraße weiter in Richtung der Provinzen Nor Yungas und Sur Yungas führt. Sie erinnert an die alte sogenannte Yungas-Straße, die den Beinamen Camino de la Muerte (Todes­straße) trägt.

Obwohl die Verhältnisse an einigen Stellen wesentlich verbessert worden sind, ist die Straße in die Yungas-Provinzen immer noch sehr gefährlich. Man passiert steile Abhänge, Erdrutsche sind nicht selten und die Straße ist an einigen Stellen so eng, dass der Gegenverkehr nicht ohne Probleme passieren kann. Bei der Ankunft in der kleinen, 1 900 Meter hoch liegenden Kreisstadt Irupana in der Provinz Sur Yungas ­atmet man erst einmal tief durch.
In Irupana leben Fidel, Marta und ihre drei Kinder. Sie leben vom Koka-anbau. »Früher war das hier eine Hochburg der MAS, doch seit dem Streit um das neue Kokagesetz wünschen sich viele in der Region einen anderen Präsidenten«, sagt Marta. Dabei galt Evo Morales von der Partei Movimiento al Socialismo (MAS, Bewegung zum Sozialismus) lange Zeit als Hoffnungsträger der Kokabäuerinnen und -bauern. Wie kam es zu diesem Sinneswandel in der wichtigsten und größten Kokaanbauregion Boliviens, den Yungas von La Paz?

 

Der Koka-Präsident

Das Image des Kokablattes war lange Zeit von dessen Verwendung für die Kokainproduktion geprägt. Seit Morales’ Amtsantritt 2006 war es eines der wichtigsten Anliegen des Präsidenten, über die Kokapflanze aufzuklären. Morales hatte sich von einem Kokabauern in der Provinz Chapare, der tropischen Anbauregion im Department Cochabamba, zu einem wichtigen Gewerkschafter entwickelt. 2002 kandidierte er für den MAS für die Präsidentschaft und unterlag knapp, 2005 gewann er mit großer Mehrheit und zog im folgenden Jahr als erster Indigener in der Geschichte der bolivianischen Republik in den Präsidentenpalast an der Plaza Murillo ein.
Lange galten Kokablätter außerhalb der traditionellen Anbauregionen ausschließlich als Rohstoff für jenes Rauschmittel, das nach einem auf­wendigen Prozess unter Zugabe von über 40 chemischen Bestandteilen ­daraus hergestellt werden kann: Kokain. Der wichtigste Markt sind die USA, sie haben seit den achtziger Jahren im Rahmen des »Kriegs gegen die Drogen« Milliarden an US-Dollar ausgegeben, um Kokasträucher in Bolivien zu zerstören. Oftmals mit Gewalt, die bis 2003 viele Todesopfer forderte.

Die Region Chapare in Cochabamba wurde in den achtziger und neunziger Jahren militarisiert. Gegen viele US-Militärangehörige wurden Vorwürfe wegen Vergewaltigung, Korruption und Menschenrechtsverletzungen erhoben. Morales, der damals noch Kongressabgeordneter und Gewerkschaftsführer war, verkündete, im Verhältnis zur Bevölkerung stürben jedes Jahr mehr Bolivianer im Koka-Konflikt als US-Amerikaner an Kokain. »Für uns ist das Heilmittel schlimmer als die Krankheit«, lautete sein Fazit. Der Widerstand gegen die Drogenbekämpfungspolitik der USA, die darauf abzielte, bereits die Rohstoffe für die Herstellung von Drogen wie Kokain zu zerstören, hat wesentlich zu Morales’ Erfolg beigetragen.

1988 wurde als Teil neoliberaler Reformen unter dem damaligen Präsidenten Víctor Paz Estenssoro in Bolivien das Gesetz 1 008 verabschiedet. ­Dieses setzte Koka mit Kokain gleich und war in den achtziger Jahren von US-amerikanischen Anwälten erarbeitet worden. »Das Gesetz brachte zwei Dinge zusammen, die nichts mit einander zu tun haben: Koka sowie dessen traditionelle Nutzung und Kokain, die Droge, die daraus hergestellt wird«, sagt Juán Lixman, führender Anwalt der Rechtsabteilung des Vizeministeriums für Koka und integrale Entwicklung. Er war maßgeblich an der Ausarbeitung des neuen Kokagesetzes beteiligt, das seit Februar dieses Jahres gilt. Bereits die neue bolivianische Verfassung von 2009 bestimmte in Artikel 384, dass der Plurinationale Staat Bolivien die »anzestrale«, also von den Vorfahren ererbte, Kokapflanze, die kein Betäubungsmittel sei, in vieler Hinsicht schützen soll: als kulturelles Erbe, als natür­liche und erneuerbare Ressource der bolivianischen Biodiversität und als Faktor des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

