Die »MeToo«-Kampagne hat den Feminismus rehabilitiert

»Me Too« und die Befreiung des Sex

Nur eine emanzipatorische Offensive gegen Moralismus, sexuellen Missbrauch und Missbrauch des Missbrauchs zur Selbsterhöhung liberaler Freidenker ist in der Lage, den falschen Widersprüchen und Diskursverwirrungen in der MeToo-Debatte beizukommen.
Essay Von

„Der Mensch, der berufsmäßig verführt und nur dieses Ziel kennt, ist eine abscheuliche Kreatur und grundsätzlich der Feind des Geschöpfes, auf das seine Wahl gefallen ist. Er ist wahrlich ein Frevler: Denn wenn er über die erforderlichen Gaben verfügt, macht er sich ihrer unwürdig, indem er sie missbraucht, um ein Mädchen unglücklich zu machen.“

Giacomo Casanova


#MeToo hat en passant einem zutiefst patriarchalen System die liberale Maske vom Gesicht gerissen. Die erschreckende Unfähigkeit, zwischen sexueller Übergriffigkeit und lustvoller Verführung zu unterscheiden, liegt nicht allein in der uralten und nie auflösbaren Ambivalenz von Begehren, Locken und sich Zieren begründet, sondern in einer ungebrochen maskulin codierten Sexualität, bei der weder Männchen noch Weibchen auf ihre Kosten kommen.

Wie kann es überhaupt dazu kommen, dass die weibliche Weigerung, dauererogene Zone für männliche Ermächtigung zu sein, mit Puritanismus und Rücknahme sexueller Freiheiten assoziiert wird? Und warum müssen Frauen, so sie im aufgeklärten Westen angeblich längst nicht mehr Objekte sind, permanent mit Pfefferspray und Stoppschildern herumlaufen und sich in einen energieraubenden Dauerreaktionsmodus drängen lassen?

Entwirren wir das Knäuel durch methodische Vereinfachung. Frauen wehren sich dagegen, befummelt zu werden, indem sie die Befummler beim Namen nennen. Der Lustschweiß des Patriarchats verwandelt sich in Angstschweiß, während eine Schicht geistreicher Liberaler beanstandet, das Denunzieren der Befummler zerstöre Sinnlichkeit und Sexualität und sei Ausdruck einer neuen Sittenstrenge. Moment mal, widersprechen geistesgegenwärtige Frauen, ihr meint wohl, das Befummeln und die Befummler zerstören Sinnlichkeit und Sexualität, beziehungsweise die sexuelle Annährung gegen unseren Willen tut es. Nein, nein, ihr habt schon richtig gehört, spricht Catherine Deneuve als Interessensvertreterin romanischer Kavaliere: Wir Freigeister verteidigen das Recht des Mannes, uns sexuell zu belästigen.

 

Das Misstrauen, das #MeToo auch in liberalen Kreisen entgegenschlug, galt nur vordergründig einem neuen Puritanismus, mit dem die Kampagne ohnehin in keinem ursächlichen Zusammenhang steht. Eher unabsichtlich lüftete sie das Laken über der westlichen Gesellschaft und – siehe da – erwischte Patriarchat und Neoliberalismus beim langweiligen Blümchensex.

 

Die bizarre Logik dieser Schlüsse zeichnet ein recht trauriges Bild vom Zustand der befreiten Sexualität. Wenn die Ahndung sexueller Annäherungen als Machtdemonstration und gegen den Willen der Angemachten dazu führen sollte, dass uns nichts mehr anmacht, dann gestehen wir ein, was feinsinnige Kritikerinnen und Kritiker schon lange wussten: dass hinter dem neoliberalen Narrativ des selbstbestimmten healthy sex-life die alten patriarchalen Machtgefälle ungestört weiterwesen. Sex als Freiheit ist dann ein Hologramm, dessen lustvolles Stöhnen wir als unser eigenes empfinden sollen während unserer permanenten Zurichtung.

