Kann »integrativer Nationalismus« die Krise der Demokratie lösen?

Antiautoritär bleiben

Seite 2 – Fusion von Demokratie und Liberalismus retten

 

Mounks Kernthese ist, dass das seit der Nachkriegszeit in den USA und Westeuropa dominante Modell des demokratischen Rechtsstaats durch den Populismus existentiell bedroht ist. Das Modell selbst sei im Begriff, sich in seine Einzelkomponenten zu zerlegen – als undemokratischer Liberalismus einerseits und als illiberale Demokratie ­andererseits. Neu ist diese Vorstellung nicht: Der autoritäre Staatsrechtler Carl Schmitt machte eine ähnliche Beobachtung bereits während der Weimarer ­Republik. Der spätere Unterstützer der Nazidiktatur ergriff damals Partei für eine von allen liberalen Einflüssen bereinigte Herrschaft eines »wahren«, als homogen postulierten Volkswillens. Dass Schmitts Schriften sich auch bei den Neurechten von heute großer Beliebtheit erfreuen, ist nicht verwunderlich.

Mounk hingegen geht es darum, genau jene historische Fusion von Demokratie und Liberalismus zu retten. Nicht zuletzt, weil er davon ausgeht, dass eine Demokratie ohne Liberalismus langfristig keine mehr sein kann, sondern sich unweigerlich in einen ­autoritären Staat verwandelt. Von völkischer Homogenität hält Mounk nichts, er beklagt vielmehr die »misslungene Transformation« monoethnischer Gesellschaften in multiethnische in Europa und den USA.

Das Auseinanderbrechen von Liberalismus und Demokratie führt er überzeugend auf die Aufkündigung des sozialen Elements zurück, das in der Nachkriegszeit der liberalen Demokratie ihren Fortbestand sicherte: die Aussicht breiter Bevölkerungsschichten auf einen besseren Lebensstandard als jenen der Elterngeneration und darauf, dass es die Kinder einmal noch besser haben sollten. Seit Jahrzehnten stagnieren in den westlichen Demokratien die Löhne, Sozialstaatssysteme wurden demontiert oder in Kontrollsysteme transformiert, die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums funktioniert nur noch nach oben. Auch diese Beobachtung ist nicht neu. In seinem Buch »What’s the Matter with Kansas« zeigte der US-Amerikaner Thomas Frank 2004 den Zusammenhang zwischen dem Aufstieg eines extrem rechten ­Populismus und der Preisgabe der arbeitenden Bevölkerung durch ihre ­ehemaligen politischen Repräsentanten – in dem Fall die Partei der Demokraten – auf.

Der überwiegende Teil der nun von Mounk angeführten Lösungsvorschläge ist ein Potpourri links-grün-sozialdemokratischer Allround-Wunschträume: Klima retten, Löhne erhöhen, Mieten senken, Umverteilen, in Bildung und Digitalisierung investieren. Da der Autor den Anspruch erhebt, Lösungskonzepte für alle bedrohten liberalen Demokratien zu bieten, bleiben die Vorschläge einigermaßen vage. In einem Punkt ist sein Konzept des »integrativen Nationalismus« jedoch weit besser als die linke Volkstümelei, die seit der Wahl Donald Trumps, dem Erscheinen von Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« und dem Aufstieg der AfD in Deutschland immer wieder diskutiert wird. Während Sahra Wagenknecht für nationale Abschottung plädiert, ist der »integrative Nationalismus« explizit mit dem Ziel einer multi­ethnischen Gesellschaft verbunden. Er orientiert sich gewissermaßen am Motto des Großen Siegels der Vereinigten Staaten, e pluribus unum (Aus vielen eines).

Der eigentliche Coup ist Mounk aber auf der Ebene der politischen Begriffsbildung gelungen. Politische Begriffe in ihrer jeweiligen Zeit zu prägen, gehört zur hohen Kunst politischer Auseinandersetzungen, und in dieser Hinsicht kann man Mounk nur ein anerkennendes touché zurufen. Der positive Bezug auf Nationalismus, ein Konzept, das in Deutschland noch mehr als irgendwo sonst als desavouiert gelten muss, ist eine Provokation gegen den linken wie den liberaldemokratischen common sense  (siehe Disko-Seite 18). Damit ist dem Begriff des Nationalismus gerade in der heutigen Situation maximale Aufmerksamkeit garantiert. Davon profitieren bislang ausschließlich die rechten Populisten, die mit der Selbstbezeichnung als Nationalisten eine beträchtliche Schockwirkung erzielen können. Eine Gegenposition, die sich ebenfalls auf die Nation beruft, und zwar in ihrem ursprünglichen staatsbürgerlich-republikanischen Sinne, könnte ihre Anti-Establishment-Pose beschädigen.

Zumindest in Deutschland besteht jedoch ein größeres Problem darin, dass sich Mounks Lösungsvorschläge in der Parteipolitik derzeit kaum widerspiegeln. Stattdessen liebäugeln Teile der CDU/CSU bereits mit einer Zusammenarbeit mit der AfD, obwohl diese immer offener den Schulterschluss mit Pegida, der Identitären Bewegung und anderen extrem rechten Gruppen sucht. Die von Mounk skizzierten Lösungen sind allesamt staatliche Großprojekte, die langfristig den autoritären Populismus schwächen könnten. Mit dem Tempo, in dem sich die Verfallserscheinungen der liberalen Demokratie derzeit vollziehen, kann die Verwirklichung solcher Großprojekte aber kaum mithalten.

Mitunter wird es unkonventionelle Bündnisse geben müssen, die von der antiautoritären Linken bis ins liberale bürgerliche Lager reichen. Die Free-Deniz-Kampagne kann hier als Vorbild dienen. Sie hat die Freilassung Yücels zur Sache von Angehörigen sämtlicher politischer Schattierungen von der CDU bis zu den Autonomen gemacht. Aber eine kosmopolitische und radi­kale Linke muss sich die Ideen ihrer Bündnispartner nicht zu eigen machen. Auch der multiethnische Staat ist ein Wettbewerbsstaat, der sich nicht zuletzt über die Konkurrenz zu anderen Nationalstaaten definiert; das setzt ein gemeinsames Interesse von Lohnabhängigen und Kapital voraus, welches im Widerspruch zu transnationaler Solidarität steht. Zudem ist die ­nationalstaatliche Konkurrenz ein kaum zu überwindendes Hindernis etwa in der Klimapolitik. Man muss die Nation nicht den Rechten überlassen – sollen sich die Liberalen darum kümmern.