13 Jahre nach Oury Jallohs Tod gibt es kaum noch Zweifel daran, dass er ermordet wurde

Die Mordthese setzt sich durch

Fast 13 Jahre nach dem Tod Oury Jallohs kommen offenbar auch staatliche Ermittler zu dem Schluss, dass der Asylsuchende in einer Dessauer Polizeizelle zum Opfer eines Verbrechens wurde.

Der Schlussstrich eignet sich besonders, um das Bedürfnis nach Struktur und Ordnung zu befriedigen, etwa unter langen Texten oder komplizierten Rechnungen. Als deutsche Spezialität taucht er auch im historischen Kontext auf. Ob Auschwitz, Lichtenhagen oder NSU – irgendwann soll doch mal Schluss sein mit dem Erinnern und Gedenken. Solche Forderungen sind in den vergangenen Jahren wieder lauter geworden. Der Wahlerfolg der AfD trägt sie auch in den Bundestag.

Doch das Bedürfnis nach Ruhe und Frieden, zumindest im Umgang mit bestimmten Tätergruppen, teilen nicht nur Neonazis, Rechtspopulisten und andere Rassisten. In so mancher Zeitungsredaktion ist der Schlussstrich ebenfalls ein beliebtes Stilmittel. Es gebe »keine Hoffnung auf Aufklärung«, verkündete Mitte November Alois Kösters, der Chefredakteur der Magdeburger Tageszeitung Volksstimme, in einem Kommentar. Dass Oury Jalloh am 7. Januar 2005 in einer Dessauer Polizeizelle ermordet wurde, sei »nicht ausgeschlossen, lässt sich aber nicht beweisen«. Deshalb sei es nun »an der Zeit, dass auch diejenigen, die den tragischen Tod des jungen Mannes für ihre politischen Kampagnen nutzen, einen Schlussstrich ziehen«. Ähnlich wie Kösters hatte zuvor die Staatsanwaltschaft Halle argumentiert. Diese stellte nach »sorgfältiger Prüfung« die Ermittlungen ein.

 

»Konkrete Verdächtige aus den Reihen der Dessauer Polizeibeamten«

Das knapp fünf Jahre zuvor eingeleitete Verfahren habe ­»keine ausreichenden tatsächlichen Anhaltspunkte für eine Beteiligung Dritter an der Brandlegung ergeben« und eine weitere Aufklärung sei »nicht zu erwarten«.

Kösters forderte den Schlussstrich jedoch nicht wegen dieser Mitteilung, sondern ausgerechnet als Kommentar zu einer spektakulären Pressemeldung des ARD-Magazins »Monitor« vom 16. November. Darin war zu lesen, dass mittlerweile sogar der Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann einen »begründeten Mordverdacht« gegen »konkrete Verdächtige aus den Reihen der Dessauer Polizeibeamten« geäußert habe. Zusätzliche Brisanz erhielt die Meldung dadurch, dass Bittmann den Fall kurz nach seiner Aktennotiz nach Halle abgeben musste, wo man seine Einschätzungen nicht teilte.

Die offizielle Darstellung der Ereignisse am 7. Januar 2005 lautet nach wie vor: Der alkoholisierte und unter Drogeneinfluss stehende Jalloh wurde – an Händen und Füßen gefesselt – in eine Gewahrsamszelle im Keller des Polizeireviers in Dessau gebracht. Dort gelang es ihm, so die Darstellung, den Feuerschutz seiner Matratze zu beschädigen und diese oder seine Kleidung mit einem Feuerzeug anzuzünden, Jalloh starb kurz darauf an einem Hitzeschock. Die zuständigen Beamten hatten der offiziellen Version zufolge die Gegensprechanlage leise gestellt und den Feueralarm wegen angeblich wiederholter Fehlmeldungen abgeschaltet.
Zahlreiche Hinweise legen jedoch bereits seit Jahren den Schluss nahe, dass diese Version nicht stimmt. So tauchte beispielsweise erst Tage nach der ersten Zellendurchsuchung ein Feuerzeug in der Asservatenliste auf.

Einem 2012 veröffentlichten Gutachten zufolge befanden sich darauf weder DNA-Spuren des verbrannten Mannes noch Fasern seiner Kleidung. Für erhebliches Misstrauen sorgten zudem die teils widersprüchlichen, teils falschen und teils zurückgezogenen Aussagen von Polizisten. Dem Vorsitzenden Richter im Prozess am Landgericht Dessau-Roßlau zufolge war ein rechtsstaatliches Verfahren deshalb unmöglich. Das ­Gericht sprach die beiden angeklagten Beamten frei, einer war wegen Körperverletzung mit Todesfolge, der andere wegen fahrlässiger Tötung angeklagt worden. Der damalige Dienstgruppenleiter wurde jedoch später in einem ­Revisionsprozess wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er den Feueralarm ignoriert hatte.