Das Misstrauen, das #MeToo auch in liberalen Kreisen entgegenschlug, galt nur vordergründig einem neuen Puritanismus, mit dem die Kampagne ohnehin in keinem ursächlichen Zusammenhang steht. Eher unabsichtlich lüftete sie das Laken über der westlichen Gesellschaft und – siehe da – erwischte Patriarchat und Neoliberalismus beim langweiligen Blümchensex. Sie erbrachte den Beweis, dass das Patriarchat nicht ein Dämon aus dem Orient ist, der über Asylbetrüger sich in den Okzident schwindelt, um weißes Frauenfleisch zu schänden, und auch kein längst überwundenes Schreckgespenst hysterischer Feministinnen, sondern ein rüstiger Inkubus, dem auch der vermeintlich liberale Kapitalismus seine Penthouse-Suiten zur Verfügung stellt.

Die patriarchale Ökumene – auch das lehrte #MeToo – spannt sich nicht von Rio bis Jakarta, sondern beginnt in Los Angeles und lässt auch Frankfurt und Stockholm nicht aus. Am schönsten zeigte sich der liberale Selbstbetrug im Fall des Wiener Politikers Peter Pilz, der gegen Grapscher aus dem Morgenland hetzte, ehe aufflog, wie hurtig seine eigene abendländische Hand agierte.

Warum aber Neoliberalismus – wie weit ist diese Keule denn nun schon wieder hergeholt? Mitnichten. Die Omnipräsenz sexualisierter Männermacht ließ den Mythos von der selbstoptimierten Powerfrau knicken, die bekanntlich emanzipiert, aber keine Emanze ist und die sich ihren Respekt durch die Jungs allein erkämpft habe, im Vergleich zum evolutiv schwachen Mimosenmädchen, das glaubt, mit Jammern und Frauensolidarität ihre Position verbessern zu können.

#MeToo überführte die Illusion gleicher Augenhöhe zwischen den Geschlechtern der Lüge, und es enthüllte die schmerzhaft verdrängte Wahrheit, mit wie viel Erniedrigung der Weg vieler Erfolgsfrauen nach oben gepflastert war – und mit ihr den gesamten Unsinn vom autonomen Marktsubjekt.

Dass viele dieser Frauen in der Rat Race mitunter mehr Missgunst von anderen Frauen erfuhren als von Männern, ist weder Beweis einer vollzogenen Integration von Frauen ins Berufsleben noch der unabänderlichen Wolfsnatur des Menschen unter Bedingungen der Konkurrenz. Es zeigt bloß, dass das Patriarchat ein über etliche Sonderarrangements abgestuftes System ist, in welchem Frauen mit Machtteilhabe sich und einander noch immer im Spiegel des imaginären männlichen Blicks beurteilen und die strukturelle Grausamkeit der Subalternen mit in einige neu eingerichtete Chefinnen-Etagen hochgetragen haben.

Patriarchat ist bekanntlich nicht einfach die Herrschaft der Männer über die Frauen. Auf vielen Ebenen reproduziert patriarchale Macht sich über weibliche Mithilfe, ja, findet in Frauen engagierte Prätorianerinnengarden, etwa privilegierte Männerversteherinnen wie Deneuve oder Millet, oder engagierte, toughe Muslimas, die bei ihrer Verteidigung einer zutiefst patriarchalen Nomadenreligion aus dem 6. Jahrhundert sich als women, als women of colour, als postkoloniale Subjekte und diskriminierte Migrantinnen einen wahren Jackpot an Solidaritätsboni und somit diskursive Unantastbarkeit sichern konnten. Doch das ist eher ein westliches Phänomen, in muslimischen Ländern wurde #MeToo dankbar als metakulturelles Tool zur Artikulation des Unbehagens und der Wut aufgenommen.

#MeToo rehabilitierte letztlich eine vielbespöttelte und marginalisierte emanzipatorische Bewegung: den Feminismus.

 

Die Cocktail-Hedonisten

Wie aber kam #MeToo überhaupt in Berührung mit dem Vorwurf der Sexfeindlichkeit? Durch eine kolossale Diskursvermischung.

Zunächst aber durch eine allgemeine, heilsame Verunsicherung unter Männern, die befürchteten, für kleinere Grenzüberschreitungen auf irgendwelchen Arschlochlisten zu landen oder dass jeglicher Flirtversuch ihnen als Missbrauch angerechnet werden könnte. Die kollektive Angst sprach auch Bände darüber, inwiefern Männer nicht nur Täter, sondern selbst Opfer des patriarchalen Systems sind, da sie ein Machtgefälle verinnerlicht zu haben scheinen, das sie auch dazu drängt, gegen ihre Neigung sexistisch zu sein. Das Misstrauen gegenüber den Frauen kann somit auch camoufliertes Misstrauen gegen sich selbst sein.

