Sérgio Lessa von der Zeitschrift »Crítica Marxista« in São Paulo über die politische und ökonomische Krise in Brasilien

»Der Reichtum wurde weiter konzentriert«

Ein Gespräch über alltägliche Gewalt, soziale Unterschiede und das, was vom sogenannten brasilianische Wirtschaftswunder übrig geblieben ist.
Interview Von

Ihre Heimatstadt Maceió im nordöstlichen Bundesstaat Alagoas gilt als eine der gefährlichsten Städte Brasiliens. Wie alltäglich ist die Gewalt?
Ich wohne in Maceió in einem gewöhnlichen Apartmentblock. Selbst dieses unspektakuläre Gebäude wird von acht schwerbewaffneten Wächtern und ­einer hohen Mauer gesichert. Hinter dem Block liegt eine Favela, in der es häufig zu Schießereien zwischen Drogengangs kommt. Die Militärpolizei reagiert mit brutaler Härte und setzt schweres Gerät ein. Maceió ist keine außergewöhnlich gefährliche Stadt in Brasilien. Die Gewalt durchdringt einfach alle Bereiche der Gesellschaft.

Gewalt wird immer noch häufig mit der Zeit der Militärdiktatur verbunden.
Während der Militärdiktatur richtete sich die Gewalt vornehmlich gegen die politische Opposition, die sich aus der Mittelschicht rekrutierte. Doch schon damals weitete sich die Gewalt auf ­andere gesellschaftliche Bereiche aus. So wurde in den Fabriken gefoltert, es gab dafür sogar spezielle Räume auf dem Gelände. Heute ist die Folter viel weiter verbreitet als während der Dik­tatur. In jeder Polizeistation kann man Folterinstrumente finden.

Zumindest in den Fabriken wird heute nicht mehr gefoltert.
Mittlerweile existiert diese Praxis natürlich nicht mehr. Es funktioniert ­anders. Wenn ein Arbeiter unzufrieden ist und seine Rechte einklagen will, kann er zwar vor Gericht gehen. Er muss aber damit rechnen, dass er auf dem Nachhauseweg überfallen und verprügelt wird oder dass jemand sein Haus anzündet. Jeder weiß, wie das System der Einschüchterung funktioniert, auch die Polizei.

Brasilien wurde lange vom linken Partido dos Trabalhadores (PT) ­regiert, der viele Sozialprogramme aufgelegt hat. Wieso wuchs die ­Gewalttätigkeit dennoch?
Wir erleben heute eine historisch wohl einmalige Konzentration des Reichtums. Und das liegt paradoxerweise auch an den verschiedenen Sozialprogrammen der PT-Regierungen. Von den Zahlungen profitierten zum Beispiel die großen Lebensmittelunternehmen. Mit den Programmen wurde der Reichtum nicht verteilt, sondern noch weiter konzentriert – die staatlichen Ausgaben wanderten sozusagen über ein paar Umwege in die Taschen einiger weniger Unternehmer.
Die sechs reichsten Menschen im Land haben heute mehr Besitz als 50 Millionen der ärmsten Brasilianerinnen und Brasilianer. Wir haben eine solch hohe Konzentration des Reichtums, dass in der momentanen Wirtschaftskrise keine Mittel mehr für Bildung, Gesundheit oder Infrastruktur vorhanden sind. Der Alltag in Brasilien ist extrem chaotisch.

Lange Zeit schien die PT-Regierung sehr erfolgreich, Brasilien galt als ein aufstrebendes Schwellenland.
Das sogenannte brasilianische Wirtschaftswunder war nichts als eine Illusion. Es gab einige Jahre lang günstige internationale Rahmenbedingungen, in dieser Zeit lief die Wirtschaft gut. An den grundlegenden Strukturen hat sich jedoch nichts geändert. Der wirtschaftliche und soziale Absturz, den wir gerade erleben, ereignet sich aber nicht nur in Brasilien, sondern auch in Uruguay, Venezuela und anderen südamerikanischen Ländern.

Was genau ist schiefgelaufen?
Brasilien galt in den vergangenen Jahrzehnten als ein wunderbarer Ort für ausländische Investitionen: Es gab enorme Rohstoffvorkommen, kaum Streiks und eine entgegenkommende politische Klasse. Die hohen Investitionen führten zu einem Modernisierungsschub, unter anderem im Finanzsektor und in der Agrarindustrie. ­Dadurch wurde das Wachstum enorm angetrieben. Die Investitionen zogen zahlreiche Infrastrukturprojekte nach sich. Darüber entschieden wiederum Bürokraten und Politiker, die sich ihre Entscheidungen gut bezahlen ließen. Eine neue Straße kostete deshalb 30 oder 40 Prozent mehr als notwendig. Aber solange das Geld floss, war das kein Problem.

Die Schwierigkeiten begannen mit der Finanzkrise von 2007, als die Rohstoffpreise fielen und die Investitionen zurückgingen. Die politische Klasse funktionierte jedoch weiterhin über die Korruption. So sprach Präsident Michel Temer im vergangenen Jahr öffentlich im Parlament über Milliardenzahlungen an Politiker, um sich deren Stimmen zu sichern. Gleichzeitig werden Sozialprogramme gestrichen und es fehlt Geld selbst für grundlegende staatliche Aufgaben.