 

Politische Einflussnahme auf die Ermittlungen

Ende November und Anfang Dezember sorgten jedoch zwei Medienberichte für eine Wende. Zwar konnten auch ­deren Autoren nicht nachweisen, dass es Mord war, aber sie brachten der ­entsprechenden These eine Aufmerksamkeit entgegen, wie es bislang un­üblich war. Zunächst bezeichnete »Monitor« den Fall als »einen der größten Justizskandale der deutschen Nachkriegsgeschichte«. Untermauert wurde diese Behauptung durch einen Kriminologen, der »politische Einflussnahme« auf die Ermittlungen konstatierte, und einen Sachverständigen, der im August 2016 an einem Versuch beteiligt war, den Ablauf des Brands in der Polizeizelle zu rekonstruieren. Dem Sachverständigen zufolge waren sich alle daran beteiligten Gutachter einig, dass sich Jalloh nicht selbst angezündet haben konnte. Er widersprach damit der Staatsanwaltschaft Halle.

Kurz darauf folgte ein Artikel in der Mitteldeutschen Zeitung, der enthüllte, dass der Dessauer Oberstaatsanwalt Folker Bittmann sogar ein mögliches Mordmotiv genannt hatte: die Vertuschung der Umstände zweier früherer Todesfälle. Bereits 1997 und 2002 ­waren in dem ­Polizeirevier zwei Menschen unter ungeklärten Umständen ge­storben. Unter dem Druck der neuen Entwicklungen ordnete die sachsen-anhaltinische Justiz­ministerin Anne-Marie Keding (CDU) neue Ermittlungen an, diese soll die Generalstaatsanwaltschaft Naumburg führen. Zudem erhalten die Abgeord­neten des Landtags Einsicht in die Ermittlungsakten.

Nadine Saeed von der »Initiative in Gedenken an Oury Jalloh« freut sich über die gestiegene Aufmerksamkeit für den Fall. »Darauf haben wir jahrelang hingearbeitet«, sagte sie der Jungle World. Ohne die Ausdauer und Beharrlichkeit der Mitglieder dieser Initiative wäre der Fall wohl schon nach kurzer Zeit zu den Akten gewandert. »Viele Leute sind nun aufgewacht, wir erhalten viel Feedback«, so Saeed. Mehr als 100 000 Personen haben bereits eine Online-Petition unterschrieben. Die Ini­tiative benötigt zudem weiterhin Spenden für eine internationale Untersuchungskommission, die in Kürze ihre Arbeit aufnehmen und unabhängig von staatlichen Behörden ermitteln soll.

 

Demonstration am Sonntag in Dessau

Ob die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Naumburg zu einer neuen Anklage oder gar einer Verurteilung wegen Mordes führen werden, ist offen. Der Druck auf die Behörden wächst ­jedoch. Mittlerweile scheint es selbst intern großen Unmut über den Umgang mit dem Fall zu geben – anders ist die mutmaßliche Weitergabe vertraulicher Dokumente an »Monitor« und die Mitteldeutsche Zeitung kaum zu erklären.

Am Sonntag findet in Dessau die jährliche Demonstration zum Gedenken an Oury Jalloh statt. An dem Tag ist es 13 Jahre her, dass der Asylsuchende aus Sierra Leone zu Tode kam. Im vergangenen Jahr waren etwa 1500 Menschen zu der Kundgebung nach Dessau gekommen. In diesem Jahr will die AfD Sachsen-Anhalt am selben Tag in Dessau eine »Gegenkundgebung am Todestag von Oury Jalloh« abhalten. »Der jährliche linksautonome Propaganda-Spuk muss mal ein Ende haben«, schrieb ihr Landesvorsitzender André Poggenburg.

Angesichts des rechten Aufmarschs und der jüngsten Entwicklung bei den Ermittlungen könnte die Teilnehmerzahl in diesem Jahr deutlich größer werden. Aus mehreren Städten wie Berlin, Hamburg, Köln, Hannover, Magdeburg, Dresden und Leipzig fahren Busse zu der Demonstration. Vermutlich wird die Parole »Oury Jalloh – das war Mord« diesmal so laut wie nie zuvor zu hören sein.