Intellektuell aber wurde #MeToo von einer Armada freidenkerischer Kulturkritiker in Schlepptau genommen.

Deren größtes Schlachtschiff stellt die Fregatte Adults for Adults dar, ihr Skipper ist der Kulturtheoretiker Robert Pfaller. Slavoj Žižek und Yannis Varoufakis prangen von ihrer Musterrolle, und in etlichen Ländern hat dieses diskursive Franchise-Netzwerk seine eigenen Filialen. Besonders zieht es emanzipierte Frauen an, die keine Emanzen sind. Im Standard hatte der österreichische Ableger kürzlich in einem Pamphlet gegen #MeToo mit der Faust auf einen Tisch hauen wollen, der sich allerdings in einem anderen Zimmer befand (Mehr dazu).

An den Argumenten gegen neuen Puritanismus, Reglementierungswahn und Identitätspolitik stimmt alles außer zwei Aspekten. Die Crew selbst stimmt nicht, sie hat fremde Schiffe gekapert und schmückt sich mit dem Beutegut verdienterer Diskurspiraten, und auch die Objekte, gegen die sie ihre Erkenntnisse in Stellung bringt, sind die falschen.

Der moralisch ambivalente Cocktail-Hedonismus – nennen wir ihn so, um uns weitere Polemik zu ersparen – schafft sich seine lüsterne Souveränität nur mithilfe eines Otherings: durch die Konstruktion einer spaßlosen sexual correctness.

Einen häufig gebrauchten Anekdotenschatz liefert ihm die Correctness-Praxis an US-Universitäten, wo Mittelstandstudenten per Selbstviktimisierung nichts anderes zu tun scheinen, als Verstöße gegen alle Formen approbierter Korrektheit zu ahnden. Kein Feuilletonist, der sich nicht bereits mokiert hat über das System der Triggerwarnungen, mit dem Dozenten auf potenziell unkorrekte und die Gefühle essenzialisierter gesellschaftlicher Gruppen beleidigender Inhalte hinweisen müssen. Die Ironie darüber überbietet die Einfältigkeit der PC-Polizei nur geringfügig und hat vorrangig die Funktion, durch Aufzeigen der parodistischen Auswüchse von PC auch deren sinnvollen Aspekte in Misskredit zu bringen.

Das zweifelhafte Verdienst der Cocktail-Hedonisten besteht darin, die mitunter brillante Kritik an linksliberaler Identitätspolitik und an der Substitution politischer Ökonomie durch Regelwerke zwischenmenschlichen Umgangs und anderer Überbaukorrekturen in Eiswürfelformen gegossen zu haben. Das zu Meinungen tiefgefrorene Denken anderer bieten sie in Cocktails dann ihren Partygästen an, die sich – wie sie selbst übrigens – in den letzten Jahrzehnten weder bei emanzipatorischen Kämpfen noch in den Arenen des kritischen Denkens blicken ließen.

Wie immer lästern sie über die Linke. Mit den neuen Argumentationshäppchen können sie es diesmal ausnahmsweise von links tun und ihr vorwerfen, dass sie – anstatt den Kapitalismus oder Schnösel wie sie zu dekonstruieren – nichts Besseres zu tun habe als Binnen-Is zu affichieren. Wer jahrzehntelang aus linker Perspektive linken Moralismus bekämpft hat und nun mit ansehen muss, wie jeder neoliberale Second-Hand-Intellektuelle die eigenen Erkenntnisse marktfertig zurechtgeschnitten in seiner Feuilletonpfanne herausbrät, um sich der PC überlegen zu fühlen, würde sich am liebsten mit den Objekten dieser Kritik gegen die geistigen Trittbrettfahrer verbünden.

Man erkennt das berufsmäßige Aussetzen des Denkens in Zeitungen und Blogs überall dort, wo PC-Politik an US-Unis kausal mit #MeToo kurzgeschlossen wird.

 

Puritanismus und Reglementierung

Einen wahren Kern hat die gedankenlose Gleichsetzung von #MeToo mit Sexfeindlichkeit. Einige Blockwarte der Korrektheit lassen sich die Gelegenheit bestimmt nicht entgehen, dem organisierten Widerstand gegen sexuelle Gewalt ihr pathisches Bedürfnis nach Ordnung und Kontrolle der Lust aufzudrängen.

