Zur Tabuisierung von Einsamkeit

Das Alleinsein der vielen

Immer mehr Menschen in reichen Industriestaaten klagen über Einsamkeit. Großbritannien hat unlängst ein Ressort beim Ministerium für Sport und Zivilgesellschaft eingerichtet, das sich für die Belange der Alleingelassenen einsetzen soll. Reicht das? Und lässt sich Einsamkeit politisch bekämpfen?

Nun also Einsamkeit. Nicht nur, dass jeder Fünfte in Deutschland an Depressionen oder Burnout leiden soll, immer mehr Menschen unter der Last der Arbeitswelt zusammenbrechen und es auch ansonsten um die Psyche der Menschen in reichen Industriestaaten nicht besonders gut bestellt zu sein scheint. Nun kommt auch noch die Einsamkeit hinzu. Von FAZ bis Bild – alle berichteten sie, dass Großbritannien ein Ministerium gegen die Einsamkeit bekommt. Inzwischen wurden die ersten Forderungen laut, ein solches Ministerium auch in Deutschland einzurichten. Irgendetwas läuft doch da nicht richtig.

 

»Einsamkeit ist die traurige Realität des modernen Lebens«, sagte Premierministerin Theresa May und stattete prompt die für Sport und Zivilgesellschaft zuständige Staatssekretärin Tracey Crouch mit einem weiteren Ressort aus, das die Einsamkeit bekämpfen soll.

 

In einer vor materiellem Reichtum berstenden Gesellschaft wie der deutschen fühlt man sich einsam? Zieht man ein paar andere statistische Zahlen hinzu, kommt man unweigerlich zu dem Ergebnis, dass die Wirtschaft zwar scheinbar in Europa nicht tötet, wie es Papst Franziskus formulierte, aber wohl doch irgendwie die Seelen der Menschen zerschießt. Glück sieht zumindest anders aus. Neun von insgesamt 66 Millionen Briten fühlen sich nach einer jüngsten Erhebung des Roten Kreuzes häufig einsam. »Einsamkeit ist die traurige Realität des modernen Lebens«, sagte Premierministerin Theresa May und stattete prompt die für Sport und Zivilgesellschaft zuständige Staatssekretärin Tracey Crouch mit einem weiteren Ressort aus, das die Einsamkeit bekämpfen soll.

»Es ist wirklich so, dass man unserem Wirtschaftssystem einen Teil der Schuld geben kann. Und die Politik unterstützt diese Schieflage, indem sie eine Politik für die Wirtschaft macht. Die Probleme haben sich vom Materiellen ins Psychische verlagert«, erläutert der Soziologe Janosch Schobin aus Kassel. Er forscht zu Freundschaftssoziologie, der so­zialen Isolation und Vereinsamung. Es hört sich so banal an, trifft aber den Kern des Problems: »Studien zu Freundschaften zeigen, dass in ärmeren Gesellschaften viel mehr Beziehungen unter den Menschen ­geknüpft werden. Man braucht Mitmenschen, man braucht ein trag­fähiges Netz zum Überleben. In reicheren Gesellschaften dienen diese Freundschaften viel eher der Seelsorge oder dem Seelentrost.« So kommt es, dass die Netze nach Ansicht des Soziologen immer löchriger geworden sind.

In Deutschland bestehen viele Netze genau genommen oft nur aus einer Person – häufig dem Partner. Wenn diese Person durch Trennung oder Tod wegfällt, droht Einsamkeit. Aus der sozialen Isolation finden viele Menschen gerade im ­Alter oder bei Krankheit nicht mehr heraus. Kein Wunder also, dass die Psychologin Maike Luhmann zu dem Ergebnis kommt, dass in Deutschland vor allem die über 80jährigen von Einsamkeit bedroht sind. Aber auch in den Altersgruppen der Anfangdreißiger und der Fünfzigjährigen trifft die Forscherin auf überdurschnittlich viele einsame Menschen. Die »Generation Single« scheint nicht nur aus erfolgreichen, attraktiven und eloquenten jungen Menschen zu bestehen  – viele fühlen sich in ihrem Singlehaushalt allein. »Unsere Gesellschaft verspricht ein hohes Maß an Autonomie. Doch ist diese Autonomie immer auch etwas Individuelles. Etwas, das ich mir nehme«, erläutert Schobin.

Schwierig ist auch die exakte Bestimmung der Größe der Gruppe der einsamen Menschen. Denn je nach Befragung differieren die Ergebnisse sehr stark. »In Deutschland führen wir viele Tele­foninterviews durch, während die jüngsten Zahlen aus Großbritannien aus einer Online-Befragung herrühren. Und online äußern sich die Menschen viel ungezwungener als im Telefongespräch«, erläutert Schobin. Er weist darauf hin, dass der Umgang mit Einsamkeit auch kulturell geprägt ist. Während Einsamkeit in westlichen Gesellschaften oft schambehaftet und stigmatisierend ist, gehen Südame­rikaner viel offener damit um. »Dort ist es kul­turell anerkannt, dass Eltern, deren erwachsene Kinder weggezogen sind, sich offen über ihre Einsamkeit auslassen.

Das führt sogar zu viel mehr Anerkennung und Anteilnahme«, fasst Schobin die kulturellen Differenzen zusammen. In Europa gibt es das so nicht – man spricht ­ungern über die eigene Einsamkeit. Zumindest im Westen nicht. Denn gerade in osteuropäischen Staaten verzeichnen Wissenschaftler einen viel höheren »Einsamkeitsgrad« als im Westen. »In den osteuropäischen Gesellschaften ist nach 1989 viel weggebrochen.

Die alten Netzwerke unter den Menschen sind zerstört und neue oft noch nicht in Sicht«, erklärt Schobin. Die Konsequenz: Bis zu 50 Prozent der Befragten beklagen sich über Einsamkeit.

Ob man die Einsamkeit der Menschen allein mit einem ministerialen Fachressort beseitigen kann, bleibt fraglich.