 

Umstrittenes Gesetz

Nach Morales’ Amtsantritt hat es ein Jahrzehnt lang gedauert, bis das alte, von den USA aufgedrängte Gesetz durch zwei neue Gesetze ersetzt wurde. Das erste stellt im Rahmen einer generellen Antidrogenpolitik der bolivianischen Regierung die Herstellung und den Gebrauch von Kokain unter Strafe. Das zweite spricht grundsätzlich positiv und aufwertend von der traditionellen Nutzung des Kokablatts, der Verwendung in indigener Medizin, sozialer Interaktion, spirituellen Ritualen und kommerziellem Handel. Des Weiteren werden darin geographische ­Regionen für den Anbau bestimmt und die nationale Obergrenze für den legalen Anbau von Kokasträuchern wird von 12 000 auf 22 000 Hektar heraufgesetzt.

»Der Anspruch des neuen Kokagesetzes ist historisch betrachtet Teil der Dekolonialisierung, ein wichtiger Schritt im ›Prozess des Wandels‹ zur souveränen Selbstentfaltung der bolivianischen Bevölkerung«, so Lixman. Der »Prozess des Wandels« (Proceso de Cambio) ist Teil des Regierungsprogramm des MAS. Das Gesetz traf jedoch vor allem bei der größten und wichtigsten Gewerkschaft der Kokabauern in La Paz, der Asociación Departamental de Productores de Coca de La Paz (Adepcoca), auf heftigen Widerstand. Differenzen zwischen dem Vizeministerium und der Adepcoca gab es bereits bei der Sondierung über die Verpflichtung zur Registrierung und Ka­tasteraufnahme von Anbauflächen und der Erhebung von Steuern auf den Verkauf. Vor allem sieht die Adepcoca aber ihre Sonderstellung als Vertreterin einer »anzestralen« Anbauregion gefährdet. Diese Kategorie ist verfassungsrechtlich geschützt, daher wurde bereits eine Klage beim Verfassungs­gericht in Sucre eingereicht.

Das neue Kokagesetz sieht vor, die Anbauflächen in der Region Chapare in den Rang einer legalen Anbauregion zu erheben. Dem alten Gesetz von 1988 zufolge war diese lediglich als »Tran­sitionszone« ausgewiesen, in der langfristig der Anbau anderer Pflanzenarten den von Kokasträuchern ersetzen sollten. Das beinhaltete auch die Zerstörung vieler Kokapflanzungen. Morales selbst hatte sie in den vergangenen Jahren anordnen müssen, was im Widerspruch zu seinem bisherigen Werdegang stand: Er ist in der Region politisch groß geworden, hatte dort selbst Koka angebaut und den Widerstand gegen die US-Drogenpolitik angeführt.

 

Legale Grenzen

Mit dem neuen Gesetzt vom Februar wurden die vorher als illegal eingestuften Anbauflächen im Chaparé faktisch legalisiert. Es handelt sich also quasi um eine Anpassung der Norm an die Realität. Andere Kokaanbauregionen, beispielsweise die Yungas von La Paz, konnten von dem neuen Gesetz nicht in gleicher Weise profitieren. Ihre legalen Anbauflächen wurden bei der Er­höhung im Rahmen des neues Gesetzes nicht berücksichtigt.

Das Vizeministerium für Koka und integrale Entwicklung argumentiert ­etwas anders. Leonardo Choque, ein Mitarbeiter im Bereich integrale Entwicklung in den Kokaanbauregionen, legt Studien über die Nachfrage für traditionelle und industrielle Nutzung vor und erläutert: »Die Erweiterung der legalen Anbauflächen ist damit begründet, dass die Bevölkerung im Allgemeinen gewachsen und somit auch die Nachfrage nach Koka gestiegen ist. Zudem beabsichtigt die Regierung, die ­industrielle Nutzung der Kokapflanze voranzutreiben, wobei wir hier besonders auf die Produktion in der Region Chapare setzen.«

