Martin Künkler, DGB-Bundesvorstand, im Gespräch über die gewerkschaftliche Perspektive auf Hartz IV

»Hartz-IV-Bezug macht nicht rebellisch«

Ist es eine gute Idee, Langzeitarbeitslose zu Babysittern, Altenbetreuern und Gärtnern zu machen? Über den fortschittlichen Gehalt des sogenannten sozialen Arbeitsmarkts sprach die »Jungle World« mit Martin Künkler. Er ist Referatsleiter »Hartz IV und Armutsbekämpfung« beim DGB-Bundesvorstand.
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Derzeit werden neue Pläne zu Hartz IV diskutiert. Ist das womöglich der Anfang eines System­wechsels in der staatlichen Grundsicherung?
Die Debatte über Alternativen zu Hartz IV ist gut und notwendig, weil die ­Mängelliste bei Hartz IV ewig lang ist. Die Regelsätze sind zu niedrig und ­bedeuten ein Leben in Armut. Es gibt ein riesiges Machtgefälle. Die Jobcenter bestimmen fast alles, während die ­Leistungsbezieher kaum Rechte haben. Fördern mit Perspektive findet kaum statt. Das Hartz-IV-System schürt bei abhängig Beschäftigten die Angst vor sozialem Abstieg. Und Hartz IV ist ein Prekarisierungsmotor, weil es in prekäre und schlecht bezahlte Arbeit zwingt. Über grundlegende Alternativen nachzudenken, ist deshalb richtig und gut.

Eine diskutierte Alternative ist der sogenannte soziale Arbeitsmarkt. Ist das eine gute Alternative zu Hartz IV?
Die Debatte geht ein bisschen durcheinander. Union und SPD haben im ­Koalitionsvertrag einen sozialen Arbeitsmarkt vereinbart. Da geht es um Langzeitarbeitslose, die derzeit nahezu chancenlos auf dem Arbeitsmarkt sind. Für diese Gruppe sollen mit Lohnkostenzuschüssen Arbeitsplätze geschaffen werden. Es sind 150 000 Stellen geplant. Der Vorschlag des Berliner Bürgermeisters Michael Müller geht deutlich weiter, weil er ein Recht auf Arbeit als Alternative zum Hartz-IV-Bezug formuliert. Dabei geht es, dem Anspruch nach, um ein viel größeres öffentliches Beschäftigungsprogramm als die ­Arbeitsplätze, die im Koalitionsvertrag in Aussicht gestellt sind.

Ist dieser Vorschlag also aus gewerkschaftlicher Sicht besser?
Der Grundansatz ist gut. Wir wollen, dass öffentlich gefördert reguläre ­Arbeitsplätze geschaffen werden. Dabei kann ein doppelter Mehrwert entstehen, wenn Arbeitsplätze geschaffen werden und gleichzeitig auch noch Angebote der öffentlichen Daseinsvorsorge ausgeweitet werden. Als DGB haben wir aber noch Gesprächsbedarf: Öffentlich geförderte Arbeit muss gute Arbeit sein und tariflich bezahlt werden, sich also nicht nur am Mindestlohn orientieren.

Auch die Gewerkschaften wollten Hartz IV lange Zeit bloß anpassen. Von großen Reformen war nie die Rede.
Da sind wir vielleicht nicht ausreichend durchgedrungen. Wenn Hartz IV ein Auto ist, dann geht es nicht nur darum, ein paar Teile neu zu lackieren, sondern wir brauchen ein grundlegend anders programmiertes Navi. Wir brauchen einen anderen Motor. Wir wollen grund­legende Veränderungen, damit sich der Charakter des Systems verändert. Die Hartz-IV-Sätze müssen neu berechnet und bedarfsdeckend erhöht werden. Die zweite große Baustelle sind die bestehenden Sanktionen. Die sind Irrsinn.

 

»Wir wollen, dass öffentlich gefördert reguläre Arbeitsplätze geschaffen werden.«

 

Die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die durch ähnliche Subven­tionen gefördert wurden, wurden in den neunziger Jahren eingestellt. Haben solche Maßnahmen überhaupt einen arbeitsmarktpolitischen Effekt?
Ja. Es muss auch Teil der Arbeitsmarktpolitik sein, heute chancenlosen ­Arbeitslosen über einen geförderten Arbeitsplatz soziale Teilhabe zu er­möglichen. Es geht um eine neue Perspektive, einen Ausstieg aus Hartz IV, eine ordentlich bezahlte Arbeit, von der man auch leben kann. Ich glaube, es ist falsch zu sagen, diese Maßnahmen führten nicht in den ersten Arbeitsmarkt. Man darf dem Instrument nicht vorwerfen, es gäbe zu wenig Übergänge in nicht geförderte Arbeit. Das ist ja auch gar nicht das Ziel. Es geht um soziale Teilhabe über Erwerbsarbeit.

 

In Deutschland gibt es derzeit recht wenig Arbeitslosigkeit. Die Wirtschaft wächst. Warum debattiert man ausgerechnet jetzt über die ­Abschaffung von Hartz IV?
Wir haben einen gespaltenen Arbeitsmarkt. Während sich auf der einen Seite die Beschäftigung gut entwickelt, sind auf der anderen Seite ganze Gruppen abgehängt. Die Armut stagniert in Deutschland auf hohem Niveau. Das hat auch mit den Mängeln im Hartz-IV-System zu tun. Hartz IV schützt eben nicht vor Armut. Der Änderungsbedarf bei Hartz IV ist weiterhin groß. Wir haben ja immer noch mehr als sechs Millionen Menschen, die von Hartz IV leben müssen.