Die Editionsgeschichte von Franz Neumanns »Behemoth«

»Der National­sozialismus ist kapitalistisch und anti­kapitalistisch«

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Die Polykratie-Theorie ging von vier eigenständigen Hierarchien aus, die letztlich einem »Führer« unterstanden: Staatsapparat, Armee, Industrie und Partei. Interessanterweise wurden die vier Kategorien in den Nürnberger Prozessen gegen die Hauptkriegsverbrecher aufgegriffen; die Anklage stützte sich unter anderem auf Dokumente, die wie folgt eingeteilt waren: NG (Regierungsdokumente), NO (NSDAP und Untergliederungen einschließlich SS), NI (Industrie) und NOKW (Oberkommando der Wehrmacht). Neumann war, wie dessen Schüler Raul Hilberg später verriet, mit Robert Kempner befreundet, dem stellvertretenden Hauptankläger der USA im Nürnberger Prozess. Und auch Hilberg ­orientierte sich in seiner bei Neumann eingereichten Doktorarbeit, dem späteren Standardwerk »Die Vernichtung der europäischen Juden«, an der Methode, die im »Be­hemoth« entwickelt worden war.

Die vier Apparate arbeiteten laut Neumann relativ unabhängig von ­einander, schlossen aber hin und wieder »Gesellschaftsverträge«, um das gemeinsame Ziel zu erreichen. Dies unterscheide den Nationalsozialimus von anderen Staatsapparaten, wie er im Kapitel »Ist Deutschland ein Staat?« schreibt: »In der absoluten Monarchie, dem konstitutionellen System und der Demokratie bedürfen die Kompromisse zwischen den verschiedenen herrschenden Gruppen allgemeiner Gültigkeit.« Im Nationalsozialismus hingegen müssten die Kompromisse zwischen den Organen nicht »in einem Gesetzesentwurf niedergelegt werden (etwa wie die ›gentlemen’s agreements‹ zwischen Monopolindustrien). Es reicht völlig aus, wenn die Führung der vier Flügel sich informell auf eine bestimmte Politik einigt.«

 

Angesichts der Schlussfolgerungen, die Neumann mit Blick auf den deutschen Unstaat und dessen propagandistische Wirkung zog, ist es nicht verwunderlich, dass er lange zögerte, das Buch auf Deutsch herauszubringen.

 

Das einende Element war die Konsilidierung der sich dem autoritären und totalitären Regime unterordnenden Volksgemeinschaft. »Mit der Atomisierung der unterworfenen Bevölkerung (und bis zu einem gewissen Grade auch der Herrschenden) hat der Nationalsozialismus indessen keineswegs die Klassenverhältnisse ›ausgemerzt‹, sondern im Gegenteil die Antagonismen vertieft und verfestigt.« Auf diese Struktur pfropfe der Nationalsozialismus zwei Ideologien auf, die in vollständigem Widerspruch zur Bürokratisierung stehen: »die Volksgemeinschaftsideologie und das Führerprinzip«, schreibt Neumann im ­Kapitel »Die herrschende Klasse«.

Der Politologe Gerhard Scheit sieht in dem von Neumann beschriebenen »modernen Behemoth« schließlich eine »Wiederkehr barbarischer Bandenherrschaft unter entwickelten kapitalistischen Bedingungen. Die Bedingungen heben jede Begrenzung auf, und die Wiederkehr der Bandenherrschaft vermag eine Barbarei zu entfesseln, die alles ursprünglich Barbarische und von Banden je Verbrochene übersteigt.«

Die Bandenherrschaft führte andererseits dazu, dass alle vier Gruppierungen noch in den letzten Kriegsmonaten, im Angesicht des Untergangs, dazu bereit waren, gemeinsam barbarische Verbrechen zu begehen. »Es war die Durchführung der monströsesten Verbrechen und das Einverständnis damit, was diese Eliten bis zum bitteren Ende zusammschweißte«, sagt Söllner. Eine Verbindung, die auch das Kriegsende überdauerte.

Die Bereitschaft, zu ergründen, was der Nationalsozialismus war, worin seine Vorbedingungen bestanden und weshalb Auschwitz möglich wurde, wuchs im Nachkriegsdeutschland äußerst langsam und blieb das Interesse einer Minderheit. Der vom hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gegen viele Widerstände aus Justiz, Politik und Bevölkerung angestrengte Frankfurter Auschwitz-Prozess, der von 1963 bis 1965 stattfand, war ein erster Meilenstein.

Während der Studentenrevolte der späten sechziger Jahre wurden die Schriften von Adorno und Horkheimer, Marcuse, Fromm und Reich wiederentdeckt – wiewohl sie damals fast ausschließlich als Raubkopien erhältlich waren. Lediglich Hannah Arendts »The Origins of Totalitarianism« lag bereits 1955 auf Deutsch vor. Erst nach und nach wurden vergessene Bücher wie die »Dialektik der Aufklärung« (1969), »Zur Kritik der instrumentellen Vernunft« (1967) oder »Massenpsychologie des Faschismus« (1971) in deutscher Sprache offiziell wieder aufgelegt. Auf den »Behemoth« musste man ­jedoch noch warten.

