José Eduardo Agualusa über die Folgen des angolanischen Bürgerkrieges

Ludovica allein zu Haus

In seinem Roman »Eine allgemeine Theorie des Vergessens« schildert José Eduardo Agualusa die Folgen des Bürgerkriegs in Angola.

Am 27. Mai 1977 fand im südwest­afrikanischen Angola ein Putschversuch statt. Drei Jahre zuvor hatte das Land seine Unabhängigkeit und das Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft erkämpft. Seither befand sich Angola in einem Bürgerkrieg zwischen der von den USA unterstützten Nationalen Union für die völlige Unabhängigkeit Angolas (Unita) und der Nationalen Front zur Befreiung Angolas (FNLA) auf der einen Seite sowie der von der Sowjetunion und Kuba unterstützten Volksbewegung zur Befreiung Angolas (MPLA) auf der anderen Seite. Der Putsch war von Anhängern des ehemaligen ­Innenministers Nito ­Alves, der der MPLA angehörte, organisiert worden. Diese sogenannten Fraktionisten strebten eine engere Bindung an die Sowjetunion an und wandten sich gegen die von der MPLA gewünschte Blockfreiheit. Vor allem lehnten sie den multiethnischen Ansatz der MPLA ab und forderten, dass weder Weiße noch die sogenannten Mestizen Führungsaufgaben im Staat übernehmen sollten. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen: Bei den bis 1979 andauernden »Säuberungen« wurden Schätzungen zufolge bis zu 80 000 Menschen ermordet, die zuvor in öffentlichen Tribunalen ihre angebliche Schuld gestehen mussten. Bis heute sind die Verbrechen der jüngeren angolanischen Geschichte nicht aufgearbeitet worden.

In seinem 2011 erschienenen Roman »Kommission der Tränen« schildert der portugiesische Autor António Lobo Antunes dieses dunkle Kapitel der angolanischen Geschichte. Der Titel seines Romans verweist auf die Regierungsbehörde, die im postkolonialen Angola für Anklagen und Verhöre zuständig war, und als »Kommission der Tränen« bezeichnet wurde. 2012 veröffentlichte der angolanische Schriftsteller José Eduardo Agualusa sein Buch »Eine allgemeine Theorie des Vergessens«, in dem er die Wirren nach dem Ende der portugiesischen Kolonialherrschaft und in den Jahren des Bürgerkriegs beschreibt. Nun liegt sein Buch auch in deutscher Übersetzung vor.

Allmählich entsteht aus Radioschnipseln und Erinnerungen das Bild einer Gesellschaft, in der sich Opfer und Täter, Beteiligte, Profiteure und Feinde der Revolution ständig über den Weg laufen.

Neben dem Mosambikaner Mia Couto und dem Brasilianer Luiz Ruffato zählt der Angolaner Agualusa zu den wichtigsten Autoren der ­lusophonen Literatur der Gegenwart. Der 56jährige Nachfahre weißer portugiesischer Einwanderer hat inzwischen etwa 50 Bücher veröffentlicht und gilt als wichtiger Kritiker der politischen Verhältnisse Angolas. Seit über vier Jahrzehnten herrscht dort die MPLA mit absoluter Mehrheit und eiserner Hand. Menschen- und Bürgerrechte zählen nicht viel, Kritiker verschwinden in Gefängnissen oder werden ermordet. Trotz riesiger Erdölvorkommen lebt die große Mehrheit der Angolaner in Armut, denn die MPLA sorgt dafür, dass die Erträge unter den Günstlingen des ehemaligen Präsidenten José Eduardo dos Santos verteilt werden. Auch ­unter dem seit September regierenden neuen Präsidenten João Lourenço hat sich kaum etwas geändert.

