Tariq Ramadan soll der neue Dreyfus sein, behauptet eine Kampagne in Frankreich

Das geplatzte Alibi

Eine Kampagne mit bizarren Untertönen fordert die Freilassung des islamischen Theologen Tariq Ramadan, der wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Frankreich inhaftiert ist.

Ein paar Dutzend Menschen kamen am vorvergangenen Samstag auf den Trocadéro, den Pariser Platz, von dem ein Teil offiziell »Vorplatz der Menschenrechte« (Parvis des droits de l’homme) heißt und auf dem oft besonders symbolträchtige Kundgebungen stattfinden. Die Teilnehmenden der kleinen Versammlung waren meist im eher fortgeschrittenen Alter, Frauen mit Kopftüchern und einige Männern mit angegrauten Bärten bestimmten das Bild. Sie forderten mehr oder weniger frenetisch »Freiheit für Tariq Ramadan!« und bekräftigten dies unter anderem mit Herzchen, die auf Transparenten neben das weiße Kreuz der Schweizer Fahne gemalt waren. Dies hängt damit zusammen, dass der ­islamische Theologe, Prediger und Hochschullehrer Tariq Ramadan seit vielen Jahren in Genf ansässig ist, auch wenn er in Oxford auf einem vom Emirat Katar finanzierten Lehrstuhl den Islam unterrichtete. Seit dem 2. Februar allerdings hat er vorläufig eine Adresse in Fleury-Mérogis, südlich von Paris. Dort liegt Euro­pas größte Haftanstalt.

Ramadan sitzt dort in einer Zelle im Prominententrakt. Inhaftiert ist er aufgrund von Anschuldigungen, er habe Frauen vergewaltigt.
Tariq Ramadan ist ein Enkel des Gründers der Muslimbruderschaft, Hassan al-Banna. Er selbst gibt sich – im Gegensatz zu seinem salafistisch orientierten Bruder Hani Ramadan – bei seinen Vorträgen in Frankreich ein moderateres Image und betont vor allem die Gesetzestreue von Muslimen in den nichtmuslimisch geprägten Ländern, die ihm zufolge an deren Institutionen partizipieren sollten.

Seit Jahren wird Ramadan ­jedoch vorgeworfen, etwa vom Buchautor Ian Hamel, die Schriften ­Hassan al-Bannas verfälschend übersetzt zu haben, um ihn in milderem Licht erscheinen zu lassen. Aus »Soldaten«, die al-Banna im Original ­befehligen möchte, werden bei Ramadan »Aktivisten«.

 

Bemerkenswert ist, dass es gerade eine dezidiert muslimische Website war, die Ramadans Alibi erschütterte.

 

Größeren Erfolg als mit der Kundgebung auf dem Trocadéro hatte die Initiative »Free Tariq Ramadan« bislang im Internet. Am 21. Februar ­begann eine Crowdfunding-Kampagne zur Finanzierung von Anwalts- und Kampagnenkosten. Innerhalb von fünf Tagen kamen dabei über 100 000 Euro zusammen. Zum selben Zeitpunkt hatte eine Facebook-Seite unter demselben Motto (»Free Tariq Ramadan«) schon 43 000 Abonnenten; unter ihnen dürften neben Unterstützern sicherlich auch Neugierige, Journalisten oder politische Gegner sein. Eine Onlinepetition erreichte in der letzten Februarwoche 99 000 Unterschriften.

Tariq Ramadan ist, neben dem amtierenden Finanzminister Gérald Darmanin, der zweite Prominente, gegen den derzeit Vergewaltigungsvorwürfe erhoben werden. Darmanin konnte bislang die Vorwürfe sexu­ellen Missbrauchs an sich abprallen lassen. Nicht so Tariq Ramadan.

Seit Oktober vorigen Jahres wurden explizite Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihn laut. Die Frauen, die Ramadan beschuldigen, betonen, durch die französischen Kampagne Balance ton porc (Verpfeif dein Schwein), die gewissermaßen der französische Ableger der internationalen »MeToo«-Kampagne ist, ermutigt worden zu sein.

Eine der Frauen ist nur unter ihrem Pseudonym »Christelle« bekannt; sie ist eine französische Islamkonvertitin mit einer Gehbehinderung. Sie beschuldigt Ramadan, er habe sie bei einem Besuch auf seinem Hotelzimmer vor einer Konferenz im Jahr 2009 in Lyon beschimpft, zum Sex gezwungen und dazu ihre Gehbehinderung ausgenutzt. Die zweite Klägerin ist auch mit ihrem Klarnamen sowie ihrem Gesicht an die Öffentlichkeit gegangen: Es handelt sich um Henda Ayari, eine frühere Salafistin, die heute für Frauenrechte kämpft. Sie gibt an, Tariq Ramadan, von dessen Schriften sie beeinflusst war, im Frühjahr 2012 in einem Hotelzimmer aufgesucht zu haben und dann von ihm vergewaltigt worden zu sein. Mitte vergangener Woche kam eine dritte Strafanzeige hinzu.

Die marokkanischstämmige Klägerin gibt an, 2013 und 2014 mindestens neunmal von Ramadan vergewaltigt worden zu sein, unter dessen psychologischem Einfluss sie gestanden habe. Mit ihrer Klage gelangten erstmals Fotoaufnahmen und SMS-Nachrichtenwechsel mit Tariq Ramadan in die Akten.

