Die Konkrete Poesie und die Debatte um das Gedicht »avenidas« von Eugen Gomringer

Die gewahrte Fassade

Seite 2 – »Konstellationen«

 

Konkrete Poesie

Gerhard Rühm in einer Ausstellung 1963 in Wien

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dpa / Imagno / Foto: Otto Breicha

 

»Konstellationen« nannte er dieses Konzept, in dem Buchstaben und einzelne Wörter zusammengesetzt wurden. Die Konstellation, so Gomringer, »umfasst eine gruppe von wörtern. in ihr ist zwei, drei oder mehreren neben- oder untereinandergesetzten wörtern eine gedanklich-stoffliche beziehung gegeben. und das ist alles!« Nicht Tiefe, Subjektivität oder Emotionen bestimmen diese Gedichte, sondern klare Formen und Rationalität sowie eine Tendenz zum Verstummen, wie etwa in Gomringers Gedicht »schweigen« von 1953, in dem das Schweigen nicht nur benannt, sondern in seiner Materialität als Leerstelle abgebildet wird.

Das erste Gedicht der Konkreten Poesie war Eugen Gomringers »avenidas« von 1952, das sich nicht nur den Sinnzusammenhängen von Sprache entzieht, sondern sich von der deutschen Sprache insgesamt abwendet. Der Streit über ein Gedicht, das bislang nur Literaturinteressierten bekannt war, entbrannte hauptsächlich an der Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt. Die Form, die für Gomringer im Mittelpunkt des Gedichts steht, interessiert die Kritiker des Poems kaum mehr. Das Gedicht bestätige, so der offene Brief der Alice-Salomon-Hochschule, gesellschaftliche Wert­hierarchien und Normsetzungen, ­indem es den männlichen Blick reproduziere, der Frauen eine Rolle ­zuweise, während der Mann das handelnde Subjekt des Gedichtes sei, der eine beobachtende, bewundernde Funktion einnehme.

Eigentlich ist es eine gute Ausgangssituation, wenn Studierende tun, was Gomringer und seine Mitstreiter in den Fünfzigern propagiert haben: Sie hinterfragen Autoritäten, sei es die Universitätsleitung, seien es kanonisierte Dichter. Sie verstehen ihre Kritik als Einspruch gegen die gesellschaftliche Normalität des Alltagssexismus, fordern eine Reflexion im Umgang mit Sprache und ein Nachdenken über die Funktion der Kunst. Selbst wenn man das Gedicht anders liest, anderer Meinung als die Asta-Vertreter ist, könnte man die Aufforderung zur Diskussion honorieren: Das Gegebene zu hinterfragen, ist schließlich das Beste, was man an der Universität lernen kann.

Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, über den strukturellen Sexismus der künstlerischen Avantgarden zu sprechen, der sich von den Futuristen und Dadaisten über die Surrealisten bis zu den Bewegungen der Nachkriegszeit tradiert hat. Man hätte über den Widerspruch einer Kunstform reden können, die einerseits die bürgerlichen Kunst- und Gesellschaftsvorstellungen ablehnt, andererseits die untergeordnete Rolle der Frau affimiert, indem sie Künstlerinnen an den Rand drängt. Es wäre auch eine gute Gelegenheit gewesen, über die Entpolitisierung radikaler Kunstwerke durch ihre kulturindustrielle Vereinnahmung und Überführung in den bildungsbürgerlichen Kanon zu diskutieren. Denn um die politische Dimension der Konkreten Poesie geht es in der Feuilletondebatte, in der sich ohnehin fast alle einig sind, nicht mehr. Im Mittelpunkt steht eine im Gestus des »Das wird man doch wohl noch sagen dürfen« vorgetragene Verteidigung der Kunstfreiheit, in der gegenüber der Kritik die gleiche Ignoranz offenbar wird, die der Asta der Hochschule gegenüber dem Formbegriff der Konkreten Poesie und ihren politischen Aspekten zeigt. Deshalb sollte die Debatte fortgesetzt werden.