Agualusa hat sich niemals einschüchtern lassen und greift das Regime mit deutlichen Worten an. In seinem Roman »Eine allgemeine Theorie des Vergessens« kleidet er seine Kritik in die phantastische Geschichte der Portugiesin Ludovica Fernandes Mano, die in einem Hochhausappartement im Zentrum der angolanischen Hauptstadt Luanda lebt. In den Wirren nach der Unabhängigkeit wird sie Opfer eines Einbruchs. Sie erschießt den Täter und entzieht sich der Gerichtsbarkeit, indem sie sich einmauert. Auf ihrer Dachterrasse baut sie Gemüse an, fängt Tauben und züchtet Hühner. Die alte Frau bekritzelt die Wände ihrer Wohnung mit Tagebuchnotizen oder ­Gedichten und wird so zur Chronistin ihres Einsiedlertums. Ihre einzige ­Informationsquelle bildet das Radio. Allmählich entsteht aus Radioschnipseln und Erinnerungen das Bild ­einer Gesellschaft, in der sich Opfer und Täter, Beteiligte, Profiteure und Feinde der Revolution ständig über den Weg laufen.

 

»Das Vergessen üben«

Ludovicas Geschichte steht im Zentrum des Romans, um das herum sich vielschichtige und vielstimmige Handlungsstränge entwickeln. Da sind der Affe Che Guevara und der Hund Fantasma, die der Eingemauerten Gesellschaft leisten. Dann taucht ein Mann namens Kleiner Soba auf, der als angeblicher Fraktionist im Gefängnis saß und nach ­seinem Ausbruch zum Geschäftsmann und Immobilienbesitzer wird. Dann ist da noch der jüdische Journalist Daniel Benchimol, der sich auf mysteriöse Fälle von Verschwinden spezialisiert hat. Es gibt den ehe­maligen Geheimdienstler Magno Moreira Monte, der sein Geld mittlerweile als Privatdetektiv verdient. Der Straßenjunge Sabalu ist nach dem frühen Tod seiner Mutter in die Metropole Luanda gekommen und wird zu einer Art Ersatzsohn für Ludovica. Schließlich gibt es noch António, den Stam­mes­ältesten eines Hirtenvolks, und Jeremias, einen ehemaligen Söldner.

Die auf den ersten Blick so unterschiedlichen Lebensgeschichten werden auf bestechende Weise miteinander verwoben und ergeben eine fesselnde Erzählung. Ludovicas Tagebuchnotizen wechseln sich dabei mit den Erzählungen der übrigen Personen ab. Die Vielfalt der Charaktere repräsentiert die Vielfalt des derzeitigen Angola. Das Land gehört keiner Partei, keiner Ideologie und keinem Präsidenten. Es ist das Angola der Jugend und der Bürger, die für ihre Vision einstehen.

»Man kann Fehler nicht wiedergutmanchen. Vielleicht muss man sie einfach vergessen. Wir sollten das Vergessen üben«, sagt Ludovica. António dagegen plädiert für das Erinnern. »Vergessen heißt sterben«, sagt er. »Vergessen heißt aufgeben.«

Agualusa lässt offen, welche Position er vertritt. Aber es wird im Laufe der Lektüre deutlich, dass in der jüngeren Geschichte Angolas vieles, vielleicht zu viel tabuisiert wurde. Der Portugiese António Lobo Antunes, selbst Veteran des Angola-Kriegs, hatte sich in seinem Buch über die »Kommission der Tränen« vor allem auf die dunklen, fast schon dämo­nischen Seiten der angolanischen Geschichte konzentriert, die wie bei ihm üblich wenig Platz für Hoffnung lassen. Der Angolaner Agualusa wirft einen optimistischeren Blick auf die Geschichte und setzt sich für eine Versöhnung ein.
Damit zeigt er die Möglichkeit, den Dämonen der angolanischen Vergangenheit zu entkommen, ohne vergessen zu müssen. Es wäre Angola zu wünschen, dass dieses Vorhaben nicht nur in der Literatur gelingt.

 

José Eduardo Agualusa: Eine allgemeine Theorie des Vergessens. Aus dem angolanischen Portugiesisch von Michael Kegler. C. H. Beck, München 2017, 197 Seiten, 19,95 Euro