Die Adepcoca, deren Mitglieder hauptsächlich die traditionelle Nachfrage nach Kokablättern in Bolivien ­decken, verweist darauf, dass der Bestimmungsort von rund 89 Prozent der Kokaproduktion im Chapare nicht bekannt sei und nur rund elf Prozent im für Produzenten weit entfernten lokalen Markt in Sacaba registriert würden. Was passiert also mit dem Rest? Schafft es die Regierung, den Großteil der industriellen Nutzung der Kokapflanze zuzuführen, oder wird er für illegale Zwecke verwendet?
Nicht nur dieser Aspekt ist bei der Legalisierung der Anbauflächen im Chaparé kritisch zu betrachten. Der Kokaanbau im Chapare hat auch zu Konflikten mit lokalen indigenen Gruppen geführt. Teile des zu indigenem Territorium erklärten Nationalparks Territorio Indígena y Parque Nacional Isiboro-Secure (Tipnis) wurden bereits von ­cocaleros, Kokabauern, besiedelt und großflächig abgeholzt. Der Konflikt um den Bau einer Landstraße durch den Nationalpark zeugt auch von der politischen Macht und Einflussnahme der cocaleros. Nach jahrelangem Streit um die Straße, der von Protesten eines breiten Bündnisses indigener, oppositioneller bis kirchlicher Gruppen begleitet war, kündigte Morales im August an, sie werde nun doch gebaut. Er betonte dabei unter anderem die positiven Effekte für die ­indigene Bevölkerung, die infrastrukturell angebunden werde. Indigene Gruppen, die gegen die Entscheidung protestierten, warnten hingegen vor Abholzung und der Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch den Einfall von Bergbau-, Öl- und Gas- sowie Holzunternehmen und den Ausbau von Kokaplantagen.
Aus der Sicht der Adepcoca ergeben sich aus der neuen Norm keine bedeutenden Verbesserungen für ihre eigene Situation. Zudem muss sie damit rechnen, dass die Verfassungsklage zur Sonderstellung als »anzestrale« Anbauregion höchstwahrscheinlich erfolglos sein wird. So wartet die Adepcoca darauf, dass Morales 2019 im Amt abgelöst wird und sein Nachfolger die alten Machtverhältnisse wiederherstellt. Das eigentliche Problem der Kokabäuerinnen und -bauern in den Yungas, das vom neuen Gesetzt schon nicht berücksichtigt wurde, würde durch diese Strategie der Adepcoca aber auch nicht gelöst.

 

Die Jüngeren warten

Zurück bei Fidel und Marta. Sie fahren zur Kokaernte, die vier Mal im Jahr stattfindet. Auf dem Weg zu den Anbauflächen erzählt Marta, dass die derzei­tige Situation für die junge Generation von Kokabäuerinnen und -bauern problematisch sei. »Bei der legalen Anbaufläche, die uns in den Yungas zusteht, ist nur mein Vater berücksichtigt, wir Kinder nicht mehr. Trotzdem bauen wir Koka an, das ist unsere Lebensgrundlage, unsere einzige Chance.«

Die Adepcoca argumentiert, anstatt den Anbau in der Region Chapare zu legalisieren, wo der Großteil vermutlich für illegale Zwecke benutzt wird, sollte die Regierung lieber den »anzestralen« und traditionsreichen Anbau in den Yungas fördern, wo die junge Generation neue Anbauflächen benötigt, um ihre Familien zu versorgen. Zumal dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) zufolge rund 97 Prozent der gesamten Produktion der in der Adepcoca organisierten Kokabäuerinnen und -bauern im lokalen Markt der Adepcoca in Villa Fátima im Norden von La Paz registriert werden. Die Führungsriege der Adepcoca schilderte dieses Problem in ihrem Gesetzentwurf Ende vergangenen Jahres. Dieser wurde aber grundsätzlich abgelehnt, unter anderem mit der Begründung, die Yungas litten bereits unter den Folgeschäden des Kokaanbaus – Abholzung und Verlust der Biodiversität. Das gleiche könnte man aber auch über die Koka­pflanzen im Tipnis sagen.

Der Kokaanbau in Bolivien hat sich zu einem enorm lukrativen Geschäft entwickelt, was auch an den Migrationsströmen der vergangenen Jahre in Richtung der Anbaugebiete ablesbar ist. Es bildet sich eine neue Mittelschicht in der bolivianischen Gesellschaft, die mit ihren Interessenver­tretungen politisch Einfluss ausübt. Der politische Umgang mit dem Kokaanbau wird auch die Zukunft Boliviens bestimmen.