Ohne Abdullah Öcalan geht es bei den türkischen Kurden nicht

Kurden in der Klemme

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Im Juli 2015 erklärte Erdoğan den Friedensprozeß für gescheitert. Eine erste Übereinkunft verwarf er mit dem Argument, dass an den Gesprächen, wenn auch mehr in einer Briefträgerfunktion, die HDP beteiligt war. Mit Öcalan und der PKK zu verhandeln, war demnach für Erdoğan kein Problem, wohl aber die Teilnahme einer gewählten kurdischen Partei. Der Abbruch der Gespräche mit ihrem ehemaligen Vorsitzenden war für die PKK eine politische Katastrophe. Vermutlich von der PKK-Führung angeleitet, erklärten kurdische Stadtverwaltungen daraufhin ihre Autonomie. Bewaffnete Jugendliche besetzten die Zentren kurdischer Städte, zogen Gräben und errichteten Barrikaden. Erdoğan sollte die Folgen des Abbruchs der Gespräche mit Öcalan spüren.

Die Antwort waren monatelange Ausgangssperren und Beschuss durch das Militär. Ganze Stadtkerne verwandelten sich zwischen 2015 und 2016 in Trümmerfelder. Der Widerstand in den Städten wurde brutal niedergeschlagen. Die Aufstände brachten keine Erfolge, überforderten aber offensichtlich die Bevölkerung. Das dürfte der Hauptgrund für die relative Passivität angesichts des Anfgriffs auf Afrin sein. Einer echten Fehleranalyse weicht die kurdische Bewegung aus. In der kurdisch-türkischen Zeitung Yeni Özgür Politika schreibt Cafer Tar, man solle sich nicht von der Ruhe in den kurdischen Städten in der Türkei täuschen lassen. Wegen der Besetzung Afrins habe sich so viel Wut angesammelt, dass es in kurzer Zeit zu einer gewaltigen Explosion in ganz Kurdistan kommen müsse, gefolgt von einem politischen Beben: »Das heißt, im Grunde fängt alles neu an!«

Während Cafer Tar von einem gesamtkurdischen Aufstand träumt, bestreiten andere mit blumigen Phrasen die endgültige Niederlage in Afrin. Siyamand Moani von der im Iran aktiven, PKK-nahen Partei PJAK argumentiert, dass die türkische Armee zwar in Afrin eindringen konnte, die Enklave aber nicht dauerhaft werde halten können, da Afrin nun zum Symbol des Widerstandes geworden sei. »Besatzer werden«, so Moani, »von der Geschichte weggewischt, Symbole können niemals weggewischt werden.«

Offenbar ist es wieder Zeit, dass sich Öcalan ins Spiel bringt. Über den Radiosender Dengê Welat (Stimme der Heimat) verbreitete die PKK, der »große Kampf« um Afrin habe auf İmralı stattgefunden. Der Staat habe eine Delegation zu Öcalan geschickt, der eine Einstellung des Kampfes um Afrin abgelehnt habe; andererseits ist auch von strategischen Überlegungen die Rede. Wenn Öcalan einen Rückzugsbefehl gegeben hat, würde das erklären, warum Erdoğan kurz vor der Aufgabe Afrins von der Meinung seines Außenministers Abstand nahm, dass der Kampf erst im Mai beendet sein werde. Kampflos räumten die kurdischen Verteidiger Afrin – drei Tage vor New­roz und dazu noch am Jahrestag des türkischen Sieges in der Schlacht von Gallipoli im Ersten Weltkrieg. Das ist auffällig. Auch dass sich die PKK kurz darauf ohne Not auch aus dem Sinjar-Gebiet im Irak zurückzog, könnte das Resultat einer Übereinkunft zwischen Öcalan und der türkischen Regierung sein.
Doch das ist alles Spekulation. Die PKK ist jedenfalls bemüht, die Aufmerksamkeit der kurdischen Bewegung wieder auf Öcalan zu richten. Trotz seiner Gefangenschaft besteht kein Grund, an seiner Führungsmacht zu zweifeln. Das gilt nicht für den bei Wahlen erfolgreichsten kurdischen Politiker Selahattin Demirtaş. Dieser ist wie viele andere HDP-Politiker aufgrund haltloser Anschuldigungen inhaftiert und wurde im Februar als Kovorsitzender der HDP durch den nahezu unbekannten Politiker Sezai Temelli ersetzt. Wenn jemand in der kurischen Politik zu populär wird, verliert er oder sie plötzlich an Einfluss, und es bleibt nur Öcalan. Auch wenn man auf der Newroz-Feier wegen der Polizei einmal Öcalan-Parolen von der Musik überschallen lässt – es darf offenbar keine weiteren Kurdenführer neben Öcalan geben.