Neumanns Studie war allerdings nicht das einzige Standardwerk über die NS-Zeit, das es schwer hatte, im Land der Täter Gehör zu finden. Auch Hilbergs bereits erwähnte Studie »Die Vernichtung der europäischen Juden« blieb lange unveröffentlicht. Der Neumann-Schüler hatte darin nachgewiesen, dass neben den Führungseliten auch Ministerialbeamte, Ärzte, Industrielle sowie Bürokraten, Reichsbahner, Polizisten und Soldaten am Massenmord an den europäischen Juden beteiligt waren. Der Verlag Droemer und Knaur hatte bereits Anfang der sechziger Jahre die Rechte erworben, aber von einer Ausgabe abgesehen. Einerseits wollte man den 1965 ausgelieferten Zweibänder »Anatomie des SS-Staates« vor dem Werk Hilbergs schützen, andererseits war der zuständige Cheflektor Fritz Bolle zwischen 1943 und 1945 im »Vorwerk Mitte«, einem ­Außenlager des KZ Buchenwald, als Aufseher tätig, wie der Historiker Götz Aly kürzlich herausfand. Hilbergs Buch wurde schließlich 1982 im Berliner Kleinverlag Olle & Wolter auf Deutsch herausgebracht – mehr als 20 Jahre nach dessen Erscheinen in den USA.

Doch weshalb lohnt sich die Lektüre des »Behemoth« heute immer noch oder besser: wieder? Neumanns Studie war nicht nur die erste umfassende Strukturanalyse des NS-Regimes, in der Einleitung befasst sich das Buch mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus. Neumann beschreibt im Kapitel »Der totalitäre Staat«, wie sich die Nationalsozialisten nach dem gescheiterten Putsch aus dem Jahr 1923 von einer revolutionären, militanten Bewegung zu einer legalen, die Weimarer Demokratie nicht mehr offen bekämpfenden Partei wandelten, die das Parlament freilich nur als Bühne für ihre völkische und antidemokratische Propaganda nutzte. »Nach dem Münchner Fiasko«, so Neumann, »ist die Nationalsozialistische Partei eine legale geworden. Sie gelobte feierlich, nicht zum Hochverrat oder zu einem revolutionären Umsturz der Verfassung aufzurufen; (…) kaum eine politische Partei bestand lautstärker als die Nationalsozialisten auf der Wahrung der bürgerlichen Freiheiten und demokratischen Gleichheit.«

Auch das Kapitel, das sich den geistigen Vätern der »konservativen Revolution« um Oswald Spengler oder Arthur Moeller van den Bruck widmet, zeigt Parallelen zur Gegenwart auf. Neumann identifiziert sie im Kapitel »Nationalistische Vorläufer des Sozialimperialisms« als intellektuelle Wegbereiter des Na­tionalsozialismus: »Menschenverachtung und Verachtung der Massen, von Kultur und Intellekt, der Nachdruck auf Hierarchie und Führung, Disziplin und Gehorsam, das Loblied auf die ›produktiven Kräfte‹ sind bei Spengler genauso vorhanden wie bei Ley oder Hitler.« Von den Vertretern der Neuen Rechten wird dieser Zusammenhang bis heute bestritten.

Mitherausgeber Michael Wildt schreibt in seinem Nachwort, dass die Erforschung der neueren Aspekte des Massenmords an den europäischen Juden ohne den »Behemoth« kaum möglich wäre, und bezieht sich dabei auch auf die Rolle der Helfer in den damals besetzen Ostgebieten, in der Ukraine, in Weißrussland, in Georgien oder in Polen. »Neumanns ›Behemoth‹ fordert uns auf, Poly­kratie nicht als staatliches Konkurrenzsystem oder Chaos zu verstehen, sondern als eine Form von rassistischer ›Governance‹, die sich eben durch ihre Fähigkeit zur Modernität, zu Dynamik, Flexibilität und Mobi­lisierung auszeichnet.«

Angesichts der Schlussfolgerungen, die Neumann mit Blick auf den deutschen Unstaat und dessen propagandistische Wirkung zog, ist es nicht verwunderlich, dass er lange zögerte, das Buch auf Deutsch herauszubringen. Er setzte auch nach dem militärischen Sieg der Alliierten über das NS-Regime auf die Kräfte, die (sich) nicht zur deutschen Volksgemeinschaft zählten – und die lebten nun mal größtenteils außerhalb Deutschlands. Und: »Mit Rechten reden« würde er wohl auch heute für keine gute Idee halten.

 

Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944. Aktualisierte Neuausgabe herausgegeben von Alfons Söllner und Michael Wildt. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2018, 757 Seiten, 38 Euro