Dem Moralisten ist nie so sehr die Abneigung gegen das moralisch Verwerfliche wichtig, das er ja zur Selbstversicherung braucht wie der Feuerwehrmann den Scheunenbrand. Sein wahrer Feind ist das moralisch Uneindeutige. Diesem will er ein für alle mal den Garaus machen. So wie der positivistische Rationalitätsneurotiker jede Ambivalenz als Systemfehler wertet, so wie der Kontrollfreak Asymmetrien und ungerade Winkel als existenzielle Bedrohung wahrnimmt, so versucht auch der Puritaner, ihm unerträgliche Unwägbarkeiten, Grauzonen und Ambiguitäten strikten Regeln zu unterwerfen. Ein persönliches Defizit will er zur Norm erheben.

 

Der Unterschied zwischen #MeToo und Puritanismus ist ebenso simpel wie komplex. #MeToo will die Sexualität von gesellschaftlicher Macht säubern, der Puritanismus will die Sexualität vom Sex säubern.

 

Der Unterschied zwischen #MeToo und Puritanismus ist ebenso simpel wie komplex. #MeToo will die Sexualität von gesellschaftlicher Macht säubern, der Puritanismus will die Sexualität vom Sex säubern.

Beglückende Sexualität bedeutet Selbstentgrenzung, Selbstaufgabe, Sich-fallen-Lassen. Der labile, zwingend narzisstische Persönlichkeitstypus unserer Zeit muss alles tun, um Grenzen um sich zu ziehen, welche die disparaten Teile seines Ichs wie Draht zusammenhalten. Er arbeitet permanent daran, sich nicht zu verlieren, was eine befriedigende Sexualität völlig ausschließt. Eine wandelnde Wehranlage ist dieses neoliberale Persönlichkeitssubstitut. Weil aber Asexualität in der Wellness- und Selbstoptimierungsdiktatur so ziemlich das unattraktivste Stigma vorstellt, tapeziert dieses fragile Ich seine Zellenmauern mit den üblichen marktgängigen Selbstpornografisierungsemblemen.

Die Trennung von Sexualfeindlichkeit und dem bloßen Kampf gegen Macht wird aber durch jene Grauzone erschwert, wo Menschen gezwungen waren, Sex als Missbrauch, Verdinglichung und Abwertung zu erfahren. Die subjektive Opferposition ist dann sehr real. Und wenn diese Frauen (aber auch Männer) eine etwas harmlose sexual correctness einfordern, und ultrarespektvollen Kuschelsex  der Welt als einzig lustfähige Norm aufzudrängen trachten, dann, weil sie animalischen Sex leider nur mit männlicher Primitivität verbinden können.  

Das Teuflische an der political correctness ist ja, dass der berechtigte Kampf gegen Diskriminierung und unmittelbare wie strukturelle Gewalt jene puritanische Bewusstseinsstruktur anzieht wie Feuchtigkeit den Pilz.

In ihrem Narzissmus komplementieren sexuell Übergriffige und Puritaner einander sogar. Beide fühlen sich durch Sexualität und ihr identitätsauflösendes Potenzial bedroht. Dem narzisstischen Mann bietet die Geschlechterungleichheit die Möglichkeit, sein wackeliges Ego und seine zutiefst existenzielle Impotenz durch sexistische Macht und Abwertung von Frauen zu kompensieren. Prüde Menschen mögen jeden sexuellen Akt als Bedrohung und als Überschreiten ihrer Grenzen empfinden, weshalb sie emanzipatorische Bewegungen wie die feministische mitunter mit ihrer Sexfeindlichkeit zu hegemonialisieren versuchen.

 

Wirklich emanzipatorische Weltverbesserer kämpfen nicht nur für Respekt und Anerkennung, sondern vor allem gegen institutionelle und materielle Gewalt und fördern, in der Sexualität und allen anderen Lebensbereichen, ein Glück, das sich aus Entgrenzung und nicht Eingrenzung, aus der Lust an der Hingabe und nicht an der Selbstbeschränkung nährt.