Die Ermittlungsbehörden hielten bereits die ersten beiden Anzeigen für stichhaltig genug, um Ramadan Anfang Februar nach einer polizei­lichen Vernehmung und Gegenüberstellung mit der Klägerin »Christelle« in Untersuchungshaft zu nehmen – um zu vermeiden, dass Druck auf die Klägerinnen oder auf Zeuginnen ausgeübt und die Ermittlungen behindert würden, hieß es. Tatsächlich hatten Frauen, die Ramadan be­lasteten, zum Teil Dutzende Hassbotschaften in Form von SMS oder ­E-Mails erhalten, wohl von Ramadan-Sympathisanten.

Ausschlaggebend für die Verhängung von Untersuchungshaft war ­allerdings, dass »Christelle« ein Detail über Tariq Ramadans Körper angeben konnte, das sie wohl nicht hätte kennen können, wenn ihre Vorwürfe unbegründet wären; in den Medien ist von einer kleineren Narbe an Ramadans rechter Hüfte die Rede.

Die Anhänger Tariq Ramadans hingegen präsentierten der Öffentlichkeit ein ausgedrucktes Ticket für einen Flug von London nach Lyon an dem von »Christelle« genannten Datum, dem 9. Oktober 2009. Angeblich war Tariq Ramadan an diesem Tag aus London angereist, um einen Vortrag in Lyon zu halten, und »Chris­telle« gab an, die Vergewaltigung habe am Nachmittag stattgefunden, draußen sei es hell gewesen. Das elektronische Ticket sollte beweisen, dass Ramadan erst um 18.35 Uhr am Flughafen von Lyon eingetroffen sei, also kurz vor seiner Abendveranstaltung, zu der er gegen 21 Uhr verspätet eintraf.

Am 24. Februar präsentierte allerdings die Website The Muslim Post ein Dokument, das belegt, dass kurz vor Tariq Ramadans Abreise eine Umbuchung erfolgte. Der Theologe flog demnach über Madrid und traf am fraglichen Tag bereits um 11.15 Uhr in Lyon ein. Nach Recherchen des Medienportals Buzzfeed war Tariq Ramadan am Vortag auf einer Veranstaltung im südspanischen Jerez aufgetreten, als Belege dienen ein Screenshot, der Ramadan auf dieser Veranstaltung zeigt, und die Aussage eines an der Konferenz Beteiligten.

Bemerkenswert ist, dass es gerade eine dezidiert muslimische Website war, die die Information veröffentlicht hat und seitdem zahllosen französischen Medien als Quelle dient. Das zeigt, dass muslimische Kreise geteilter Meinung über die Ramadan-Affäre sind.

Unbeeindruckt davon zeigen sich Getreue Ramadans wie Yamine Makri und Fetullah Othmani. Diese beiden Imame, die der Tageszeitung Libération zufolge die auf dem wackligen Alibi fußende Unterstützungskampagne Tariq Ramadans koordinieren, beschäftigen sich eifrig damit, die gegen ihr Idol auftretenden Frauen im Internet zu diffamieren. Ihnen und einigen weiteren Anhängern des Theologen zufolge handelt es sich um Frauen mit niedriger Moral und schmutzigen Absichten, die sich für niedrige Propagandaziele einspannen lassen. Das Ziel sei es, einen ausgewiesenen muslimischen Religionskenner und Prediger »auszuschalten«, als Figur des öffentlichen Lebens zu vernichten. Eingefädelt hätten dies wahlweise Feinde des Islam, atheistische Kreise oder die Zionisten. Auf Youtube sind Videos unter Titeln wie »Henda Ayari, Agentin des Mossad« zu finden. Wegen Morddrohungen lebt Ayari seit Monaten ­unter Polizeischutz.

Doch nicht einmal in dezidiert muslimischen Milieus werden die Auffassungen der Kampagnenbetreiber geteilt. Die Vereinigung Musulmans de France (früher UOIF), die die Muslimbrüder in Frankreich repräsentiert, ist mittlerweile gespalten. Am 18. Februar soll es bei einer internen Tagung in Lyon zu heftigen Auseinandersetzungen gekommen sein. Einige Repräsentanten distanzieren sich von Ramadan, zumal intern bekannt war, dass er nicht nur einmal seine »Aura« benutzt haben soll, um sich Frauen dienstbar zu machen. Auch andere wie Abdelmonaïm Boussenna, Imam im nordfranzösischen Roubaix, gehen inzwischen auf Distanz.

Boussenna sagte der Regionalzeitung La Voix du Nord: »Man muss aufhören, von einer angeblichen Ungleichbehandlung durch die Justiz zu reden« – wie der harte Kern der Unterstützer Ramadans –, »das klingt nach Verschwörungstheorie. Es gibt keine Verschwörung.«

Das hält diesen harten Kern nicht davon ab, bizarre historische Parallelen zu ziehen. Die französische Psychologin Fanny Bauer-Motti, die eine jüngst auf dem Blog der linken Onlinezeitung Mediapart veröffentlichte Petition zugunsten Ramadans unterzeichnete, verglich Ramadan mit dem von den Nazis bestialisch ermordeten Résistance-Kämpfer Jean ­Moulin; schließlich sei auch Ramadan immer im Widerstand und auf der Seite der Unterdrückten gewesen. Die türkische staatliche Nachrichtenagentur Anadolu publizierte am 19. Februar einen Beitrag, in dem es hieß: »Fast 125 Jahre nach der Dreyfus-Affäre erleben wir in Frankreich einen weiteren Rufmord, erneut mit politischen und rassistischen Motiven.« Heute warte die »Tariq-Ramadan-Affäre « auf ihren Émile Zola. »Die aus der Geschichte gezogenen Lehren enthüllen, dass diese gegen Tariq ­Ramadan ausgeheckte Verschwörung mit explizit antimuslimischen ­Motiven nicht nur auf die Persönlichkeit eines einzelnen Muslims zielt, sondern auf die ganze muslimische Gemeinschaft Frankreichs und ­Europas.«