 

Sie bannen ihre Selbstauflösung, indem sie die gesamte bedrohliche, unverstandene Sexualität um sie herum in ein Minenfeld aus Verordnungen und Geboten zu verwandeln trachten. Da ihnen Spontaneität und schöpferische Kraft abhanden kamen, müssen diese noch bis zum letzten Sehnsuchtströpfchen aus dem Sexus gepresst werden. Prüde profitieren von der patriarchalen Gewalt, weil sie ihr Phantasma vom prinzipiellen Machtcharakter der Sexualität aufrechterhält, vor welcher sie sich und andere durch permanenten Opferstatus schützen wollen. Solange sie genug Mitstreiterinnen finden, die alles Derbe, Animalische und Orgiastische als maskuline Primitivität codieren, fällt nicht auf, dass sie diese Qualitäten auch bei völliger Geschlechtergleichheit und Genderpluralität verdammen würden.

Der Wunsch, lediglich  händchenhaltende, emotionell gedeckte Weichzeichnersexualität zuzulassen, ist vom geheimen Wunsch gesteuert, sie gänzlich zu ersticken. Alle Diskurse, mit denen sich ihre Abneigung gegenüber unmittelbar Körperlichem rationalisieren lässt, sind ihnen willkommen, sei es die kultivierte Arroganz gegenüber Enthemmung, sei es ein Vulgärfeminismus, bei dem der Mann schon aufgrund seiner Physis immer der Vergewaltiger ist, die Frau immer das Opfer, das es nicht will, und wenn schon, dann bloß patriarchales Begehren verinnerlicht hat.

Und noch mehr als die Belästiger müssen die Prüden jene überwiegende Mehrheit der neueren Feministinnen hassen, die ein extrem hedonistisches, „sexpositives“ Leben einfordern. Denn sie zerstören ihren Mythos von der Frau, die es auch will, als naiver, tussiger Erfüllungsgehilfin männlicher Geilheit.

Kurzum, Puritaner, Reglementierer und PC-Sturmstaffeln wollen nicht Fehlverhalten ahnden, sondern alle Zonen trockenlegen, die sich ihrer Ordnung, ihrer moralischen Eindeutigkeit entziehen. Diese Ambitionen entspringen fast immer einem sehr bürgerlichen und identitätspolitischen Bewusstsein, das glaubt, gesellschaftlichen Missständen mit Benimmregeln beikommen zu können.
Wirklich emanzipatorische Weltverbesserer kämpfen nicht nur für Respekt und Anerkennung, sondern vor allem gegen institutionelle und materielle Gewalt und fördern, in der Sexualität und allen anderen Lebensbereichen, ein Glück, das sich aus Entgrenzung und nicht Eingrenzung, aus der Lust an der Hingabe und nicht an der Selbstbeschränkung nährt.

 

Utopische Prognosen

 

Zusammenfassung: Puritaner und Verkehrspolizisten der Moral, oft getarnt als dauergekränkte Antikränkungs-Inquisition, nutzen emanzipatorische Initiativen wie #MeToo aus, um ihnen ihre Ordnungen aufzuschwatzen.
Die Cocktail-Hedonisten nützen diesen Puritanismus aus, um sich als tolle Diskurshechte gegen ihn zu positionieren und mit ihrer geistigen Libertinage die patriarchale Hetero-Norm zu restaurieren.

 

#MeToo könnte sogar die Kunst der Verführung nicht nur rehabilitieren, sondern zu neuen Höhepunkten treiben. In einem evolutiven Schritt nach vorne würden Verführer und Verführte nicht nur ihre Empathie vertiefen, die sie zu verstehen befähigte, was gewollt ist und was nicht sowie wann Nein Nein heißt und wann es ein performatives Hindernis darstellt, dessen Überwindung erwünscht ist. Flirts könnten fantasievoller, Eroberungsstrategien ambitionierter werden.

 

Das Patriarchat, das sich selbst von einem frauenrechtlich geläuterten Neoliberalismus wie eine uralte, harmlose Schildkröte spazieren führen ließ und nun seinen Tiefen Staat entblößt sieht, bleibt nichts, als Catherine Deneuve flennend um Hilfe zu rufen.

Nichts weniger als einen Dreifrontenkrieg werden wir führen müssen:

1. Dem Patriarchat so Feuer unterm Hintern machen, dass es keinen mehr hochkriegt;

2. Die Puritaner und Verkehrspolizisten aus der Welt der Lüste verscheuchen, denen mit der Zerstörung patriarchaler Macht auch ihr Vorwand abhanden kommt, ihr tausendjähriges Reich der erotischen Anständigkeit zu errichten;

3. Die Cocktail-Hedonisten mit wahren geistigen und physischen Orgien aus ihren Spießer-Boudoirs scheuchen. Sie werden ohnehin freiwillig als Kulturfolger den Puritanern, die sie als Seinsgrund brauchen, in irgendeine Neue Welt folgen.

Aufatmen wird die Welt, wenn es weder an US-Unis Triggerwarnungen gibt noch redaktionelle Langweiler über den Untergang des Abendlandes durch Triggerwarnungen salbadern.

In einem sinnlichen Utopia von Herbert-Marcuse’schen Ausmaßen wird respektvolle Zärtlichkeit Gorillasex nicht verachten, und dieser nicht Unterwerfungsspiele ...

Trotzdem wird im Reich der sexuellen Freiheit der Asexuelle einen Ehrenplatz haben, weil seine Bedürfnislosigkeit respektable Individualität bedeutet und sein Unbehagen wahre Revolte gegen falsche Sexualisierung; die romantisch Liebenden werden indes bewundert als Aposteln unverdinglichten Lebens, und trotzdem wird ihr Sex nicht mehr gelten als jener der Wüstlinge, One-Night-Standers, unverliebt und trotzdem glücklich Vögelnden, Schleckenden und Knuddelnden.

Der Einwand, dass sich in der Sexualität, dem Begehren und der Verführung immer die Dialektik von Macht und Ohnmacht niederschlagen wird, verwechselt ein tiefverwurzeltes gesellschaftliches Machtgefälle mit einem erotischen Spiel, das ohne Manipulation und Unterwerfung nicht auskommen kann und soll. Aber es ist ein Spiel, bei dem die Akteure die Regeln selbst aushandeln. Grapscher wie Puritaner verachten das Spiel. Spiel bedeutet Spontaneität, Erfahrung und Neugier. Der Grapscher beruft sich auf die starren Vorrechte seines Geschlechts, der Puritaner will starre Ordnung um jeden Preis.

#MeToo könnte sogar die Kunst der Verführung nicht nur rehabilitieren, sondern zu neuen Höhepunkten treiben. In einem evolutiven Schritt nach vorne würden Verführer und Verführte nicht nur ihre Empathie vertiefen, die sie zu verstehen befähigte, was gewollt ist und was nicht sowie wann Nein Nein heißt und wann es ein performatives Hindernis darstellt, dessen Überwindung erwünscht ist. Flirts könnten fantasievoller, Eroberungsstrategien ambitionierter werden.

Die PC-Forderung nach Ächtung jeglicher Manipulativität indes ist grenzenlos naiv, zeugt von einer entzückenden Unkenntnis menschlichen Umgangs und täuscht sich über die unzähligen unbewusst manipulativen Modi des eigenen alltäglichen Verhaltens hinweg.

Das Spiel der Verführung bedarf sogar der Grenzüberschreitung, einer Prise Chuzpe und Frechheit. Doch braucht sich solche Verführung nicht hinter institutioneller Macht verstecken, und wäre jedem Menschen, bei Option des Rollenwechsels, zugänglich.

Dazu muss aber die symbolische Neandertalerordnung des Weibchen-Männchen-Spiels aufgegeben werden sowie das erotische Beuteschema von männlicher Aktivität und weiblicher, abwartender, die DNA potenzieller Kindsväter abgleichender Passivität.

Die dualen Geschlechterrollen werden zu exotischen Museumsstücken. Mann- und Frausein im Sex bloß Rollenspiele, gleich Domina, Schulmädchen und Polterabendstripper. Im unendlich reichen Rollenrepertoire des sexuellen Karnevals wird, sobald die repressive Geschlechterdualität überwunden ist, sich als traditionelle Frau oder traditioneller Mann zu gebärden einen ähnlichen Stellenwert haben wie im Fasching als Ritter oder Burgfräulein zu gehen.

Die Niederlage des Sexismus wäre die Voraussetzung einer Sexualisierung der Gesellschaft jenseits des Zeichens der Ware. Und ich würde mich an dieser permanenten Orgie jederzeit beteiligen, so ich nicht gerade ein gutes Buch zur Hand habe.

 

Richard Schuberth ist Schriftsteller. Letzte Publikation: „Unruhe vor dem Sturm“ (Drava Verlag). Sein Essay „Narzissmus und Konformität“ wird im Herbst 2018 bei Matthes & Seitz als Buch erscheinen.